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Finale
Sie waren unterwegs. Sie kamen, ihn zu holen. Er konnte sie hören, fern noch, aber ständig näher kommend. Seine übersensiblen Sinne meldeten ihm zielstrebige Schritte und das Rascheln von Kleidung.
Dies war das Ende, und er würde es geschehen lassen.
Ihren Anführer kannte er nur allzu gut. Er entstammte „der Familie“, jener Familie, die es sich auf die Fahnen geschrieben hatten, ihm das Lebenslicht auszupusten. Irgendwie erinnerte ihn das an alte Mafia-Filme.
Vor seinem inneren Auge zogen die endlosen Reihen von Familienmitgliedern vorbei, die schon durch ihn den Tod gefunden hatten. Jeder von ihnen schien eine Wiedergeburt jenes ersten, seines Erzfeindes gewesen zu sein, dessen bitterer Hass ihn seit Anbeginn seines unglücklichen Daseins von einem Ende der Erde bis zum anderen gejagt hatte. Eine Kette von Söhnen, Enkeln, Cousins, Neffen – und dennoch immer derselbe. Sicher, das eine oder andere Mal hatte es männliche Familienmitglieder gegeben, die sich anderen Zielen verschrieben hatten und mit der endlosen Jagd auf ihn nichts zu tun haben wollten. Dies waren die Zeiten, in denen er ein wenig Ruhe gefunden hatte. Doch früher oder später spürte ihn immer wieder einer auf – zu tief saß das Gift, das jener erste seinen Nachfolgern in die Köpfe injiziert hatte.
Er erhob sich von seinem Sessel und trat ans Fenster. Im Osten wechselte die Farbe des Himmels von Weißgrau zu Graphit. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen, und sie würden diese atemlose Zeit zwischen Nacht und Tag zu nutzen wissen.
Einem anderen wäre der Wechsel gar nicht aufgefallen. Doch er hatte Nachtaugen, die selbst allerfeinste Veränderungen registrierten. Dennoch war seine Weltsicht eingeschränkt. Er nahm sie als Fotonegativ wahr, wie diese Aufnahmen, die Ärzte vom Inneren ihrer Patienten machten. Röntgenbilder, so nannte man sie wohl. Dunkles erschien hell, Helles dunkel. In seiner Welt gab es keine Farben, schon lange nicht mehr.
Sein Blick wanderte zur dunklen Scheibe des Mondes. Da sind sie hingeflogen, dachte er fasziniert. Sie haben es geschafft, diese Bastarde. Sie haben tatsächlich den Himmel berührt! Ihm wurde bewusst, dass er lächelte, und wünschte sich plötzlich zu erinnern, wie er lächelnd aussah. Die Fensterscheibe reflektierte sein Bild natürlich nicht.
Er wandte sich vom Fenster ab und ging zu seinem Sessel zurück, nicht ohne unterwegs seiner Liegestatt einen wütenden Tritt zu verpassen, der die Messingbeschläge klirren ließ. Er hasste sein Ruhelager, denn Schlaf fand hier nicht statt. Weder Schlaf, noch Sex. Die katatonische Starre, die ihn periodisch befiel und in der er regungslos, aber bei vollem Bewusstsein ausharren musste, bis sie vorüberging, hatten mit dem gemütlichen, erholsamen Schlaf der Menschen nichts gemein.
Welch eine Ironie. Er, seines Zeichens der vermutlich grösste Killer der Menschheitsgeschichte, würde sterben. Und die Schuld daran trug das Fernsehen.
Angefangen hatte es vor ein paar Monaten. Da hatte er aus einer Laune heraus die Zeitung eines Opfers mitgenommen und zu lesen begonnen. Die ersten ein, zwei Seiten hatte er gelangweilt überflogen, doch dann hatten die Zeilen seine Aufmerksamkeit gefesselt, und er las bewusst und intensiv. Am nächsten Tag hatte er sich wieder eine Zeitung besorgt – dieses Mal hatte er sie aus dem Abfallkorb an einer Straßenbahnhaltestelle gezogen.
In den kommenden Wochen las er immer öfter Zeitungen. Mal stahl er sie, mal nahm er sie von einer Parkbank mit, und ein anderes Mal ließ er sie sich durch jemanden aus seinem Personalstab besorgen. Er las von Beerdigungen, Geburten, Hochzeiten, von all den kleinen Geschehnissen in jener winzigen Ecke der Welt, in der er lebte, und es faszinierte ihn.
Bald schon hungerte er nach mehr. Und so befahl er die Installation eines Fernsehers in seinem Haus. Von nun an verbrachte er jede freie Minute, die er nicht auf seinen nächtlichen Raubzügen oder in seiner erzwungenen Ruhe verbrachte, vor dem Gerät.
Ein Flugzeug näherte sich vom Horizont und kreuzte in gewaltiger Höhe den Himmelsabschnitt über seinem Haus. Er stöhnte, barg den Kopf in den Armen und beugte sich fast bis auf die Knie hinunter. Die Menschen hörten Motorengebrumm. Er hörte etwas, das ihm fast den Schädel sprengte, und knirschte vor Schmerz mit den Zähnen. Sie war so entsetzlich laut geworden, die Welt der Menschen. Und nicht nur laut, sondern auch grell. Neonlicht schmerzte ihn in den Augen, als würde Säure hineingegossen, und ließ auf seiner empfindlichen Haut Blasen entstehen. Es hatte ihm sein Refugium, die Nacht, vergiftet, ihn aus den Städten und Ballungszentren hinaus in immer abgelegenere Gebiete getrieben. Und selbst diese Enklaven der Ruhe wurden von Tag zu Tag weniger.
Endlich war das Flugzeug verschwunden, und er stieß den lange angehaltenen Atem zischend aus.
Die Leute glaubten, er atme nicht.
Diejenigen, die von ihm wußten.
Er sei ein Killer, sagten sie, ein Monster, eine Beleidigung der Natur. Manche sagten auch, er sei ein Witz. Andere wieder, er sei Legende. Es gab Bücher über ihn, Filme. Und nachts schauten Kinder unter ihre Betten, um sich zu versichern, dass er nicht darunter läge.
Dass er einfach nur ein ganz normaler Mann sei, den ein schlimmes Schicksal erwischt hatte, sagte keiner.
Außerirdisch. Ja, das war das Wort. Ein außerirdisches Virus. Eingeschleppt von einem Meteor, der eines Tages aus heiterem Himmel auf einem seiner Felder eingeschlagen war. Ein Jahr lang hatte die Umwandlung gedauert, die schleichende Veränderung von Gewebe, Neuronen, Hormonen und weiß Gott was noch alles. So wurde er geboren. Der Erste seiner Art.
Ein nachdenklicher Blick traf den Fernseher, die Wurzel seiner Todessehnsucht.
Natürlich konnte er auch Fernsehbilder nur in seiner gewohnten Negativsicht wahrnehmen. Doch die bewegten Bilder hatten Erinnerungen hochgespült, und plötzlich wurde er gewahr, dass er sie vor seinem inneren Auge in Farbe sah. Er erinnerte sich, dass der Himmel blau war und die Wiesen grün. Er entsann sich an Rot und Orange, Gelb, Violett und Rosa. Und mit der Erinnerung an die Farbe kamen andere Erinnerungen zurück. Gerüche, Geschmäcker. Als er Kind gewesen war, gab es keine Eiscreme. Wie würde Stracciatella schmecken? Wie schmeckte Spinat, wie Rotkohl? Kaffee? Cappuccino? Eierlikör?
Er schaute sich Filme und Serien an.
Er sah Menschen geboren werden, leben und sterben. Sie begingen Morde. Sie begingen Selbstmorde. Sie führten Kriege. Sie verliebten sich und trennten sich wieder. Sie machten Karriere. Sie fuhren in Urlaub. Sie gebaren Kinder, zogen sie groß oder gaben sie weg. Sie bauten Imperien auf und zerstörten sie wieder. Sie planten Intrigen, konkurrierten, gewannen und verloren. Sie führten Prozesse. Sie fingen Verbrecher.
Er schaute sich die Nachrichten an.
Völker, die einander ausrotteten. Welthungerhilfe. Terrorismus. Amnesty international. Naturkatastrophen. Hilfsgütersendungen. Politik. Korruption. Ehrlichkeit. Sportliche Auseindandersetzungen. Preise, die verliehen wurden.
Er schaute sich Musiksendungen an.
Südamerikanische, brasilianische, afrikanische Klänge. Country und Western, Rock und Pop, Rap, Wave, Techno, Volksmusik, Schlager, Klassik. Eine unendliche Vielfalt, das meiste hörte er jetzt zum ersten Mal.
Er schaute sich Werbung an und war erstaunt, zu welchen Ergebnissen die Menschen gekommen waren in dem Bemühen, das Leben bunter, leichter, angenehmer und unterhaltsamer zu gestalten.
Er verglich das, was er sah, mit seinem Dasein.
Und sah, dass alle diese Menschen lebten. Mochten sie gesegnet oder verdammt sein, mochten sie auch Rache fühlen, Hass, Fanatismus, Bosheit – doch sie alle fühlten etwas. Im Gegensatz zu ihm waren sie lebende, fühlende, vorwärtsdrängende Wesen. Sie veränderten sich, während er in ewiger Starre und Gleichförmigkeit gefangen war, abseits von der Vielfalt, die es zu schmecken und zu fühlen, zu hören, zu sehen und zu erleben gab.
Und zum ersten Mal seit Ewigkeiten wurde er sich staunend bewusst, dass auch er wieder etwas fühlte, und zwar Verlangen. Eine brennende Sehnsucht nach seiner Teilhabe an allem Vorhandenen. Und gleichzeitig spürte er Verzweiflung, denn er wusste, dass ihm diese durch das, was er war, für immer verwehrt blieb.
Oh ja, auch er hatte versucht, das Beste aus seiner Existenz zu machen, indem er das menschliche Leben kopierte. Manchmal zum Beispiel hatten ihn Frauen magisch angezogen. Liebe war das nicht, doch zumindest etwas, was der Liebe ziemlich nahe kam. Manchmal begehrte er eine Frau ihres Aussehens wegen, manchmal wegen ihres Lachens, ihres Humors oder ihres sprühenden Geistes. Dann versuchte er, sie auf seine Seite zu ziehen. Doch am Ende war es immer dasselbe: Sobald er mit ihr fertig war, verwandelte sie sich, wurden zu etwas, das weniger war als ein Tier. Das, was ihn fasziniert hatte, wurde durch sein Gift zerstört oder ins Gegenteil pervertiert. Und sobald sie ihm auf Gedeih und Verderb gehörte, konnte er sie nur noch verachten.
Auch auf Freundschaft durfte er nicht hoffen. Die ihm glichen, krochen förmlich vor ihm im Staub. Sie wussten, dass er ihnen durch die Zahl seiner Jahre und Erfahrungen haushoch überlegen war. Es gab niemanden, der ihm die Stirn bot, denn die es im Laufe der Zeit gewagt hatten, hatte er vernichtet. Kein ebenbürtiger Gegner da, an dem er sich hätte messen können. Die ihn jetzt noch umgaben, waren Speichellecker und Kriecher, und dienten ihm nur deshalb, weil sie ihn fürchteten.
Lange hatte er es geschafft, nicht über sich selber nachzudenken. Waren derartige Gedanken hochgekommen, hatte er sie erfolgreich verdrängt. Das Vergessen war dabei sein stärksten Verbündeter gewesen.
Geräusche von unten lenkten seinen Blick Richtung Flur. Sie waren angekommen. Die Tür der Halle wurde gewaltsam aufgebrochen und knallte gegen die Wand. Er erhob sich, ging aus dem Zimmer und schaute nach unten, wo sein Widersacher leise flüsternd Befehle gab, die ihm dennoch so laut in den Ohren klangen, als würden sie durch ein Megaphon gebrüllt.
„Makham, Sie nehmen sich ein paar Männer und suchen die Scheune und die Nebengebäude ab. Er muss hier irgendwo stecken. Carlyle, Sie kommen mit mir nach oben. Duncan und Nightingale, Sie nehmen sich den Keller vor. Aber seien Sie um Himmels Willen vorsichtig. Er hält sich mit Vorliebe in Kellern auf.“
Er trat aus dem Schatten und legte die Hand auf das Treppengeländer.
„Nicht nötig, Van Helsing“, sagte er ruhig. „Ich bin hier.“
Der Kopf seines Verfolgers flog herum, und er beobachtete, wie sich im Bruchteil einer Sekunde Verblüffung, Bestürzung und schließlich blanker Hass auf dessen Gesicht abzeichneten. Dann hob sein Gegner die Waffe, richtete sie nach vorn und stürmte mit dem zu einem Wutschrei verwandelten Namen auf den Lippen die Treppe hoch: „Dra-cu-laaaaa....“
Er ballte die Hände zu Fäusten und schloß die Augen.
Sein endloser Kampf war vorüber.