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Fidelios Reise
Bis zuletzt hatte Isabella nicht wahrhaben wollen, dass Fidelio sterben musste.
Natürlich war ihr nicht verborgen geblieben, dass sich ihr Pony verändert hatte. Es war in den letzten Wochen auffallend dünn geworden. So dünn, dass es beinahe zerbrechlich wirkte. Und anstatt wie früher über die Wiese zu galoppieren, lag es nun bloß noch in seinem Stall auf dem weichen Heulager und rührte sich kaum mehr.
„Du wirst eben alt”, sagte Isabella jeden Nachmittag, wenn sie Fidelio besuchen kam. „Alt und klapprig. Aber davon stirbt man doch nicht.”
Und das glaubte Isabella wirklich, obwohl sie es eigentlich besser wusste.
Sie glaubte so fest daran, dass sie nicht bemerkte, dass die Blicke des Tierarztes jedes Mal besorgter wurden, wenn er nach Fidelio sah. Und sie bemerkte auch nicht, dass er dem Pony schon seit einigen Tagen keine Medizin mehr einflösste, sondern einfach nur mit trauriger Miene durch dessen zerzauste Mähne strich.
„Wir müssen mit dir über Fidelio reden“, hatten erst kürzlich Isabellas Eltern zu ihr gesagt. „Da gibt es etwas, was du wissen musst.”
Aber Isabella hatte einfach nur den Kopf geschüttelt, sich ihre Finger in die Ohren gestopft und war laut singend aus dem Zimmer gestürmt. Es gab nichts, worüber sie reden wollte. Und nichts, was sie hätte wissen müssen.
Denn es ist viel leichter, an etwas zu glauben, wenn man nicht alles weiß.
Als Isabella an diesem Nachmittag Fidelio besuchen kam, war das Pony so schwach, dass kaum seinen Kopf heben konnte.
Seufzend ließ sich das Mädchen neben dem Tier zu Boden sinken und versuchte wie so oft, das dumpfe Drücken in ihrem Inneren mit einem Lächeln zu übertünchen.
„Mein Fidelio”, sagte Isabella leise. „Ach, mein lieber Fidelio.”
Und obgleich sie sich die allergrößte Mühe gab, fröhlich und zuversichtlich zu klingen, schien es ihr doch, als müsse ihr Herz vor Kummer gleich zerbersten.
„Es ist normal, dass du traurig bist”, sagte plötzlich eine raue Stimme hinter Isabellas Rücken. „Du musst dich für deine Tränen nicht schämen.”
Erschrocken fuhr Isabella herum. In der hintersten Ecke des Stalls saß ein Mann auf einigen aufeinander gestapelten Strohballen. Es dauerte eine Weile, bis Isabella in dem schummrigen Licht erkennen konnte, dass es der alte Söderblum war, der zu ihr gesprochen hatte. Ihr Herz schlug ein wenig schneller, denn ihre Eltern hatte ihr verboten, mit dem Alten zu sprechen. Er hauste mit seinen Katzen und Hunden in einem verwahrlosten Haus in der Nachbarschaft, und jedermann wusste, dass er ein bisschen sonderbar im Kopf war.
Der alte Söderblum richtete sich ungelenk auf und ging mit schlurfenden Schritten auf Fidelio zu. Dann ließ er sich ächzend neben Isabella und dem Pony ins Stroh sinken. Zuerst schreckte das Mädchen furchtsam zurück, doch als es sah, wie liebevoll der alte Mann mit seinen knochigen Fingern Fidelios Hals liebkoste, begriff es, dass es keine Angst zu haben brauchte. Eine Weile saßen sie einfach schweigend nebeneinander.
Dann räusperte sich der alte Söderblum plötzlich und blickte Isabella tief in die Augen.
„Fidelio stirbt”, erklärte er mit ruhiger Stimme, und so wie er die Worte aussprach, hätte man fast meinen können, dass dies ein Grund zur Freude sei.
Es dauerte einige Augenblicke, bis Isabella begriff, was der alte Söderblum zu ihr gesagt hatte.
„Nein!”, entgegnete sie bestimmt und wiederholte dann rasch, was sie immer sagte. „Fidelio ist nur alt. Ein wenig wacklig auf den Beinen vielleicht. Aber ... aber davon stirbt man nicht.”
Und sie funkelte den Alten zornig an, weil er so einen Unsinn verzapfte.
Der alte Söderblum griff zaghaft nach Isabellas Hand und drückte sie sacht. Zu Isabellas Überraschung fühlte sich die Berührung angenehm und tröstend an.
„Doch”, sagte er. „Doch! Gerade davon stirbt man.”
Und Fidelio, der bis dahin bloß reglos auf seinem Lager aus Stroh und Heu gelegen hatte, scharrte zustimmend mit den Hufen.
„Aber er darf nicht sterben”, antwortete Isabella verzweifelt. „Fidelio war immer schon da. Seitdem ich denken kann. Er kann mich doch nicht einfach so allein lassen. Das würde er niemals tun. Nicht wahr, Fidelio?“
Isabella sandte dem Pony einen flehenden Blick zu. Doch die erhoffte Unterstützung blieb aus. Kein fröhliches Wiehern war zu hören. Noch nicht einmal ein aufmunterndes Schnauben. Fidelio starrte das Mädchen bloß mit müden Augen an und atmete schwer.
Der alte Söderblum drückte Isabellas Hand noch ein wenig fester.
„Er muss dich sogar verlassen”, sagte er. „Fidelio ist so lange bei dir geblieben, wie es ihm gestattet war. Doch nun ist es höchste Zeit, dass du ihn ziehen lässt. Es gibt nichts, was sich Fidelio sehnlicher wünscht, als endlich seine Reise antreten zu dürfen.“
Isabellas Gesichtszüge wurden hart.
„Bedeute ich ihm so wenig?” erwiderte sie verstockt. „Ist es denn so schlimm bei mir, dass er unbedingt fort muss?“
Wütend ballte sie ihre Hände zu Fäusten.
„Meinetwegen kann mir Fidelio diesen ach so wunderbaren Ort zeigen, zu dem er unbedingt reisen will”, fuhr sie den alten Söderblum an und in ihren Augen funkelte es zornig. „Aber glaube nicht, dass er dort bleiben kann. Ich erlaube es nicht! Niemals würde ich das erlauben! Denn nirgendwo hat es Fidelio besser als bei mir!“
Und um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, verschränkte sie grollend ihre Arme vor der Brust und verzog ihren Mund zu einer beleidigten Schnute. Genauso, wie sie es schon viel Male bei den Erwachsen beobachtet hatte.
Just in diesem Moment spürte Isabella einen gewaltigen Windstoß, der mit einer solchen Wucht um sie herumfegte, dass ihr Haar auf dem Kopf zu tanzen begann.
So fest es konnte, klammerte sich das Mädchen an Fidelio, um sich vor dem plötzlichen Sturm zu schützen, denn es fürchtete, in die Luft gewirbelt und davongetragen zu werden.
Doch schon nach wenigen Augenblicken legte sich der Orkan wieder und verschwand eben so schnell wie er gekommen war.
„Wir sind am Ziel“, hörte Isabella den alten Söderblum sagen und bemerkte dann, dass sich das Rauschen und Pfeifen des Windes in eine fröhliche Melodie verwandelt hatte.
Verwirrt öffnete Isabella ihre Augen. Was sie nun zu sehen bekam, war so unglaublich, dass das Mädchen sicher war zu träumen.
Von dem dunklen Stall, in dem Isabella eben gerade noch gesessen hatte, war nichts mehr zu sehen. Stattdessen befand sie sich nun in einem riesigen Zirkuszelt. Auf den Tribünen saßen dicht gedrängt Männer, Frauen und Kinder. Es waren so viele, dass es Isabella unmöglich schien, sie alle zu zählen. Die meisten lachten oder flüsterten aufgeregt, manche klatschten laut und jubelten freudig, und wieder andere hatten vor Erstaunen und Verzückung die Hände vor ihre offenen Münder gepresst.
Zunächst war Isabellas Blick nur die unteren Reihen entlang gewandert, dann aber schaute sie langsam aufwärts und zu ihrer großen Verwunderung wollten die langen Sitzreihen gar kein Ende nehmen, sondern zogen sich Etage um Etage immer höher hinauf.
Ganz oben – dort wo das Publikum mit bloßem Augen kaum noch zu erkennen war – funkelten tausend und abertausend leuchtende Sterne, und nun endlich begriff Isabella, dass das Zirkuszelt gar kein Dach hatte und die Zuschauerränge bis weit in den Himmel hinein ragten.
Es dauerte eine Weile, bis Isabella ihren Blick von der Menschenmasse fortriss und sich dem Treiben in der Manege zuwandte. Die Arena war in silbernes Mondlicht getaucht und überall wirbelten verwegene Artisten und lustige Clowns.
Ein Harlekin ritt auf einem Esel durch das Rund und vollführte die komischsten Verrenkungen. Er war so spaßig anzusehen, dass einige Kindern, die in seiner Nähe saßen, sich vor Lachen den Bauch hielten und nach Luft schnappen mussten. Währenddessen vollführte ein wagemutiger Trapezkünstler halsbrecherische Kunststücke in schwindelerregender Höhe. Seine Darbietung war atemberaubend, und einige feine Damen pressten ihre Gesichter ängstlich in ihre Handtaschen, weil sie befürchteten, das gleich ein schreckliches Unglück passieren müsse. Doch der Akrobat beherrschte seine schwierige Darbietung meisterhaft, und als er seinen letzten Salto vollführt hatte und wieder sicher auf seiner Schaukel gelandet war, erhoben sich alle von ihren Plätzen und spendeten minutenlang donnernden Applaus.
Plötzlich aber spielte die Kapelle, die auf einer besonders hohen Empore Platz gefunden hatte, einen lauten Tusch und es wurde schlagartig still im Zelt.
„Jetzt kommt der Höhepunkt“, raunte eine vornehme Frau Isabella zu. „Eine Nummer, die noch nie zuvor zu sehen war. Eine Sensation, wie man sich erzählt.”
Sie hatte kaum ihren Satz beendet, als das Orchester auch schon ein Lied anstimmte, das gleichsam abgrundtief traurig und doch wunderschön war, so dass Isabella sich unmöglich entscheiden konnte, ob sie lieber weinen oder lachen wollte.
Zwei Pagen zogen mit geübten Handgriffen den großen Vorhang auf und ein Pferd tänzelte in die Manege.
Isabella stockte der Atem. Noch nie zuvor hatte sie ein derart vollkommenes Geschöpf gesehen. Der Tritt des Tieres war von einer solchen Leichtigkeit und Anmut, dass es wahrhaftig den Anschein hatte, als berührten seine Hufe kaum den Boden.
Sein Körperbau war so vollkommen, dass auch der kostbarste Araberhengst dagegen wie eine klapprige Schindmähre aussehen musste. Und selbst die teuersten Seidenstoffe hätten im Vergleich mit dem Fell des Pferdes wie eine Ansammlung billiger Lumpen gewirkt.
Auf dem Rücken des Tieres drehte ein Mädchen in einem roten Kleid elfengleich Pirouetten. Das Kind war so bezaubernd, dass viele Zuschauer verzückt in Tränen ausbrachen. Sogar stattliche Männer wischten sich verstohlen die Augen.
Doch obgleich Pferd und Reiterin schon für sich ein Schauspiel der Sonderklasse darstellten, wirkten sie zusammen erst recht wie ein wahres Weltwunder. Jeder ihrer Schritte war perfekt aufeinander abgestimmt. In ihrem Tanz verwoben sich ihre Bewegungen zu einem Ganzen, so dass es fast unmöglich wurde, beide auseinander zu halten, und Isabella beinahe schon überzeugt davon war, dass sie dort in der Arena bloß ein Wesen tanzen sah und nicht etwa zwei.
Isabella hätte dem Schauspiel noch stundenlang folgen können. Doch plötzlich stand der alte Söderblum neben ihr und legte ihr freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
„Das ist der Ort, den Fidelio dir zeigen wollte”, sagte der Alte. „Hier endet seine Reise.”
Jetzt erst bemerkte Isabella, dass Fidelio nicht mehr neben ihr lag. Erschrocken blickte sie sich um, denn sie fürchtete, dass ihr Pony sie endgültig verlassen hatte.
„Wo ist er?“, schrie Isabella den alten Söderblum an. „Wo ist mein Fidelio?“
Doch bevor dieser auch nur ein Wort erwidern konnte, las sie die Antwort bereits in seinem Gesicht.
Ungläubig starrte Isabella auf das vollkommene Pferd, das in der Arena so wundervoll tanzte.
„Fidelio!“, hauchte sie. „Aber das ist unmöglich!”
Und doch gab es keinen Zweifel. Es war Fidelio. Jetzt, da ihr die Augen geöffnet worden waren, erkannte sie ihr Pony klar und deutlich.
Mit einem Mal verspürte Isabella einen garstigen Stich in ihrem Herzen.
Kein Wunder, dass Fidelio unbedingt fort von ihr wollte. Wer würde nicht die Gesellschaft dieser bezaubernden Tänzerin der ihren vorziehen? Was konnte sie schon gegen eine solche Fee ausrichten?
„Wer ist dieses Mädchen, das mir Fidelio wegnehmen will?”, fragte Isabella den alten Söderblum mit zittriger Stimme. Und als sie so sprach, blickte die Tänzerin plötzlich auf und winkte ihr fröhlich zu.
Ohne nachzudenken winkte Isabella zurück.
„Wer ist dieses Mädchen?“, fragte sie noch einmal.
Doch der alte Söderblum antwortete nicht, sondern lächelte nur. Und wieder war es etwas in seinem Blick, dass Isabella die Wahrheit erkennen ließ.
Eine unglaubliche Wahrheit.
Und Isabella verstand.
Sie verstand, dass es niemand anderer als sie selbst war, der mit Fidelio tanzte.
Plötzlich erfasste sie wieder der Windstoß, der sie vom Stall in das Zirkuszelt getragen hatte. Und auf einmal fand sich Isabella inmitten der Arena auf Fidelios Rücken wieder und schaute in die begeisterten Gesichter der Zuschauer. Die feine Dame, die mit Isabella gesprochen hatte, warf ihr eifrig Kusshände zu, und jedes Mal, wenn sie ihre Küsse in die Luft warf, verwandelten sich diese in einen prächtigen Blumenstrauß.
Neben der vornehmen Frau stand der alte Söderblum und lächelte Isabella zu. Doch am erstaunlichsten war, das Isabella sich selbst erblickte, denn obwohl sie zweifelsohne auf Fidelio ritt, befand sie sich zur gleichen Zeit beim alten Söderblum und winkte sich selber zu.
Während sie all das beobachtete, drehte Isabella weiter ihre anmutigen Pirouetten auf Fidelios Rücken, und auch das Pony drehte sich schneller und schneller um die eigene Achse. Einen Moment noch tanzten sie weiter auf dem staubigen Boden, doch dann hielt sie nicht mehr am Grund und sie begannen tatsächlich zu schweben. Je schneller sie sich drehten, desto höher flogen sie, vorbei an den jubelnden Zuschauern und dem Orchester, und bald schon hatten sie den Mond und die Sterne erreicht.
Isabella spürte, wie der schreckliche Kummer, der so lange Zeit auf ihrer Seele gedrückt hatte, urplötzlich zu Staub zerfiel und von einer ungeahnten Leichtigkeit hinfort getragen wurde.
Voller Liebe blickte das Mädchen auf ihr herrliches Pferd und erinnerte sich dann an den kranken Fidelio in seinem Stall.
Und nun begriff Isabella, dass Fidelio wirklich hatte gehen müssen. Und sie schämte sich ein wenig, dass sie ihn daran hatte hindern wollen.
Noch ein Mal vollführte Isabella einen gewagten Sprung auf dem Rücken des Ponys. Dann breitete sie ihre Arme aus und umschlang Fidelios Hals.
„Lebe wohl!“ flüsterte sie ihm ins Ohr. „Lebe wohl, mein lieber Fidelio.”
Kaum hatte das letzte Wort Isabellas Lippen verlassen, erscholl von den Zuschauerrängen ein unbeschreiblicher Jubel hinauf.
Und als der Applaus am lautesten war und es so schien, als wolle er nie wieder ein Ende nehmen, da vergrub Isabella ihr Gesicht in Fidelios warmen Fell und weinte so bitterlich, wie sie noch nie zuvor geweint hatte.
Fidelio wieherte tröstend, und dann wurde es still um Isabella.
Als Isabella sich endlich wieder von Fidelio löste, war das Zirkuszelt verschwunden, und sie waren wieder in dem alten Stall.
Das Pony lag regungslos mit geöffneten Augen im Stroh, tot und kalt.
„Du musst dich für deine Tränen nicht schämen”, sagte der alte Söderblum, ganz so, wie er es vor kurzem schon einmal zu ihr gesagt hatte.
„Das tue ich nicht”, sagte Isabella. Und dann weinte sie, bis sie das Gefühl hatte auch die letzte Träne aus sich herausgedrückt zu haben.
Später am Tag wunderten sich Isabellas Eltern darüber, dass ihre Tochter den Tod ihres Ponys so tapfer ertrug.
„Es ist besser so”, sagte Isabella. „Fidelio ist glücklich dort, wo er jetzt ist.”
Und sie wusste, dass das stimmte, auch wenn sie ihr Pony furchtbar vermisste.
„Es ist erstaunlich“, sagte ihr Vater.
„Ein wirkliches Wunder”, entgegnete die Mutter.
Und beide freuten sich, dass sie eine so verständige Tochter hatten.
Doch niemand – wirklich niemand, außer dem alten Söderblum natürlich, – konnte sich erklären, warum Isabella leise eine versponnene Zirkusmelodie summte, als sie ein letztes Mal in den Stall ging, um ihrem geliebten Fidelio Lebewohl zu sagen.