Was ist neu

Filmriss

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Filmriss

Als er aufwachte, fühlte Simon sich gar nicht gut. Er hatte einen Geschmack von Baumwolle im Mund, und in seinem Kopf pochte ein betäubender Schmerz. Noch nie hatte er solch einen schlimmen Kater gehabt. Er hatte doch wieder zuviel getrunken, konnte sich nur noch bruchstückhaft an den gestrigen Abend erinnern.
Simon machte die Augen auf, und sah auf die Wand neben dem Bett. Eine Wand mit einer Tapete, auf der ein Muster aus Bären und Blumen abgebildet war, wie in einem Kinderzimmer. Dies war nicht sein Bett. Er richtete sich auf, und fasste sich an den Kopf, in dem das Pochen schmerzhaft zunahm. Er sah sich um. In dem Regal gegenüber vom Bett befanden sich Spielsachen und auf dem Stuhl vor dem Fenster lagen Hosen und Pullover die offensichtlich einem Kind gehörten. Das Zimmer schien ein Kinderzimmer zu sein. Von welchem Kind, wo war er?


Simon erinnerte sich an die gestrige Geburtstagsparty eines guten Freundes, auf der er sehr viel getrunken hatte. Er erinnerte sich auch noch, wie er mit einem Mädel, dessen Namen er nicht kannte, auf einem Tisch getanzt hatte, einen Tango imitierend. Als er sie schwungvoll in seinem Arm nach hinten gelehnt hatte, waren sie vom Tisch gefallen, und Simon hatte sich den Kopf gestoßen. Alles danach erinnerte er kaum noch. Er hatte sie nach der Party nach Hause gebracht, wobei sie eher ihn gestützt hatte, als er sie, da er so betrunken war. Simon konnte sich auch noch vage daran erinnern, wie er sie vor ihrer Haustür bat, fast drängte, ihn mit zu sich nach oben zu nehmen. Für einen Kaffee, wie er sagte. Alles, was danach geschehen war, erinnerte er nicht mehr.
Dies war aber nicht ihre Wohnung, da war er sich sicher. Sie hatte keine Kinder, auch dessen war er sich sicher. Das Kind, in dessen Zimmer er schlief, schien Markus zu heißen, darauf deutete zumindest ein Schlafanzug mit eingesticktem Namen hin. Er stand auf und ging durchs Zimmer. Schmerzvoll stieß er mit dem Fuß gegen ein rotes Feuerwehrauto und fluchte leise. In dem Moment hörte er ein Geräusch hinter der Zimmertür und eine sich entfernende Kinderstimme, die rief:
"Mami, Papi, er ist wach, der Mann ist wach, kommt schnell, er ist wach!"
Das musste Markus sein, dachte er, und fragte sich, warum er in dessen Zimmer geschlafen hatte.


Einigermassen beruhigt stellte Simon fest, dass er noch die Kleidung vom Vorabend trug. Er stank ein wenig nach kaltem Rauch und abgestandenem Alkohol, aber es hätte ihn mehr beunruhigt, wenn er seine Kleidung nicht mehr getragen hätte, denn dann wäre er von irgendjemanden entkleidet worden.
Nachdem er sich ein wenig in dem Zimmer umgesehen hatte, beschloss er einen Blick auf den Flur zu wagen, und öffnete die Tür. Der Flur war leer. Gegenüber war noch eine Tür, allerdings geschlossen. Nach rechts blickend sah er am Ende des Flures eine Treppe, die nach unten führte. Zuerst wollte Simon eine Toilette finden, denn es ging ihm noch nicht sehr gut. Er schlich den Flur entlang, und sah in alle Zimmer, erst ein Kinderzimmer, dann ein Elternschlafzimmer, dann - endlich - das Badezimmer. Von unten konnte er entferntes Geklapper von Geschirr und Töpfen hören. Wer auch immer in dieser Wohnung lebte, schien sich unten in der Küche aufzuhalten.
Simon ging ins Badezimmer und schaute in den Spiegel. Er war sehr blass und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Seine Uhr behauptete, es wäre ein Uhr Mittags. Er hatte auf der Party gegen 3 Uhr Morgens zum letzten Mal auf die Uhr geschaut, das war aber lange bevor er mit dem Mädel auf dem Tisch getanzt hatte. Viel Schlaf konnte er also nicht gehabt haben. Er war sich auch nicht sicher, ob er überhaupt schon nüchtern war. Ihm wurde schlecht, er suchte die Toilettenschüssel auf. Kurz danach klopfte es an der Badezimmertür.


"Hallo? Hören Sie?" sagte eine Männerstimme, leicht zögerlich, "wir haben unten etwas zu Essen gemacht, Mittagessen, meine Frau hat einen Schweinbraten zubereitet. Wenn Sie wollen, dann setzen Sie sich doch dazu, bevor Sie gehen."
Simon setzte sich auf den Badewannenrand, vergrub sein Gesicht in seinen Händen und murmelte etwas, dass man als "gleich" deuten konnte. Er fühlte sich elend. In wessens Familienleben war er bloß geraten?
Er stand auf, steckte seinen Kopf unter den Wasserhahn, und ließ sich einige Sekunden lang kaltes Wasser über den Kopf laufen. Danach trocknete er seine Haare mit einem der Handtücher ab, und kämmte es grob mit seinen Händen.
Simon machte die Tür des Badezimmers vorsichtig auf und linste auf den Flur. Der Mann war nicht mehr zu sehen, wahrscheinlich war er wieder runtergegangen, zurück zu seiner Frau, Markus und dem Schweinebraten.


Eigentlich verspürte Simon nicht die geringste Lust, dieser Familie in seinem Zustand entgegenzutreten. Aber es ließ sich wohl nicht verhindern. Nach einem letzten Blick zurück in das Zimmer, in dem er geschlafen hatte, nachprüfend, ob er irgendetwas vergessen haben könnte, ging er langsam und vorsichtig die Treppe hinab. Als er unten ankam, sah er die Haustür, und war versucht, so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Aber seine Neugier siegte. An der Tür zum Wohnzimmer vorbei ging er auf die angelehnte Küchentür zu. Er konnte ein leises Flüstern und Raunen aus der Küche hören. Anscheinend sprach die Familie gerade über ihn, immer wieder hörte er Satzbrocken, wie z.B. "der Mann", oder "heute morgen". Simon's Knie wurden weich, er traute sich kaum, die Tür aufzumachen, fühlte sich wie ein Zombie.
"Markus, schau doch mal nach, ob der Mann schon aus dem Bad gekommen ist, ja?" sagt die Männerstimme, und eine Frauenstimme fügt hinzu: "Aber sei vorsichtig, Schatz, OK?"
"Ach komm, der ist bestimmt harmlos, so wie er aussieht", sagt die Männerstimme darauf.


Simon erschaudert - er hatte sich selbst noch nie als potentiell gefährlich gesehen. Er überlegte gerade, ob er nicht doch schnell zu Haustür laufen sollte, aber bevor er reagieren konnte, öffnete sich mit einem Schwung die Küchentür, und ein kleiner Junge stürmte auf ihn zu. Als der Junge Simon sah, hielt er sofort inne, und sah Simon mit großen Augen an.
"da, da, da ist der Mann schon", stammelte der Junge, der anscheinend Markus sein musste. Markus und Simon sahen sich gegenseitig mit großen Augen an und sagten kein Wort.


Im Hintergrund, am Küchentisch, saß ein Mann, dem die Männerstimme zu gehören schien, der auch als erstes die Worte wiederfand.
"Kommen Sie rein, junger Mann, und setzen Sie sich", sagte er.
Simon sah in die Küche. Am Küchentisch saßen außer dem Mann noch ein kleines Mädchen, das ihn ebenfalls mit großen Augen ansah, und eine Frau, die Simon aufgrund ihrer Schürze als die Frau identifizierte, die den Schweinebraten zubereitet haben musste. Markus setzte sich wieder an den Tisch zu den anderen.
"Wer bist du?", fragte das Mädchen.
"Adelheid, das ist Simon Peters, das habe ich dir doch schon einmal gesagt", sagte der Mann.


Simon wunderte sich. Woher kannte der Mann seinen Namen?
"Woher kennen sie meinen Namen?"
"Ich habe mir selbstverständlich ihre Daten aus ihrem Personalausweis kopiert, ist doch verständlich, oder nicht?", sagte der Mann, der mit seiner Strickjacke und den Vollbart den Eindruck eines sympathischen, gemütlichen Familienvaters auf Simon machte.
"Wir wussten ja nicht genau, mit wem wir es hier zu tun haben, oder?" sagte die Frau, den Schweinebraten auf den Tisch stellend. Sie sah ebenfalls sehr sympathisch aus, hatte leuchtende Augen, rote Bäckchen und schien immerfort zu lächeln.
"Äh, kann sein", stammelte Simon, "aber sagen sie mal, was mache ich hier überhaupt? Ich kenne sie doch gar nicht?"


"Nein, natürlich nicht. Aber wir konnten sie einfach nicht so daliegen lassen, in ihrem Zustand. Es ist doch Januar und der Boden ist gefroren. Wie kamen sie eigentlich dazu, ausgerechnet in unserem Garten ihr Lager aufzuschlagen, wenn ich es so nennen darf - oder überhaupt draußen zu übernachten?"
Simon wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Es war ihm neu, dass er in einem Garten geschlafen hatte. Verdammt, was war nur passiert letzte Nacht, nachdem er das Mädel abgesetzt hatte? Er hatte einen Totalausfall, einen kompletten Filmriss. Er musste irgendetwas sagen, war sich aber nicht sicher, was. Er hatte auch keine Erklärung für diese Fragen.


"Also, ja, irgendwie weiß ich auch nicht, was ich dazu sagen soll", murmelte er.
"Das spielt doch jetzt erst mal keine Rolle. Wollen sie sich nicht setzen, und ein wenig von dem Schweinebraten essen?" schlug die Frau vor.
Simon bemerkte, dass an dem Tisch ein weiterer Platz eingedeckt war. Ihm war momentan überhaupt nicht nach Essen zumute, aber um nicht unhöflich zu erscheinen, nahm er Platz und ließ sich von der Frau eine große Portion Schweinebraten servieren.
"Nun lass ihn mal", sagte der Mann, "er wird wahrscheinlich noch nicht viel essen wollen. Mann, sie waren ja total besoffen. Ich habe sie gar nicht wach bekommen. Und leicht sind sie auch nicht, habe mich ganz schön verhoben, als ich sie die Treppe hinaufgeschleppt habe. Was haben sie denn getrieben? Wie ein Penner sehen sie mir ja nicht aus, sonst hätte ich sie auch nicht ins Haus gelassen"
Simon, der sich immer noch nicht ganz nüchtern wähnte, erzählte von dem, was er erinnern konnte. Bevor der Filmriss ihm die Erinnerung an den Rest der Nacht genommen hatte. Das war nicht viel, wie er nach einigen Sätzen feststellte.
"Sie wären da draußen in der Kälte gestorben, oder, Theo?" die Frau machte ein entsetztes Gesicht. "Sie wissen wirklich nicht mehr, wie sie in unseren Garten gekommen sind? Wo war denn die Party?"


"Die Party, die war in der Louisengasse. Meine Bekannte habe ich in der Leopoldstrasse abgesetzt", rekonstruierte Simon, der in seiner Erzählung aus dem unbekannten Mädel von der Party rasch eine gute Bekannte gemacht hatte, um keinen schlechten Eindruck zu erwecken.
"In der Leopoldstrasse? Das ist ja nicht allzu weit entfernt, allenfalls ein paar Querstrassen von hier" sagte die Frau, "und wo wohnen sie?"
"Ich wohne in der Habelstrasse."
"Das ist natürlich doch ein ganzes Stück. Theo - vielleicht magst du den jungen Mann nachher noch nach Hause fahren?"
"Aber Constanze, ich muss doch gleich zum Golf. Meinst du nicht, dass der junge Mann seinen Weg alleine nach Hause findet?"
"Dann kann ich ihn ja fahren" schlug die Frau vor.
"Nein, Constanze, das halte ich für keine gute Idee. Du wirst doch sicherlich noch die eine oder andere Sache erledigen müssen, oder nicht?"
"Nein eigentlich nicht. Ich könnte ihn durchaus nach Hause fahren" antwortete die Frau scharf.


"Constanze, jetzt mach das Ganze nicht komplizierter, als nötig, der Mann findet sicherlich auch seinen Weg alleine nach Hause, oder nicht?", Theo sah Simon eindringlich an.
"Ja, ich mache mich jetzt besser auf den Weg", Simon wollte auf einmal so schnell wie möglich aus dieser surrealen Situation entschwinden.
"Aber sie haben doch noch gar nicht aufgegessen..." sagte Constanze.
"Constanze! Jetzt lass gut sein" rief Theo.
Simon stand auf. Ihm behagte das alles gar nicht. Er verabschiedete sich ein wenig hastig von der Familie, bedankte sich bei allen, insbesondere bei Markus, der ihm sein Zimmer geliehen hatte, und verließ das Haus. Als er im Vordergarten stand, hörte er durch das Küchenfenster immer noch die Stimmen der Familie:
"Es ist doch nicht meine Schuld! Du hast doch mit allem angefangen, als du den Kerl aus dem Garten gefischt hast!"
"Da wäre er doch sonst erfroren!"
"Dann hättest du einen Krankenwagen rufen sollen!"
"Aber warum denn, der hat doch bloß ein wenig Schlaf gebraucht!"
"Ja, ja, ja, immer willst du das letzte Wort haben!"
Simon ging zur Gartenpforte und schaute sich um. Er kannte die Straße nicht, hatte auch vergessen, nachzufragen, wo er eine Bushaltestelle finden würde. Aber das war ihm momentan egal. Er wollte weg von hier. Hinter ihm war die Diskussion mittlerweile zu einem lautstarken Streit angewachsen.
‚Was für eine seltsame Familie, die einen Fremden einfach so bei sich aufnimmt', dachte Simon, ‚warum haben sie denn keinen Krankenwagen gerufen?'

 

Wie aus dem Leben gegriffen :)
Du solltest seine Übelkeit etwas mehr beschreiben. Er ist es, durch den der Leser die beschriebene Welt liest, also sollten die Leser mehr haben als nur "ihm war schlecht".
Das Ende kam auch plötzlich, ich hatte was völlig anderes erwartet...etwas Seltsames eben :D

 

Hallo Mindsounds,

ich habe ein wenig zwischen "Seltsam" und "Alltag" geschwankt, als ich die Geschichte gepostet habe. Letztendlich habe ich sie bei "Seltsam" gepostet, weil ich eigentlich der Ansicht bin, dass solch ein Erlebnis nicht gerade alltäglich ist, sondern dass es eben äußerst seltsam ist, auf diese Weise in einem fremden Haus aufzuwachen. Aber vielleicht habe ich auch die Bedeutung der Rubrik "Seltsam" noch nicht vollends durchschaut :rolleyes:
In dem Fall kann die Geschichte gerne verschoben werden.

gruss,
philipp.

 

Hallo philipp,

ich hab ehrlich gesagt auch mit einem anderen Ende gerechnet (die Familie ist stinkreich und will sich vor ihren reichen Nachbarn mit einem "Abenteuer" brüsten oder sowas ...), aber das lag natürlich neben einigen Szenen ("In dem Moment hörte er ein Geräusch hinter der Zimmertür und eine sich entfernende Kinderstimme, die rief: 'Mami, Papi, er ist wach, der Mann ist wach, kommt schnell, er ist wach!' ") auch an der gewählten Rubrik "Seltsam" (wo die Geschichte mE aber stehen bleiben kann).

Ich weiß nicht, ob es realistisch ist, dass die Familie den Besoffenen ins Kinderzimmer in den ersten Stock trägt. Hm.

Ihm wurde schlecht, er suchte die Toilettenschüssel auf.
Formulierung gefällt mir nicht so gut. "Toilette aufsuchen" ja, aber "Schüssel aufsuchen"? Wohl Ansichtssache.

Simon erschaudert - er hatte sich selbst noch nie als potentiell gefährlich gesehen.
"erschauderte"

Ein paar Flüchtigkeitsfehler sind noch drin (z.B. "da, da ist der Mann schon" statt "Da, da ist...", aber die findest du bestimmt, wenn du die Geschichte noch mal durchschaust.

Ansonsten fand ich die Geschichte skuril bis vergnüglich und hab mich gut unterhalten.

Gruß

Christian

 

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