- Beitritt
- 24.01.2009
- Beiträge
- 4.114
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 28
Filmriss
„Komödie wäre gut“, sagte Natalie, mit der ich mich zur Spätvorstellung im Kino verabredet hatte. Also kauften wir Karten für Kino Drei, gesalzenes Popcorn, ein Bier für mich und eine Bionade für Natalie. Der Film war blöd. Saublöd. Ich wollte gehen. Natalie wollte bleiben.
„Es ist so schön, mal den Kopf abzuschalten“, sagte sie und lachte zu jedem billigen Gag, was mich völlig aus der Bahn warf. Normalerweise regen solche Filme sie auf und ich liebe es, wenn sie die Filmindustrie mit finsteren Flüchen überschüttet. Aber gestern blieb Natalies Filmwelt bunt.
Danach gingen wir zum Spanier, bestellten Tapas, ich erzählte ihr vom neuen Hüftgelenk meiner Oma und Natalie sagte: „Ich bin schwanger.“
„Aha.“
„In der neunten Woche schwanger.“ Sie schob die Brille zurecht, lehnte sich zurück und legte die Hände auf ihren Bauch.
Ich schluckte, rief nach der Kellnerin und bestellte einen Liter Wein. Den billigen.
„Und ich werde dieses Kind bekommen.“
„Aha“. Etwas später brachte ich es immerhin auf ein „Mmh“, und dann endlich kam die Kellnerin mit dem Wein.
Behutsam balanciere ich meinen Schädel ins Badezimmer und schaufle mir kaltes Wasser ins Gesicht. Unter der Dusche entscheide ich, dass heute kein guter Tag für die Uni ist; ich bin mir sicher, dass derzeitig keine weiteren Informationen in meinen Kopf passen. Im Kühlschrank finde ich eine Packung Orangensaft mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum. Meine Nase krampft unter dem Geruch, der aus der Öffnung strömt. Schnell schraube ich den Deckel zu und stelle den Saft zurück ins Kühlfach. Meinen Brand lösche ich mit Leitungswasser, koche Kaffee und lege mich wieder hin. Nicht ins Bett, sondern auf den Balkon, auf meine Uralt-Luftmatratze. Hitze kriecht über das Geländer und macht sich breit. Ein Auto kracht in ein anderes. Durch die Gitterstäbe kann ich keinen Unfall erspähen, nur menschelnde Leute. Wieder vorn an der Kreuzung, denke ich und versuche mir jetzt vorzustellen, wie ich einen Kinderwagen durch das Treiben da unten schiebe. Vorbei an der Billardkneipe, dem Kino, geradewegs Richtung Kinderarzt. Ich jongliere den Wagen um Zwergpudel, Jogger und Telefonjunkies herum, finde den Arzt nicht, das Baby brüllt und eine zwölfjährige schaut mich vorwurfsvoll an. Ich verdränge die Bilder und konzentriere mich auf die Frage: Wieso Natalie eigentlich schwanger ist? Hatte sie je erwähnt, dass sie ein Kind will? Irgendwann, das weiß ich. Aber jetzt? Hatte sie in letzter Zeit von einem Kind geredet? Egal. Natalie ist schwanger und ich bin der Vater. Und weiter? Ziehen wir zusammen? Vor der Geburt? Danach? Überhaupt?
Unten heulen Sirenen. Die Hitze ist unerträglich. Ich schiebe die Luftmatratze näher ans Geländer, raus aus der Sonne. Was hat Natalie gestern zu all dem gesagt? Hat sie überhaupt etwas dazu gesagt? „Ich.“ Sie sagte: „Ich werde dieses Kind bekommen.“ Sie sagte nicht „wir“. Wie hätte sie es auch sagen können? „Wir“ war ja auch ich. Und woher sollte sie wissen, ob auch ich ein Baby wollte. Und woher soll ich wissen, ob ich ein Baby will? Ich weiß doch gar nicht, wie das ist, mit so einem Baby.
Ich rufe Natalie an. Ich will wissen, was ich gesagt habe, nachdem der Wein kam. Und was sie gesagt hat. Verdammter Filmriss. Ihre Mailbox geht ran. Das dumpfe Pochen in meinem Schädel scheint Gefallen an den Sirenen zu haben und legt richtig los. Ich verlasse den Balkonofen, schließe Türen und Fenster, werfe zwei Aspirin ein und verkrieche mich zurück ins Bett.
Durchgeschwitzt erwache ich aus einem Traum. Ich stand in einem rosa Zimmer und versuchte ein Baby festzuhalten. Aus Angst, es zu zerquetschen, packte ich nicht fest genug zu. Es rutschte durch meine Hände und fiel auf den Boden. Natalies Mutter hob es auf, reichte es mir und lächelte dabei. Wieder griff ich nach dem Kind, ließ es fallen und erneut bückte sich Natalies Mutter um es aufzuheben. Nach einigen Versuchen glich das Baby dem Hackepeterklops von Opas Geburtstagsbuffett.
Auf meinem Handy ist keine Nachricht von Natalie. Ich entscheide mich für eine Dusche. Mir geht es besser; mein Kopf ist wieder ein Kopf. Wasser läuft mir übers Gesicht, in meine Ohren, ich kneife die Augen zu und beschließe, dass ich, Norman Wiesner, Vater sein werde. So ein richtiger, wie man sich den eben vorstellt. Ich drehe das warme Wasser ab, lasse das kalte laufen, friere, schüttle mich und bin bereit für die Verantwortung.
Wieder koche ich Kaffee, schreibe Natalie eine SMS: Muss dich heute unbedingt noch sehen; hole Stift, Papier und Laptop und richte mich erneut auf dem Balkon ein. Die Sonne bescheint jetzt die Häuser um die Ecke. Wahllos klicke ich durch Seiten zum Thema Schwangerschaft. Dabei stelle ich mir Natalie mit einem Riesenbauch und dicken Brüsten vor. Wenn ich das Bild aus meinem Kopf ausdrucken könnte, ich würde es tun. Mein Handy klingelt, es ist Natalie und ich habe ein schlechtes Gewissen. Ein Ständer ist sicher nicht das, was Natalie unter Verantwortung versteht. Sie kommt vorbei, wenn sie in der Bibliothek fertig ist, sagt sie. Dann legt sie auf.
Nach zwei Stunden schaue ich stolz auf meine Zettel. Seit dreißig Minuten bin ich Pampers-Village-Mitglied. In den nächsten Tagen schicken die mir Windelproben und mit etwas Glück, kann ich einen Jahresvorrat gewinnen. Bei ebay hab ich gecheckt, was man so für ein Baby braucht. Scheiße, ist das alles teuer! Den Kinderwagen werde ich mir zum Geburtstag von meinen Eltern wünschen. Ich habe vier Termine für Wohnungsbesichtigungen. Alle in Köpenick. Der Bezirk ist grün und einen See gibt es auch, das ist sicher besser als Kreuzberger Straßenpflaster. Außerdem hat Köpenick den Vorteil, dass Natalies Eltern dort wohnen. Zusätzlich habe ich die Adressen von Kinderärzten, Kitas und Sportvereinen aus dem neuen Kiez aufgelistet. Ich muss Natalie fragen, ob sie das Kind in einer Kita mit Bioernährung, mit musikalischer Frühförderung oder zweisprachig deutsch-chinesisch unterbringen möchte, damit ich die Anmeldungen ausfüllen kann.
Es klingelt. Sie ist da. Endlich. Ich stürze zur Tür, Natalie gibt mir flüchtig einen Kuss, zerrt an ihren Sandalen und stürmt mein Sofa. „Scheiße, war der Tag anstrengend. Das Wetter macht mich fertig. Aber meine Hausarbeit nimmt langsam Form an. Hast du was zu essen da?“ Sie rappelt sich hoch und inspiziert den Kühlschrank. Ich stehe da wie ein Trottel mit meiner Liste in der Hand, großen Worten auf der Zunge und sie ignoriert mich.
„Ich kann nichts finden. Lass uns eine Pizza bestellen.“ Und schon studiert sie den Flyer und überlegt, ob nun die 62 oder doch die 45.
„Natalie“, versuche ich ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie reagiert gar nicht, redet über Peperoni, Knoblauch und Salami. Ich starre auf ihren Bauch und ihre Brüste, aber alles erscheint mir unverändert.
„Und du?“ Sie zieht sich aufs Sofa zurück. Ihr Rock rutscht hoch und ich muss mich zwingen, ihre Beine zu ignorieren. Bauch, Busen, Beine; wie soll man da Verantwortung übernehmen? Ich versuche mich auf den Pizzazettel zu konzentrieren und flüchte auf den Balkon. „Der Empfang ist da besser“, sage ich zu ihr.
Nach der Bestellung setze ich mich zu ihr, entschuldige mich für den gestrigen Abend und dass ich mich ab „Ich werde dieses Kind bekommen“, an nichts mehr erinnern kann. „Aber“, füge ich gleich nach, bevor sie sich aufregt, „ich werde mich nicht um die Verantwortung drücken.“ Und wie zum Beweis nehme ich das Papier und doziere über meine Aktivitäten. Bei den Pampers unterbricht sie mich: „Du bist was?“
„Ich bin Pampers-Village-Mitglied“, wiederhole ich und setze an, auch die Vorteile noch einmal aufzuzählen, als es Natalie vor Lachen fast vom Sofa reißt.
„Ich weiß gar nicht, was daran so lustig ist“, sage ich wütend. „Hast du vielleicht 'ne Ahnung, was die Dinger kosten!“
„Schon gut. Rede weiter.“ Aber sie zwingt sich das Lachen in den Bauch und ab und an gluckst es aus ihr heraus. Ich wende mich deshalb von ihr ab und erzähle der Wand von Köpenick. Als ich mit meinem Vortrag fertig bin, nimmt sie den Zettel, zerreißt ihn, wirft die Schnipsel wie Konfetti in die Luft und küsst mich. Wie jetzt? Gut wegen Küssen oder schlecht wegen Zerreißen?
„Meinst du, wir schaffen es, bis die Pizza kommt?“, haucht sie und spielt an meiner Gürtelschnalle.
„Waas?“
„Gestern Abend warst du großartig.“
„Hä?“ Gestern Abend war ich drauf wie ein Sack Mehl. Wovon redet sie da? Wir haben doch nicht etwa … Nein, sie war heute morgen ganz sicher nicht hier. Das hätte ich mitbekommen. Sie hätte mich geweckt, weil Natalie einfach nicht leise sein kann. Es ist nicht ihre Art, sich schleichend in einer Wohnung zu bewegen, in der andere schlafen.
„Du hast das Thema völlig ignoriert. Als hätte ich nie gesagt, dass ich schwanger bin.“
„Ich war nicht mehr zurechnungsfähig“, gebe ich zu bedenken.
„Okay, ich bin schwanger. Ich werde ein Kind auf die Welt bringen. Aber nicht heute und nicht morgen. Das wird sich schon alles ergeben, wenn es soweit ist. Und bis dahin machen wir so weiter wie bisher.“
„Einfach so? Wir schlafen jetzt miteinander und ich soll dabei nicht daran denken, dass sich unser Leben gravierend verändern wird?“
„Genau!“, sagt sie und zieht sich ihr Oberteil aus.
Es funktioniert, ich verschwende keinen Gedanken mehr an die Zukunft.
„Und wieso bist du überhaupt schwanger?“, frage ich später, als wir mit den Pizzen im Bett hocken.
„Mittelohrentzündung.“
„Hä?“
„Antibiotika. Hab nicht gewusst, dass sich das nicht mit der Pille verträgt.“
Ich schüttle den Kopf, sie zuckt mit den Schultern und dann machen wir so weiter wie bisher.