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Film ab!
Evelyn langweilte sich auf ihrer eigenen Geburtstagsfeier zu Tode.
Den ganzen Nachmittag versuchte sie, den Leuten aus dem Weg zu gehen – allen voran ihrem Onkel, der ständig anzügliche Bemerkungen machte und bereits zum Kaffee eine Flasche Wein geleert hatte.
Ihre Mutter konnte ihr kein schlechtes Gewissen machen, auch nicht durch ihre vorwurfsvollen Blicke. Komm schon, Evelyn, wir feiern deinetwegen. Jetzt stell dich nicht so an.
Doch heute wollte sie sich anstellen.
„Trotzphase“, erklärte ihr Onkel, und Evelyn entging nicht, wie er dabei ihrer Mutter über den Arm strich. „Bei manchen dauert sie eben bis vierzehn.“ Dann lachte er so laut, dass seine Weinfahne bis zu Evelyn wehte.
„Sie ist noch ein bisschen enttäuscht, dass sie nicht mit ihren Freundinnen nach Sylt fahren kann“, sagte ihre Mutter.
„Nicht fahren darf“, korrigierte Evelyn, worauf ihre Mutter den Kopf schief legte und sie erneut mit ihrem Blick tadelte.
„Schatz, du weißt genau, dass wir selbst in den Urlaub fahren. Und so lange du noch nicht sechzehn bist, geht der Familienurlaub vor. Wir haben das doch besprochen. So ist die Abmachung.“
Evelyn ersparte sich die Bemerkung, dass für eine Abmachung die Zustimmung beider Seiten erforderlich war. Hier handelte es sich vielmehr um eine einseitige Ansage ihrer Eltern; einen Befehl, der für sie die langweiligsten Sommerferien ihres Lebens zur Folge haben würde.
„Na, dann such dir doch einfach jemanden zum Schmusen, dann wird das ganze viel erträglicher.“ Wieder erklang das Lachen ihres Onkels, und Evelyn spürte, wie sie rot anlief.
Erträglicher wurde zumindest dieser Tag, als sie später in den Garten gingen. Evelyn liebte den Sommer. Es war die Jahreszeit der Fröhlichkeit und der gelockerten Regeln, wenn man bis spät in die Nacht draußen bleiben und sich wie ein Erwachsener fühlen konnte. Auch jetzt versuchte sie, das Gefühl der warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und den Geruch von frisch gemähtem Gras zu genießen.
Sie entspannte ein wenig und ließ ihren Blick durch den Garten schweifen: Ihre Gäste – hauptsächlich Verwandte und Freunde ihrer Eltern – lagen in der Sonne und nippten an ihren Getränken, deckten den Tisch mit Tellern und Besteck aus Pappe oder schnitten die Verpackungen von gewürztem Fleisch und Würsten auf.
Ihre Entspannung verflog, als sich ihr Onkel neben sie setzte. „Wo sind eigentlich deine Freundinnen? Ich sehe hier nirgendwo junge Mädchen, an was liegt das?“
„Ich feire nochmal extra mit ihnen. Am Ende der Ferien dann.“
„Ach, so ist das.“ Ihr Onkel nickte, als habe sie eine große Weisheit verraten. „Bist du eigentlich allergisch gegen Bienen?“
Bitte, kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?
„Keine Ahnung.“
„Das solltest du mal herausfinden“, sagte er und tippte mit dem Zeigefinger knapp über die Ansätze ihrer Brüste. Evelyn wich zurück.
„Ist wichtig zu wissen, gerade jetzt im Sommer. Wenn du allergisch bist, kannst du an einem Stich sterben, wenn du nicht schnell ein Gegengift bekommst. Hast du das gewusst?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ist aber so. Erst wirst du ohnmächtig. Früher haben sie die Leute nach einem Bienenstich manchmal schon begraben, obwohl sie nicht tot waren, und die sind dann in ihrem Sarg -“
„Mama, schau mal!“
Das war die Stimme eines ihrer Cousins, und es war nicht die Lautstärke, die sämtliche Anwesenden die Köpfe drehen ließ, sondern ihr Tonfall: Eine Mischung aus Neugier und Abscheu, als hätte er ein Geheimnis gelüftet, von dem er nicht sicher war, ob es besser im Verborgenen geblieben wäre.
Beide Cousins – acht und zehn Jahre alt – standen auf der Wiese, und als Evelyn sah, was der Ältere in seinen Händen hielt, zuckte sie zusammen.
„Was ist das?“, fragte jemand.
Es war ein Schuhkarton, an dem Erdklumpen klebten. Evelyn erkannte ihn sofort. In diesem Karton hatten sie Rusty, ihr Zwergkaninchen, vor wenigen Tagen begraben.
„Schau mal“, sagte ihr Cousin, und dann geschah alles wie in Zeitlupe. Er drehte den Karton, und Evelyn sah, dass er an der Seite aufgerissen war. Als er ihn nach vorne kippte, kamen die Überreste ihres Tieres zum Vorschein, rutschten erst langsam nach vorne und fielen schließlich platschend auf eine Steinplatte.
Irgendjemand sog lautstark Luft ein.
Das war nicht Rusty, nicht so, wie sie ihn begraben hatten. Jemand hatte sein Inneres nach außen gedreht. Von seinem Fell war nichts mehr zu sehen, er war nur noch ein Klumpen aus Blut, Fleisch und weißen Gedärme. Fliegen summten um diesen verwesenden Brei, und für einen Augenblick war ihr Surren das einzige Geräusch des Sommers.
Dann begann jemand zu schreien.
Als Evelyn die Augen aufschlug, spürte sie sofort, dass sie nicht von selbst aufgewacht, sondern durch etwas geweckt worden war. Sie lauschte in die Dunkelheit, doch bis auf ihren Atem hörte sie nichts.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Erinnerung an Rustys Überreste an die Oberfläche ihres Bewusstseins trieb, und sie unterdrückte einen Würgereiz.
Trotz des geöffneten Fensters war die Luft in ihrem Zimmer schwül und stickig, und Evelyn sehnte sich nach einer Brise als Abkühlung für ihren verschwitzten Körper. Sie suchte nach den Leuchtziffern ihres Weckers. Kurz nach halb zwei.
Was hatte sie nur geweckt?
An die Details ihres Traums erinnerte sie sich nicht, nur daran, dass plötzlich ein Geräusch – klarer und eindringlicher als alles, was ihr Unterbewusstsein hervorbringen konnte – durch die dünne Wand ihres Schlafs gebrochen war und die Traumwelt in sich hatte zusammenfallen lassen. Jetzt aber war alles still.
Schläfrigkeit überkam Evelyn, doch kurz bevor sie von ihr in den nächsten Traum begleitet worden wäre, hörte sie das Wimmern. Augenblicklich schreckte sie hoch. Dieses Geräusch entsprang nicht ihrer Fantasie; es kam direkt aus der Finsternis und klang unterdrückt, wie das Schluchzen eines Kindes, das von den Eltern nicht bemerkt werden will.
Sie starrte in Richtung ihrer Zimmertür, hinter der das Weinen erklang, und lauschte; in das Geräusch ihres Atems mischte sich nun auch das Pochen ihres Herzens.
Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Musik zu hören oder ihren Kopf unter einem Kissen zu begraben – Gewohnheiten, die sie manchmal bei einem Streit ihrer Eltern anwendete – doch sie hatte einen schlimmen Verdacht, der sie quälen würde, wenn sie das Geräusch ignorierte.
Nein, sie brauchte Gewissheit.
Evelyn stieg aus dem Bett, schlich mit langsamen Schritten durch ihr Zimmer und öffnete die Tür. Das Wimmern schwoll an, und als sich ihr Verdacht bestätigte, war sie umso entsetzter – wie so häufig, wenn plötzlich Fremdes im Vertrauten entdeckt wird.
Es war das Weinen ihres Vaters.
Ihr Magen verwandelte sich in einen heißen Klumpen. Seit langem spürte sie, dass ihre Eltern unglücklich waren, sowohl jeder für sich wie auch als Ehepaar, und sie selbst litt sehr unter diesem Zustand – doch nie zuvor hatte diese Traurigkeit einen deutlicheren Ausdruck angenommen als jetzt durch die Tränen ihres Vaters. Am liebsten hätte sie die Tür geschlossen und Zuflucht unter ihrer Bettdecke gesucht, doch das Schluchzen hielt sie gebannt wie der Gesang der Sirenen. Sie wollte sich ihm nicht nähern, konnte sich nicht davon entfernen und musste doch wissen, wann es endete – oder ob es schlimmer wurde.
Evelyn setzte sich auf den Boden, zog die Beine an und versuchte sich ganz klein zu machen, doch das einsame Wimmern drang in jede Pore ihres Körpers, und sie begann zu zittern.
„Es geschah in einer kalten Herbstnacht zu Beginn des Jahrhunderts, als eine arme Mutter die leblosen Körper ihrer Zwillinge in ihren Betten liegend vorfand. Die Gesichter blass, die Leiber bereits kalt, wurde das Schlimmste befürchtet. Ein geschwind herbeigerufener Arzt bestätigte schließlich den Tod beider Kinder.
Welch arme, arme Familie! Unerachtet der elterlichen Trauer wurde aufgrund schlechter Wetterprognosen auf ein rasches Begräbnis gedrängt. So mussten die Eltern bereits am nächsten Tage die Körper ihrer einzigen Kinder dem kalten Erdboden überlassen. Und weil die beiden Buben im Leben unzertrennlich waren, wollten die Eltern sie auch im Tode vereint lassen und legten beide Körper in ein und denselben Sarg.
Bereits wenige Stunden nach dem Begräbnis drangen entsetzliche Geräusche aus dem Grab empor. Anfänglich noch als wirre Einbildung einer am Boden zerstörten Mutter abgetan, wurden diese Laute immer deutlicher, bis der Schrecken zur Gewissheit wurde: Mindestens eines der beiden Kinder war noch am Leben!
Oh, wie groß muss das Grausen der Beteiligten gewesen sein, wie tief musste sich die Bestürzung in die Herzen derer gebohrt haben, die da vor dem zugeschütteten Grab standen und die Klagelaute aus der Tiefe vernahmen? Sofort wurde begonnen, die Erde zu entfernen, und je tiefer man grub, desto deutlicher hörte man die Rufe – bis sie sich, kurz vor Erreichen des Sargs, in ein wildes Gebrüll verwandelten.
Als man den Sarg schließlich erreichte und öffnete, stellte sich heraus, dass lediglich eines der Kinder noch am Leben war. Sein Gesicht war zu einer Fratze des Entsetzens entstellt, und sein Gebrüll wollte nicht aufhören, nicht einmal, als man es in die Arme der weinenden Mutter legte. Das Brüllen wurde lauter, das Zucken des Kindes immer wilder, bis es schließlich, noch an Ort und Stelle, am Herzen seiner Mutter verstarb.
Diese Geschichte erzählt man sich bis heute, und manchmal lässt sie mich des Nachts nicht schlafen. Ich liege dann in meinem Bett und denke an den Jungen, der in einem Sarg neben dem Leichnam seines Bruders erwachte. Manchmal sehe ich seine aufgerissenen Augen vor mir, und dann frage ich mich, warum sein Gebrüll – nicht seine Rufe, sondern sein panisches Geschrei – erst nach einer Weile einsetzte, als er beinahe schon gerettet war.“
Mit diesen Worten schloss Kai das Buch. „So steht es geschrieben, und so ist es auch passiert“, sagte er und blickte gespannt in die Runde. „Na, was meint ihr?“
Evelyn lag auf der Wiese, hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und kaute auf einem Grashalm herum. Robert fand, sie sah so gelangweilt aus, wie er sich fühlte.
„Und das steht da so drin?“, fragte er.
„Klar.“ Kai grinste. „Willst du es lesen?“
Robert schüttelte den Kopf.
„Also, was denkst du?“, wollte Kai wissen.
Robert zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ Er überlegte, was Evelyn denken mochte. „Ich glaub nicht, dass es wahr ist“, sagte er schließlich.
„Wie, du glaubst nicht, dass es wahr ist? Meinst du, ich hab es erfunden? Glaubst du, ich hab das selbst geschrieben?“
„Nein“, antwortete Robert. Er traute Kai kaum zu, zwei zusammenhängende Sätze zu schreiben. „Ich glaube derjenige, der das geschrieben hat, hat es erfunden.“
„Es war eine Sie“, erinnerte ihn Kai. „Das ist aus dem Tagebuch von unserer Großtante. Sie hat es geschrieben, als sie sechzehn war, im Jahr 1938. Da steht ein Haufen langweiliger Scheiß drin, aber dieser Eintrag ist interessant. Warum sollte sie das erfinden? Ich meine, es steht in ihrem Tagebuch. Was denkst du, Evelyn?“
Evelyn reagierte nicht.
„Hey, was denkst du?“ Kai stieß seine Schwester mit dem Fuß an.
„Au“, rief sie. „Scheiße, was soll das? Keine Ahnung, was ich denke. Vermutlich wird es schon stimmen, wenn es da so steht. Wen interessiert das?“
Insgeheim bedauerte Robert, dass Evelyn nicht seiner Meinung war.
„Mich interessiert das“, antwortete Kai. „Und es zeigt nur, dass ihr überhaupt kein Gespür für interessante Geschichten habt. Und dass ihr keine Zusammenhänge erkennt. Mir als angehendem Regisseur sind diese Zusammenhänge natürlich sofort aufgefallen.“
Kai schaute jeden von ihnen an, doch keiner sagte ein Wort.
„Mann, blickt ihr das nicht?“, fragte er ungläubig. „Es gibt da einen Zusammenhang zwischen diesem Eintrag und dem, was Evelyns Hase passiert ist.“
„Oh Mann, Kai, du Idiot. Rusty war ein Zwergkaninchen, kein Hase. Und jetzt hör endlich mit dieser Geschichte auf.“
„Hase, Kaninchen, drauf geschissen. Jedenfalls hat es ausgesehen, als hätte man es durch einen Reißwolf gedreht. Also.“
„Also was?“
Kai verdrehte die Augen. „Na, was denkst du wohl, was sich an deinem Kaninchen zu schaffen gemacht hat?“
„Vielleicht ein Maulwurf“, warf Robert ein. Sie diskutierten das nicht zum ersten Mal.
Evelyn seufzte und schüttelte den Kopf. Robert lief rot an und bereute, etwas gesagt zu haben.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Wahrscheinlich ein Tier. Nicht gerade ein Maulwurf, aber halt ein anderes.“
„Unter der Erde?“, wollte Kai wissen. „Was soll das für ein Tier sein?“
„Was glaubst du denn?“, fragte Robert.
„Also Leute, für mich ist die Sache klar. Ihr solltet euch mehr mit Horrorfilmen beschäftigen, dann wüsstet ihr, was hier los ist. Ich glaube, dass irgendwas hier in der Erde lebt. Irgendwas, von dem die Menschen nichts wissen. Dieses – ich nenne es mal – Unwesen ernährt sich von den Toten, die wir begraben. Menschen und Tiere. Dieses Unwesen hat sich das Kaninchen geschnappt, und es hätte sich auch die Zwillinge geholt, wenn man sie nicht ausgegraben hätte. Deshalb hat der eine auch auf einmal so gebrüllt. Weil er das Unwesen gesehen hat, wie es seinen Sarg erreicht, aufgebrochen und ihn angestarrt hat. Deshalb war er so schockiert, und dieser Schreck hat ihn umgebracht.“
Eine Weile sagte niemand etwas, und Robert lauschte dem Zwitschern der Vögel und dem Plätschern eines Baches. Für ihn klang diese Geschichte absurd.
„So ein Quatsch“, sagte Evelyn, und Robert wünschte, er hätte seine Meinung zuerst gesagt.
„Ach ja, meinst du? Und was habt ihr für eine Erklärung?“
„Gar keine“, antwortete Robert. „Es braucht auch keine. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“
„So?“, fragte Kai. „Na, wenn dem so ist, dann hast du sicher nichts gegen ein Experiment.“
„Was für eins?“
„Also, wie du ja weißt, werde ich eines Tages ein großer Regisseur von Horrorfilmen sein. Wir können jetzt damit anfangen. Wir drehen einen Film mit einer einfachen Kamera, im Stil von Blair Witch Project oder Paranormal Activity.“
Robert, der sich aus Horror nichts machte, kannte diese Filme nicht.
Kai fuhr fort: „Wir stecken dich in eine Kiste und begraben sie. Nicht tief, nur einen halben Meter oder so. Du bekommst eine Digicam, eine Lampe und ein Walkie-Talkie. Dann nimmst du alles auf. Und wenn ich Recht habe, wird dieses Unwesen kommen.“
Robert fragte sich, ob Kai das ernst meinte.
„Es wird sogar noch besser als Paranormal Activity, weil alles echt ist! Na, was meinst du? Bist du dabei?“
Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als Evelyn und Kai nach Hause gingen. Es war der schönste Augenblick eines Sommertages, wenn die einsetzende Kühle über die Haut strich und die aufgestaute Hitze zurückdrängte. Trotz der späten Stunde hörte man noch überall Gelächter sowie den Lärm spielender Kinder, und die Erwachsenen zündeten Teelichter und Fackeln an. Während man im Winter vor der Dunkelheit flüchtete, begrüßte man sie im Sommer und machte es sich darin bequem. Auch davon ging für Evelyn die Faszination dieser Jahreszeit aus.
Kai sprach über sein Projekt, doch sie hörte kaum zu. Sie überlegte, ob sie ihm von ihrem Vater erzählen sollte. Sie würde gerne mit jemandem sprechen, weil sie sich nach Aufmunterung und Trost sehnte, weil sie jemanden brauchte, der ein Licht in ihrer Dunkelheit entzündete.
„Wir könnten die Truhe aus unserem Keller nehmen. Ich wette mit dir, das wird der Hammer! Stell dir vor, wenn wir wirklich diesem Unwesen auf die Schliche kommen – das wäre Cloverfield, nur besser! Wie klingt das? Ich muss mir echt überlegen, wie wir das aufziehen. Wir müssen -“
„Kai, warte mal.“ Evelyn umschloss seinen Unterarm, und Kai drehte sich zu ihr. Seine Augen waren aufgerissen wie die eines Kindes vor dem Weihnachtsbaum.
„Ich muss dir noch was sagen“, begann sie und spürte, wie sich ihr Magen zu einem heißen Klumpen zusammenzog.
„Was denn?“
„Ich habe neulich nachts gehört, wie Papa geweint hat.“ Jetzt war es raus.
Kai schüttelte den Kopf. „Hä? Wieso denn das?“
Ihr Bruder war über ein Jahr älter, und nicht zum ersten Mal fragte sich Evelyn, weshalb er nicht sah, was sie sah. Weshalb er nicht fühlte, was sie fühlte.
Hörst du nicht das Schweigen zwischen uns, wenn wir essen? Siehst du nicht die Leere in seinen Augen, wenn er manchmal minutenlang die Wand anstarrt? Spürst du nicht seine Gleichgültigkeit, sein Desinteresse an den Dingen, die ihm früher Spaß gemacht haben?
Evelyn blickte in die Augen ihres Bruders und wurde sich bewusst, dass ihm all dies entgangen war. Er lebte noch immer in der unbeschwerten Welt der Kindheit, während sie selbst begonnen hatte, diese zu verlassen. Sollte sie ihn da herausreißen? Würde das nicht früh genug von alleine geschehen?
Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht hatte er – Kopfschmerzen.“
Es klang blöd, und das merkte selbst Kai. „Ich glaub eher, du hast dir das eingebildet. Warum sollte er weinen?“
„Ja, vermutlich hast du recht. Vergiss es einfach.“
„Wahrscheinlich hast du das nur geträumt. Ein Albtraum. Warte mal ab, was du für Albträume bekommst, wenn wir erst das Unwesen auf Video haben. Hey, du musst unbedingt noch mit Robert reden, damit er nicht kneift. Ich weiß auch schon, wie wir das machen. Wir ...“
Damit war er wieder in seiner ganz eigenen Welt, und Evelyn wunderte sich – ebenfalls nicht zum ersten Mal –, wie unterschiedlich sie doch erwachsen wurden.
„Als ich zwölf war, hab ich Die Moorgeister gelesen.“
Sie saß mit Robert an einem Bach, und nachdem sie vergeblich versucht hatten, Frösche zu entdecken und Kaulquappen zu fangen, hatten sie sich auf einen Stein gesetzt und ließen nun ihre Füße ins Wasser hängen.
Eigentlich waren sie wieder zu dritt verabredet gewesen, doch Kai hatte Zahnschmerzen bekommen und war mit seiner Mutter beim Arzt.
„Da war ein Junge namens Timo, der im Zug zu seinem Onkel fuhr, und in diesem Zug traf er einen Mann. Dieser Mann war bleich, er hatte dunkle Ringe unter den Augen und trug einen dicken Mantel. Er erzählte Timo, dass er seine Träume verkauft hat. Jedes Mal, wenn er einschlief, wurde er durch einen lauten Knall geweckt. Jetzt fährt er ununterbrochen in diesem Zug durch die Gegend, weil er dort auch einst auf den Käufer seiner Träume stieß. Und so hofft er, seine Träume wiederzubekommen.“
Robert warf einen Kieselstein ins Wasser und beobachtete, wie sich die Oberfläche kräuselte.
„Dieser Mann erschien Timo eines Nachts wieder an seinem Bett und erzählte ihm, dass er gesehen hat, wie er am Bahnhof seinen Onkel traf. Genau dieser Onkel sei der Käufer der Träume gewesen. Ich hatte wochenlang Albträume von dieser Geschichte. Irgendwie kindisch, oder?“
Robert zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Mit zwölf geht das in Ordnung, denke ich.“
Niemals hätte er gewagt, Evelyn kindisch zu nennen.
„Was ich sagen will“, fuhr sie fort, „es ist schon seltsam, wie sich die Wahrnehmung ändert, wenn man älter wird. Man hat keine Angst mehr vor Monstern, die sich unter dem Bett verstecken, oder vor Geistern, aber dafür – man, naja, man fürchtet sich vielleicht vor anderen Dingen. Und diese Ängste sind schlimmer. Verstehst du?“
„Ich denke schon“, sagte Robert, der nicht so recht wusste, worauf sie hinauswollte. Eine Weile sprach keiner von ihnen, und Robert hörte das Summen von Stechmücken, die um seinen Kopf schwirrten.
„Wirst du es eigentlich tun?“, fragte Evelyn plötzlich mit lauter Stimme.
„Was tun?“
„Na, dich begraben lassen.“
Robert war nicht sicher, was Evelyn von der Idee hielt. „Mal sehen“, antwortete er.
„Das ist auch so ein Beispiel von Älterwerden – Kai will uns zeigen, wie cool er ist. Er denkt, er könnte uns damit beweisen, wie erwachsen er ist. Wie sehr er die Dinge im Griff hat. Hättest du keine Angst, wenn man dich begräbt?“
Robert schüttelte den Kopf. „Nein, vermutlich nicht. Es ist ja nicht so tief. Und an Monster glaube ich schon lange nicht mehr.“
Evelyn nickte, gab jedoch keine Antwort. Irgendwie hatte Robert das Gefühl, sie mit seiner Antwort enttäuscht zu haben.
„Vielleicht gäbe es auch wirklich keinen Grund, Angst davor zu haben. Vor dem Begraben, meine ich. Die Dinge, vor denen man sich fürchtet, sind am Ende meist nicht so schlimm, findest du nicht auch? Die wirklich schlimmen Sachen überraschen uns, da denken wir nicht im Voraus dran. Meine Mutter sagt immer: Es kommt immer anders, als man denkt. Ich finde, da ist was dran.“
Robert wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und so schwiegen sie wieder und genossen die Kälte, die von den Füßen aus durch ihre Körper zog.
„Hey, wie ist die Lage? Bist du fit?“
„Was meinst du?“ Robert lag auf seinem Bett und war bis auf die Unterhose nackt. Ein dünner Schweißfilm überzog seinen Körper. Die Luft um ihn herum fühlte sich klebrig an wie Sirup.
„Na, ob du bereit bist für unser Experiment. Unseren Film. Du weißt schon.“
Selbst durch das Telefon spürte er Kais Aufregung.
„Keine Ahnung. Bist du denn bereit? Hab gehört, du warst beim Arzt?“
„Ja, alles super. Lenk nicht ab. Morgen früh gehts los. Ich hab Batterien für die Funkgeräte und bin dabei, die Cam aufzuladen. Du hast nicht zufällig eine Taschenlampe?“
Robert atmete schwer, was nicht allein an dem schwülen Wetter lag.
„Vielleicht sollten wir uns das nochmal überlegen.“ Evelyn gegenüber hatte er sich keine Blöße geben wollen, doch bei Kai konnte er ehrlicher sein.
„Was überlegen? Was willst du überlegen?“
„Ob wir das wirklich durchziehen. Ist ja schließlich nicht ganz ungefährlich.“
Kai lachte. „Klar, jetzt hast du Schiss. Jetzt hast du auf einmal Schiss. Gestern erzählst du noch, da ist kein Unwesen, da ist nichts in der Erde, und jetzt -“
„Es geht mir doch nicht um irgendein Wesen.“
„Ach nein? Um was dann?“
Robert wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Na ja, ich könnte zum Beispiel ersticken. Was denkst du, wie lange man in einer kleinen Kiste Luft bekommt?“
Kai überraschte ihn. „Ich hab das ausgerechnet. Bei uns steht eine Truhe im Keller, da passt du rein. Die ist ein Meter sechzig lang, achtzig Zentimeter hoch und siebzig Zentimeter breit. Da gehen also etwa neunhundert Liter Luft rein. Du brauchst sechs Liter pro Minute, macht zweieinhalb Stunden Luft. Also holen wir dich nach spätestens zwei Stunden.“
Robert war verblüfft, und Kai spürte das.
„Mann, ich hab das getan, was gute Regisseure machen – ich habe recherchiert.“
„Sieht ganz so aus“, antwortete Robert. „Trotzdem -“
„Hey, da ist nichts, was dir Sorgen machen muss. Bis auf das Unwesen natürlich, aber davor hast du ja keine Angst. Oder?“
Einen Augenblick fragte sich Robert, ob Evelyn Kai von ihrer Unterhaltung erzählt hatte.
„Nein“, antwortete er. Was hätte er sonst sagen sollen?
„Außerdem“, fuhr Kai fort, „hat Evelyn erzählt, wie mutig sie dich findet.“
„Das hat sie nicht.“
„Klar. Sie bewundert dich dafür. Sie hat erzählt, sie findet dich sehr erwachsen.“
Etwas in der Art hatte Evelyn am Morgen auch über Kai gesagt, doch Robert erinnerte sich nicht an den genauen Wortlaut.
„Und du musst wissen, Mädchen in ihrem Alter stehen auf erwachsene Typen. So etwas suchen sie. Also? Bist du morgen dabei?“
Robert wollte nicht zusagen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dies nur wegen Evelyn zu tun. Doch ebenso wenig wollte er absagen, gegenüber Kai wie ein Feigling und – was schlimmer war – gegenüber Evelyn wie ein Kind dastehen.
„Also. Ich wusste es“, sagte Kai, noch während er überlegte. „Wir sehen uns morgen um acht bei uns. Wir müssen früh los. Und schau, ob du eine Taschenlampe auftreiben kannst.“
Dann legte er auf. Robert richtete sich auf, ging zum Fenster und warf einen Blick in die Sommernacht.
Sie bewundert dich dafür.
Er fühlte sich, als würde er schweben, und plötzlich freute er sich auf den nächsten Tag.
Durch das gekippte Fenster hörte er das Zirpen von Grillen.
Es gab keinen Grund, sich zu fürchten, schon gar nicht vor Kais lächerlichem Wesen. Und Evelyn sah es genauso, oder?
Es kommt immer anders, als man denkt.
Die Luft knisterte, und Robert konnte das nahende Gewitter spüren.
„Bin ich drauf?“, fragte Kai.
Evelyn fummelte an der Kamera herum.
„Bin ich drauf?“
„Ja. Leg los.“
„Also gut.“ Mit übertrieben ernstem Gesicht blickte Kai in die Kamera. Aufkommender Wind zerzauste sein Haar und unterstrich so die gespenstische Wirkung, die er sich erhoffte. „Wir sind heute hier, um einem jahrhundertealten Mythos auf die Spur zu kommen. Immer wieder berichteten die Bewohner dieser Stadt von unheimlichen Ereignissen, die sich unter der Erde abspielten. Bäume starben ohne ersichtlichen Grund ab oder wurden entwurzelt. Tiere wurden jäh in den Boden gezogen.“ Kai machte einen Schritt auf die Kamera zu. „Tote wurden in ihren Gräbern geschändet oder verschwanden. Alles, was von ihnen übrig blieb, waren Reste ihres verwesenden Fleisches, ein paar Knochen und aufgerissene Särge. Doch in vielen Fällen hinterlässt das Unwesen aus der Erde überhaupt keine Spuren.“
Er machte eine Pause.
„Es ist weniger bekannt als das Monster von Loch Ness. Von ihm gibt es weniger Aufnahmen als von Bigfoot, und es hinterlässt weniger Spuren als Yeti. Doch es ist unendlich grausamer – und vor allem, es existiert wirklich! Und das werden wir heute beweisen. Mein Name ist Kai Dietz, und ich bin der Regisseur dieses Projekts.“
Kai ging zu dem Loch, das sie am Morgen begonnen hatten zu graben. Es hatte länger als vermutet gedauert, und sie waren erst nachmittags fertig geworden.
„Wir befinden uns hier am Rand unserer Stadt. Fernab von den Blicken der Bevölkerung wollen wir das Unwesen aus der Erde stellen und erstmals auf Kamera aufnehmen. Hierzu wird ein mutiger Mann, Robert Klein -“
Er winkte Robert zu sich, der neben Kai trat und unsicher in die Kamera blickte.
„ - in eine Kiste unter der Erde steigen und das Unwesen anlocken. Keine Sorge, ihm kann nichts passieren. Dank eines Funkgeräts verfügt er über ständigen Kontakt zur Oberfläche, außerdem hat er ein Messer zur Selbstverteidigung. Robert, wie fühlst du dich?“ Kai wandte sich ihm zu.
„Ich – äh – keine Ahnung. Gut soweit.“
Kai schaute wieder in die Kamera und senkte seine Stimme, um ihr mehr Dramatik zu verleihen. „Er fühlt sich gut. Das muss er auch, denn in wenigen Stunden schon wird er mit dem schlimmsten Schrecken konfrontiert, der jemals diese Stadt terrorisierte.“
Kai schwieg ein paar Sekunden. „Ist die Kamera aus?“
„Nein.“
„Dann mach sie aus. Ich bin fertig.“
Evelyn beendete das Video.
„Hey, du glaubst doch nicht, dass ich ein paar Stunden in der Kiste bleibe?“
„Keine Sorge, Mann“, beschwichtigte Kai seinen Freund. „Das hab ich nur für die Kamera gesagt. Wie besprochen holen wir dich nach zwei Stunden raus.“
Mit weichen Knien sah Robert auf die Truhe, die lächerlich klein wirkte. Er wollte schlucken, doch sein Mund war zu trocken. „Ihr grabt mich dann wieder aus, wenn ich es sage. Verstanden?“
„Ja, alles klar. Keine Sorge, Mann.“
„Und was sollte der ganze Quatsch mit den entwurzelten Bäumen?“, wollte Evelyn wissen.
„Oh Mann, das hab ich nur gesagt, um Spannung zu erzeugen. Als Regisseur macht man das so. Man muss das Publikum irgendwie ködern. Außerdem wurden hier auch schon Bäume entwurzelt, wenn mich nicht alles täuscht.“
„Ja, wegen Stürmen“, sagte Evelyn. „Nicht wegen einem Wesen aus der Erde. Das ist doch dämlich.“
„Hey, es zwingt dich keiner, hier mitzumachen. Wenn du nicht willst, kannst du gehen. Aber dann verschwindet auch dein Name aus dem Abspann.“
Evelyn schwieg, und Robert fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie ihn wirklich für so mutig und erwachsen hielt, wie Kai gesagt hatte. Vielleicht schämte sie sich ein wenig, dies in seiner Gegenwart zuzugeben, doch er traute sich nicht zu fragen.
„Also, wie sieht es aus, fangen wir an? Alle bereit?“
Eine Bö fegte über die Lichtung, auf der die drei Jugendlichen standen, und ließ die Blätter einiger umstehender Bäume rascheln. Es klang wie ein Applaus des Waldes.
„Das Wetter wird schlechter“, sagte Robert und schaute in den Himmel. Für den Abend waren Gewitter angekündigt, und aus der Schule wusste er, dass heftiger Wind ihr Vorbote war.
„Umso wichtiger, dass wir jetzt schnell anfangen. Also nochmal zum Ablauf. Du legst dich in die Kiste. Wir schütten langsam Erde drauf. Sobald was nicht in Ordnung ist, gibst du uns das durch das Funkgerät durch. Es ist wichtig, dass die Kamera die ganze Zeit an ist. Und achte auf die Beleuchtung. Da unten wird es dunkel, schau, dass du mit der Lampe immer dahin leuchtest, wo du auch filmst.“
„Gut. Und dann?“
„Keine Ahnung. Das sehen wir dann. Wir filmen hier nicht nach Drehbuch, Mann. Wir müssen improvisieren. Aber keine Sorge, das übernehme ich. Ich gebe dir alles Wichtige per Funkgerät durch. Klar soweit?“
Robert nickte, und als er sah, dass Evelyns Blick auf ihm ruhte, schaute er erschrocken weg.
„Noch Fragen? Gut, dann heben wir jetzt die Kiste in das Loch.“
Das taten sie.
Am frühen Morgen waren sie mit der Truhe, einem Leiterwagen und drei Schaufeln aus der Garage in Richtung Stadtrand aufgebrochen. Den gesamten Tag war es schwül gewesen, doch inzwischen fröstelte Robert. Rasch abfallende Temperaturen waren ein weiteres Zeichen für ein Gewitter.
„Bist du bereit?“, fragte Kai.
Nein, wollte Robert sagen. Nein, ich bin nicht bereit. Wer kann schon bereit sein, sich begraben zu lassen? Ich will nach Hause, mich auf die Couch legen und die Simpsons anschauen. Doch was sollte Evelyn dann von ihm denken?
Und weil Robert wusste, seine Stimme würde zittern, nickte er nur.
Langsam stieg er in die Truhe, und als er sich hineinlegte, musste er die Beine ein wenig anwinkeln. Kai gab ihm das Funkgerät, die Taschenlampe, die Kamera und ein Küchenmesser. „Nur für alle Fälle“, sagte er grinsend.
Robert nickte erneut. Trotz des frischen Windes spürte er Schweißperlen auf seiner Stirn.
„Nicht vergessen“, sagte er, „wenn ich es sage, holt ihr mich wieder raus.“
„Keine Angst. Das machen wir. Also dann, Film ab!“
Kai schloss den Deckel, und die Finsternis verstärkte den Geruch nach Moder und vergilbtem Papier. Robert war überrascht, wie wenig er sehen konnte, und sofort knipste er die Taschenlampe an. Ihr Lichtkegel wirkte verloren, wie ein Fremdkörper an diesem Ort, an dem sonst nur die Dunkelheit herrschte.
„Wir fangen an“, hörte er Kais gedämpfte Stimme, und dann klang es, als würden dicke Regentropfen in Schüben auf die Truhe fallen. Erde, schoss es durch Roberts Kopf. Sie werfen Erde auf den Deckel.
Und während er im Lichte der Taschenlampe beobachtete, wie seine Beine zu zittern begannen, während er lauschte, wie sie ihn begruben und sein Herz im Takt zu den prasselnden Geräuschen klopfte, hörte er das ferne Grollen des ersten Donners.
Sie hatten das Loch ungefähr zur Hälfte zugeschüttet, als sich Wolken vor die Sonne schoben und die Umgebung in graues Licht tauchten. Wie ein Schleier senkte sich das Zwielicht über die Lichtung, und als wollten sie flüchten, neigten sich die Bäume im auffrischenden Wind zur Seite.
Kai schaltete das Walkie-Talkie ein.
„Robert, hier ist Kai. Hörst du mich? Over.“
Das Funkgerät knackte, und zu Evelyns Erleichterung hörten sie Roberts Stimme. Sie klang metallisch verzerrt, war jedoch gut zu verstehen. „Ja, ich kann dich hören.“
„Du musst Over sagen, wenn du fertig bist mit Reden. Ist alles klar bei dir? Over.“
„Ja, alles klar.“ Robert zögerte einen Augenblick. „Es ist dunkler, als ich dachte. Ich habe gerade das Licht ausgeschaltet. Wenn es aus ist, kann man nicht mehr unterscheiden, ob die Augen offen oder geschlossen sind. Wenn es aus ist, ist es dunkler als alles, was ich je erlebt habe. Das ist schon gruselig. Over.“
„Du sollst das Licht nicht ausmachen! Sonst kannst du nicht filmen. Over.“
Evelyn überlegte, was passierte, wenn Robert in der Finsternis die Taschenlampe nicht wiederfand. Was, wenn er blind durch den Sarg – nein, kein Sarg, es war nur eine Kiste – tastete, und statt der Lampe plötzlich die kalten Finger eines Menschen berührte?
Sie bekam eine Gänsehaut.
„Vielleicht sollten wir das Loch nicht ganz zuschütten?“, fragte sie. „Ich meine, es kann doch sein, dass wir ihn schnell ausgraben müssen.“
Kai verneinte. Immer weiter schüttete er Erde in das Loch, das kaum mehr als solches zu erkennen war. Ein Blitz zerschnitt den trüben Himmel, und als sein weißes Licht Kais Gesicht erhellte, sah er in Evelyns Augen seinem Vater ähnlicher als je zuvor. „Wir müssen ihn ganz zuschütten“, sagte er. „Sonst können wir das Unwesen nicht anlocken.“
Evelyn schüttelte den Kopf. „So ein Schwachsinn. Du glaubst doch selbst nicht an so ein Wesen, also was soll das Ganze?“
Wie eine Ohrfeige krachte der Donner auf sie nieder. Evelyn zuckte zusammen.
Kai führte das Funkgerät wieder an seinen Mund. „Robert, du musst jetzt etwas über das Unwesen erzählen. Die Leute langweilen sich, wenn sie dich nur in der Kiste liegen sehen. Du musst sie irgendwie bei Laune halten. Over.“
„Was soll ich denn erzählen? Over.“
Kai seufzte. „Einmal mit Profis arbeiten“, sagte er und drückte wieder auf die Sprechtaste. „Erzähle, dass du an das Unwesen glaubst. Wie ich. Erzähle, dass es in unserer Erde lebt und sich von Toten ernährt, sowohl von Tieren als auch von Menschen. Wir füttern es unentwegt, ohne es zu merken. Unser Friedhof ist seine Futterstelle, und wenn wir jemanden begraben, kommt es in der Nacht und frisst die Leiche auf. Wir merken davon nichts, weil wir unsere Toten niemals ausgraben. Sprich das in die Kamera. Over.“
„Mann, Kai, du machst mir Angst“, sagte Evelyn. Sie fröstelte.
Dann geschahen mehrere Dinge so schnell nacheinander, dass Evelyn später – hätte sie sich an jedes Detail erinnern können – geschworen hätte, sie seien gleichzeitig passiert.
Zunächst nahm sie einen stechend scharfen Geruch wahr. Er erinnerte sie an den Geruch von Chlor, den sie aus dem Hallenbad kannte. Sie sah Kais Grinsen und war erstaunt, wie weiß seine Zähne schimmerten.
Das Funkgerät knackte. „Kai. Kai!“ Robert presste die Worte heraus. „Scheiße, Kai, hörst du mich? Es gibt hier ein Problem. Hörst du mich?“
Wie in Zeitlupe bewegte Kai das Funkgerät. Er betätigte die Sprechtaste, öffnete den Mund, doch Evelyn hörte seine Worte nicht mehr, denn in diesem Augenblick explodierte die Welt um sie herum, und alles verschwand in einem grellen, weißen Licht.
Die Finsternis umgab ihn wie Blutegel, heftete sich schmatzend an seinen Körper, schien seinen Platz einnehmen zu wollen. Mit jedem Atemzug drang sie tiefer in ihn ein.
Der Lichtkegel wirkte jetzt schmaler, auch er ließ sich von der Dunkelheit einengen wie Roberts Körper von der Truhe – und zuckte wie in einem Todeskrampf, weil die Hand, die seine Richtung bestimmte, so stark zitterte.
Robert drückte auf die Sprechtaste.
„Kai, Mann, melde dich, das ist nicht lustig!“
Das Funkgerät schwieg, und dieses Schweigen, diese Abwesenheit jeglichen Geräusches war wie die Stimme der Dunkelheit selbst, so wie ihr Körper das Fehlen von Licht war.
Robert richtete die Lampe auf die Stelle der Truhe, an der Erde hereinrieselte. Nicht viel, doch es beunruhigte ihn. Wenn der Deckel verzogen war, hielt er vielleicht dem Druck nicht stand.
Noch immer kam keine Antwort.
Er spürte, wie sich in ihm etwas regte; gleich eines Drangs, die Arme nach oben zu reißen, mit den Füßen auszuschlagen und gegen den Deckel der Truhe zu brüllen. Er hielt sich zurück und verlagerte sein Gewicht, um eine bequemere Position einzunehmen.
Ganz ruhig, sagte er sich. Da ist nichts passiert. Nichts. Wenn sie merken, dass keine Verbindung mehr besteht, graben sie mich wieder aus.
Die aufkommende Panik ließ nach, doch das Keuchen seines Atems wurde dennoch lauter, prallte von den Wänden ab und schwang durch die Truhe wie das Echo aus einem Grab. Er stellte sich vor, was geschehen würde, wenn die Lampe ausfiel. Wenn die Batterien jetzt den Geist aufgaben und die Dunkelheit ihn mit einem Mal verschluckte.
Dann schreie ich so laut ich kann. Doch wenn er einmal damit begonnen hatte, wie sollte er je wieder aufhören?
Er versuchte, den Deckel der Truhe zu heben, doch es lag bereits zu viel Erde darauf, und der Platz reichte nicht aus, um vernünftig Kraft auszuüben.
Wenn sie mich vergessen?
Unmöglich.
Niemand weiß, dass ich hier bin. Außer Evelyn und Kai, es sei denn, sie haben es noch jemandem erzählt.
Er war allein. Und während die Finsternis in seinen Körper drang, strömte Schweiß daraus hervor.
Sein Keuchen wurde lauter. Das Zucken des Lichtkegels nahm zu, er sah seine angewinkelten Beine, sah die Schatten, die durch die Truhe hüpften – und auf einmal war zwischen diesen Schatten ein kreideweißes Gesicht, das ausdruckslos auf ihn starrte.
Er sog Luft ein, doch etwas in ihm verkrampfte sich, sodass statt eines Schreis nur ein Röcheln über seine Lippen kam. Die Lampe fiel ihm aus der Hand, und mit dem Licht verschwand auch das Antlitz in der Dunkelheit.
Er dachte an den Bruder, den toten Zwilling.
Hektisch griff er nach der Lampe, hielt den Lichtstrahl auf das andere Ende der Truhe – und sah nichts. Wo hatte sich der Andere versteckt?
Robert richtete sich auf, so gut es ging, und durchleuchtete die Truhe. Sie war so unendlich klein, wie sollte hier noch jemand hineinpassen? Und dennoch –
In diesem Augenblick hörte er klar und deutlich ein leises Scharren. Doch es war nicht die Erde, die vom Deckel der Truhe gehoben wurde, sondern es kam von unten.
Etwas kratzte von außen am Boden der Truhe.
Das Unwesen.
Es hatte seine Witterung aufgenommen, und nun war es hier.
Sie rannte durch den Regen, verfolgt von Blitz und Donner, angetrieben vom Anblick des leblosen Körpers ihres Bruders.
Etwas war passiert, doch eine Lücke in ihrer Erinnerung verbarg das Geschehene. Im einen Moment waren sie noch vor dem beinahe zugeschütteten Loch gestanden, im anderen lagen sie beide auf dem Boden. Doch im Gegensatz zu ihr öffnete Kai seine Augen nicht, selbst dann nicht, als kalte Tropfen auf ihn prasselten und seine Kleidung durchtränkten.
Tränen vermischten sich auf ihren Wangen mit dem Regen, ihre Beine zitterten und drohten, unter ihr nachzugeben – dennoch rannte sie, beherrscht von nur einem Gedanken: Sie musste nach Hause, so schnell es ging. Was auch immer passiert war, Kai brauchte Hilfe.
Ihr Schluchzen nahm sie nur am Rande wahr, und plötzlich fühlte sie sich wieder wie ein kleines Mädchen, dem ein Unglück zugestoßen war – das sich vielleicht angeschlagen oder die Finger verbrannt hatte. Sie wollte zu ihrer Mama, weil sie mit der Situation nicht zurecht kam. Irgendwie war die Welt aus den Fugen geraten, und der einzige Mensch, der die Ordnung wieder herstellen konnte, war ihre Mama – sei es mit einer Umarmung, tröstenden Worten oder einfach mit ihrem vertrauten Geruch. Wenn sie es bis in die Arme ihrer Mama schaffte, konnte ihr – und auch Kai – nichts mehr passieren. Etwas anderes würde ihre Mama niemals zulassen.
Und als sie ihr Haus von weitem sah, schaffte sie es tatsächlich, noch schneller zu rennen.
Die Eingangstür war verschlossen, und Evelyn drückte immer wieder auf die Klingel. Niemand öffnete. Sie hörte keine Schritte, kein Klappern von Geschirr, nicht einmal den Fernseher oder das Radio. Die Rufe nach ihrer Mama gingen im Gebrüll des Gewitters unter.
Dann fiel ihr der Blumentopf ein, unter dem immer ein Ersatzschlüssel lag – auch dies eine Idee ihrer Mama, und sie drehte den Topf, nahm den Schlüssel und schloss die Tür auf, und da war er, der vertraute Geruch, sie wusste, gleich war sie in Sicherheit, gleich, jetzt hörte sie sich selbst nach ihrer Mama rufen, rannte ins Wohnzimmer, und da lag sie doch, da lag sie doch auf dem Sofa, warum antwortete sie denn nicht, und Evelyn rannte zu ihr, rief jetzt den Namen ihres Bruders, wollte alles erzählen, doch ihre Mama schlief, wie konnte sie schlafen, und dann sah Evelyn ihre offenen Augen, es war wie in einem Albtraum, wieder war das Vertraute so fremd, warum schlief ihre Mama auf dem Sofa mit offenen Augen –
Erst jetzt sah Evelyn den dunkelroten Fleck auf ihrem Oberteil, sah den gebrochenen Blick ihrer Mutter. Sprachlos vor Entsetzen wich sie zurück, ihr Verstand reichte nicht aus, um das Geschehene zu verarbeiten.
Sie hörte Schritte hinter sich, und als sie sich umdrehte, war da ihr Vater – und hinter seinem verweinten, breiigen Gesicht, hinter seinem rasenden Blick sah sie das Unwesen. Kai hatte falsch gelegen – es hatte sich niemals in der Erde versteckt, sondern immer schon in der Seele ihres Vaters. Tief begraben hatte es dort gelauert, nur um jetzt, da sie es an einer ganz anderen Stelle gesucht hatten, zu erscheinen.
Das Unwesen trat auf sie zu, hob das Gewehr – und schluchzte. Und so war das letzte, das Evelyn hörte, das vertraute Weinen ihres Vaters.
Das Gesicht war verschwunden.
Das Kratzen war verstummt.
Zumindest für den Augenblick.
Längst hatte er die Kamera aus der Hand gelegt, doch von der Lampe wollte er sich nicht trennen – sie war seine einzige Waffe gegen die Dunkelheit. Und mit der Dunkelheit, dessen war er sich sicher, würde auch das Unwesen zurückkommen.
Etwas war schrecklich schief gegangen. Robert traute Kai zwar zu, ihm einen Streich zu spielen, doch Evelyn würde da niemals mitmachen – oder? Sie würde ihn notfalls allein ausgraben, und vielleicht musste er sich nur noch ein paar Minuten gedulden.
Vielleicht grub sie bereits, begleitet vom Gelächter ihres Bruders.
Er sah ihr Gesicht vor sich, ihr kastanienbraunes Haar, ihre grünen Augen – diese Eindrücke befreiten sein Herz von seiner Beklemmung, und er fühlte sich besser.
Ein paar Mal hatte er gerufen und mit den Fäusten gegen den Deckel geschlagen – doch die Geräusche waren bereits in der Truhe entsetzlich leise gewesen.
Nein, er musste nur warten. Nicht rufen. Er musste Luft sparen. Wenig atmen.
Doch sein keuchendes Schnaufen wollte sich nicht beruhigen.
Immer wieder versuchte er, seinen Körper zu verschieben, bequemer zu liegen.
Das Warten war schlimmer als alles andere. Er fragte sich, ob das Unwesen draußen lauerte und nur darauf wartete, bis das Licht ausfiel. Vermutlich war es so, denn das Unwesen war Licht nicht gewöhnt.
Wieder brüllte er.
Wieder schlug er um sich.
Wieder gab er es auf.
Nicht brüllen. Wenig atmen. Und warten.
Die Anspannung zerriss ihn beinahe.
Er sah das Messer auf seinem Bauch liegen. Vermutlich würde es gegen das Unwesen nichts helfen, doch er konnte – im schlimmsten, im allerschlimmsten Notfall, doch so weit würde es nicht kommen – sich selbst die Pulsadern aufschneiden, um dem Unwesen zu entkommen.
Wie lächerlich der Gedanke doch war.
Gleich würden sie bei ihm sein.
Er nahm das Messer in die freie Hand, hielt die Klinge an sein linkes Handgelenk, fuhr damit leicht auf und ab. Ja. Es würde gehen. Aber es war doch so abwegig.
Robert lauschte.
Hoffte.
Und wartete.