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- 12.06.2020
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Fiat Nox
Leo träumte seit seiner Operation von Gemälden. Er hatte viele Museen besucht und Jean-Pierre, sein Betreuer, hatte ihm erklärt, was er sieht. Seit der Hornhauttransplantation konnte er diese Kunstwerke nun endlich selbst sehen. Jean-Pierre hatte ihn nach seiner OP mit Folianten versorgt. Sortiert nach Epoche und Kunstrichtung standen sie auf einem Regal neben seinem Bett. Unter dem Gewicht der überdimensionalen Buchbände beschrieb das Holzbrett des Regals einen bedenklich durchhängenden Bogen.
Er hatte mit den Alten Meistern begonnen. Zuerst konnte er sie nur in kleinen Portionen ertragen, bevor seine Augen anfingen zu tränen und die Pinselstriche verschwommen. Schließlich waren seine Sehnerven die ersten 32 Jahre seines Lebens nicht trainiert worden. Allmählich steigerte er sein tägliches Pensum und innerhalb einer Woche hatte er alle Werke von Raffael, Dürer, Rembrandt, Canaletto usw. betrachtet, studiert und eingeprägt (für den Fall, dass sein Augenlicht wieder erlosch). Caspar David Friedrich war sein derzeitiger Favorit. Nebel über Meer, Gebirge, Wäldern und Schnee. Balsam für seine empfindlichen Augen. In dieser Nacht war Leo wieder einmal "Der Wanderer über dem Nebelmeer". Dieser Traum war ein gern gesehener Freund. Er kehrte in vielen einsamen Nächten wieder, spendete Trost und verließ Leo mit dem warmen Abdruck einer rustikalen Umarmung.
Alles war wie gehabt: der Wanderer mit dem Gehstock, die Sonne auf seiner Haut, der blaue Himmel über seinem Kopf, das weiße Meer zu seinen Füßen. Während er auf seinem Felsen stand, bewegte sich die Landschaft an ihm vorbei. Gipfel, die aus dem Nebel ragten, trieben an seinem steinernen Schiff vorbei. Sonst machte sich Leo nie Sorgen, dass diese Schollen seinen Felsen zum Kentern bringen würden, doch heute wirkte der Nebel dunkler, bedrohlicher. Etwas lauerte unter den Wolken. Schatten formierten sich, huschten umher und stoben wieder auseinander. Manchmal war dieser Leviathan, dieses mythische, riesige Seeungeheuer ganz dicht unter der Wolkendecke und Leo wollte flüchten. Doch der Wanderer rührte sich nicht. Gelegentlich hob dieser seinen Stock ein paar Zentimeter, um ihn gleich wieder entschlossen auf den Felsen zu stoßen. Der Wanderer wollte sich nicht von seinem Aussichtspunkt vertreiben lassen und jeder Schlag mit seinem Stock sagte: "Hier stehe ich, such dir deinen eigenen Felsen." Schließlich hatte er diesen Berg mühsam erklommen und war gekommen, um zu bleiben.
Leo erwachte aus seinem Traum. Er schwitzte und bevor sein Verstand begreifen konnte, schlugen seine Instinkte Alarm.
Hallo Dunkelheit, mein alter Freund.
Träumte er noch? Hatte er das Sehen nur geträumt? Irgendetwas stimmte hier nicht. Seine Gedanken waren klar, sein Tastsinn nicht entkoppelt und sein Körper bewegte sich nicht wie unter Wasser. Er war eindeutig wach und trotzdem war es dunkel. Kein Licht, obwohl im Krankenhaus immer Licht brannte. Durch das Fenster in der Tür war Privatsphäre Illusion, dafür gab es aber immer ausreichend Licht, um seiner wiederhergestellten Sehfähigkeit nur dann eine Pause zu gönnen, wenn er die Augen schloss. Er blinzelte ein paar Mal, aber die Erhebungen der Nähte waren mit seinen Augenlidern eindeutig spürbar, wenn sie auf und zu klappten. In diesem Augenblick hörte er Schreie. Keine der in Krankenhäusern üblichen Schmerzensschreie, sondern Schreie der Angst, hysterisch, verzweifelt. Kalte und warme Schauer krochen über Leos Haut, als ihm bewusst wurde, woher diese Schreie kamen.
Von seinen Spaziergängen durch die Station wusste er, wem die Zimmer in seiner Nachbarschaft gehörten. Links eine ältere Frau, die sich von ihrer Hüftoperation erholte. Sie erinnerte ihn an seine Großmutter. Er hatte Bilder von ihren Enkeln gesehen und jeden Namen innerhalb von Sekunden vergessen, als Martha (zumindest glaubte Leo, dass sie so hieß) voller Stolz von ihnen erzählt hatte. Rechts ein junger Mann, der mit seinem Geburtstagsgeschenk einen Unfall gebaut hatte. So zertrümmert wie der Rahmen seines Motorrads, waren auch Arme und Beine. Den Gang hinunter war ein rücksichtsloser Rollstuhlfahrer, eine Frau im Koma, ein Teenager ohne Blinddarm und weitere ans Bett gefesselte Menschen. Mit Ray von Gegenüber hatte er sich des Öfteren in der Cafeteria getroffen. Ray spendete seiner Nichte eine Niere. Leo mochte ihn. Dass er einem kleinen Mädchen das Leben rettete, machte ihn in Leos Augen zu einem Helden und außerdem kannte er den neuesten Krankenhaustratsch. Er wusste, welche Schwester ein Verhältnis mit dem Oberarzt hatte und warum das Mädchen mit dem Piercingsalat im Gesicht wirklich im Krankenhaus lag (von wegen gegen die Kühlschranktür gelaufen).
Jetzt strapazierten sie unisono ihre Stimmbänder. Jeder Schrei erschütterte ihn wie ein peitschender Knall aus einem Gewehr. Er hörte aber nicht nur einen einzelnen Schützen, der in blutiger Raserei sein Magazin verschoss, sondern einen ganzen Jägerverein. Die Salven drangen aus den Patientenzimmern und vom Flur - und beunruhigenderweise auch von draußen.
Der Drang, irgendjemanden zu Hilfe zu eilen, verlor gegen Angst, Entsetzen und den natürlichen Selbsterhaltungstrieb. Er hörte, was da vor sich ging. Dort draußen lauerte Schrödingers Katze. Solange er seinen Kopf nicht durch diese Tür steckte, war die Katze weder tot noch lebendig. Die Beobachtung würde die bequeme Ungewissheit zunichte machen, welche ganz selbstverständlich davon ausging, dass die Katze noch putzmunter war, denn wir hatten sie ja erst neulich quietschfidel durch die Flure streunen gesehen.
Die Angst lastete wie kaltes Blei auf seinen Extremitäten und drohte zusätzlich seine Atemwege abzuschnüren. Er wollte sich fast schon Ohrfeigen, um aus dieser Starre zu erwachen, als er plötzlich einen Tonartwechsel der Kakophonie des Grauens wahrnahm. Vom unartikulierten Kreischen war der Lärm in verstörende Rufe übergegangen. Leo verstand die Worte nicht, denn nach der Ouvertüre des imaginären Jägerchors stimmte nun das Orchester ein. Ein Poltern von großen und kleinen Gegenständen. Von draußen gesellten sich Erschütterungen, quietschende Bremsen, kreischendes Metall und Explosionen.
Das Fenster. Inmitten dieser Achterbahnfahrt der Angst überkam Leo euphorische Erleichterung. Das Fenster wurde lediglich von einem Rollo verdunkelt. Ein fahler Rahmen aus Licht sagte ihm, dass er noch sehen konnte. Er beschloss, aus dem Fenster zu sehen. Dort könnte er einen objektiven Eindruck der Lage erhalten. Außerhalb der Krankenhausmauern war eine andere Welt. Eine Welt, die er noch nie zuvor sehend betreten hatte. Er würde niemanden sehen, den er kannte bzw. wiedererkennen würde. Diese Distanz des unbeteiligten Beobachters redete er sich solange ein, bis er genug Mut gefasst hatte, seine Beine aus dem Bett zu hieven. Der kalte Fußboden sorgte für eine willkommene Ablenkung. Leo bewegte sich in Zeitlupe auf das Fenster zu. Soweit er sich richtig erinnerte, war der Weg frei.
Sein rechter Fuß stieß unsanft gegen ein vergessenes Hindernis.
Leo verfluchte den verschreckt wegrollenden Beistelltisch und stapfte mit ausgestreckten Armen auf das Fenster zu. Seine Hand fand die Kordel und zog Zentimeter für Zentimeter das Rollo nach oben. Ein Geräusch auf dem Gang ließ ihn herumfahren. Das Licht im Flur war wieder angegangen. Es war zwar nicht dasselbe kalte Licht von gestern, sondern eher seine kleine rötliche Schwester, aber immerhin ein bisschen Licht. Ein bisschen Hoffnung inmitten der Rufe der Verdammten, welche Leo bis gerade eben zum Hintergrundrauschen dezimiert hatte. Jetzt hatte sein Gehör wieder oberste Priorität. Hatte er sich das scharrende Geräusch an der Tür nur eingebildet? Er lauschte, hörte aber nichts außer seinen Herzschlag. Dieser machte unvermittelt einen Aussetzer, als ein Schemen vor der Tür vorbei huschte. Der Schatten fabrizierte dabei wieder jenes Geräusch, das Leo schon vorhin erschrocken hatte. Das schleifende Geräusch entfernte sich und Leo war einfach froh, dass es wieder weg war. Er wartete noch ein paar Sekunden, aber weder Geräusch, noch Schatten kamen zurück. Irgendwo im Krankenhaus weinte jemand. Irgendwo rief jemand um Hilfe. Irgendwo schlug jemand gegen eine Wand. Das alles ließ sich mehr oder weniger ausblenden und er wagte endlich einen Blick aus dem Fenster.
Das unbezwingbare Ungeheuer hob sein Haupt aus dem Nebelmeer. Überall Fackeln und Funken.
Vor Leos Augen war eine schwarze Leinwand gespannt. Oben hatte jemand mit einer Nadel Tausende Löcher hinein gestochen. Durch diese leuchtete das Licht aus dem Rand des Universums. In der Mitte kam eine lange Zeit nichts. Erst weiter unten zierten Feuerschein und vereinzelte Scheinwerferkegel das dunkle Bild. Hinter dem Rasen des Krankenhauses verlief eine Straße. Mitten auf der Straße brannte ein Lagerfeuer mit mehreren Autos statt Holzscheiten. Das unstete Licht fiel auf umherirrende Gestalten. Für einen Augenblick hatte Leo das belustigende Gefühl, dass die Welt ihm einen Streich spielte. Dort unten lief ein Dutzend blinder Menschen umher. Ihr torkelnder Schritt und die ausgestreckten Armen identifizierten sie eindeutig. Wo kamen diese Menschen denn auf einmal her. War es Zufall, dass sie alle blind waren? Kurz zog Leo in Erwägung, dass sich jemand über ihn lustig machte, aber das war alles andere als ein Scherz. Es war ihm immer unangenehm, wenn sehende Menschen ihn bemitleideten. Sie machten ihn darauf aufmerksam, dass er ja gar nicht ins Kino gehen konnte. Kein Fernsehen oder solche abwegigen Dinge, wie lesen, die Natur bestaunen oder Sterne zählen. Dieses selbstgerechte Mitleid überkam ihn beinahe selbst, aber sein Verstand setzte allmählich ein. Der Stromausfall, die Schreie, die Explosionen, die anderen verdrängten Geräusche und die blinden Menschen dort unten. Da musste es einen Zusammenhang geben.
Ein Tentakel des Schreckens schlug die Zimmertür auf. Leo hätte beinahe seine Schlafanzughose wechseln müssen. Sein Puls raste und er wagte nicht zu atmen. Seine Augen hatten Mühe den von hinten erleuchteten Schatten zu fokussieren. Der Schatten keuchte und stützte sich am Türrahmen ab.
"Leo? Kumpel, bist du hier?", sagte der Schatten und Leo erinnerte die gehetzte Stimme an Ray.
"Ray?"
"Ja, Mann. Wer denn sonst?"
Leo wollte ihm keine Antwort geben. Wer weiß, was sich alles in seiner Vorstellung materialisiert hätte.
"Was zum Teufel geht hier vor sich? Hast du auch diese Schreie gehört?"
"Is mir ein bisschen peinlich, aber ich hab mitgeschrien."
Im dunklen Zimmer konnte Ray unmöglich Leos fragenden Blick sehen, aber er fuhr dennoch fort:
"Hab gerade friedlich geschlafen, als plötzlich jemand ne Bohrmaschine in meine Augen geschoben hat."
"Wie bitte?" Leo ging langsam auf ihn zu. Seine Augen hatten sich etwas an die Lichtverhältnisse gewöhnt. In Rays Gesicht suchte er nach Spuren der von ihn beschriebenen Untat, aber da waren lediglich ein paar Kratzer an Schläfen und Wangen.
"Hab vermutlich geschrien, wie ein kleines Mädchen, aber ich war auf jeden Fall nicht der Einzige. Is bei dir alles in Ordnung?"
"Ja, bei mir ist alles Okay. Ray, deine Augen sind doch in Ordnung, oder?
"Mehr oder weniger. Ich hab sofort meine Wurstfinger auf meine Augen gepresst, aber der Schmerz war wohl nur eingebildet. Türlich war da keine Bohrmaschine, aber das Ergebnis is ungefähr dasselbe. Ich bin blind, verdammt noch mal."
Eine weitere Explosion vor dem Krankenhaus erleuchtete das Zimmer. Ray zitterte. Seine leeren Augen starrten ins Nirgendwo. Die Kratzer waren tief, aber nicht so tief, dass sie das ganze Blut an Rays Händen erklären würden.
"Hast du dich verletzt?"
"Nö, wieso?"
"Deine Hände, da ist überall Blut."
Ray hob seine Hände vor sein Gesicht und betrachtete die Schweinerei mit seinen nutzlosen Augen.
"Das ist Blut? Hab mich schon gewundert. Die Wände draußen im Flur sind voll davon."
Leos Magen krampfte. Die Katze war tot. Immerhin lebte Ray noch. Von wem das ganze Blut war, wollte er nicht wissen. Leo wollte nichts davon sehen, wieder unter seine Bettdecke kriechen und von Gemälden träumen.
"Wir müssen Hilfe holen", sagte Ray.
"Ich schau mal, ob das Telefon funktioniert."
Bis auf das Freizeichen funktionierte es einwandfrei.
"Shit."
"Hab in meinem Zimmer auch versucht den Notruf oder das Schwesternzimmer zu erreichen. Nichts. Wir müssen rausfinden, was hier passiert ist. Komm Leo, du musst mich in die richtige Richtung schubsen."
"Ich kann nicht, ich will da nicht raus!"
"Beruhige dich, Alter. Ich pass auf dich auf, aber wir müssen hier raus. Da draußen haben ne ganze Menge Leute um Hilfe gerufen. Wir müssen einen Arzt finden und ich allein würd nur im Dunklen tappen."
Ray lächelte und es steckte an. Er wollte auf ihn aufpassen. Alter Angeber. Allerdings war sich Leo nicht sicher, ob sie einen Arzt finden würden, der in der Lage wäre zu helfen. Er dachte an die Vorhölle hinter dem Fenster und jetzt wollten sie 8 Kreise auslassen, um sich mitten in den neunten Kreis der Hölle zu stürzen.
Ray schnappte sich Leos Ärmel und zog ihn mit auf den Flur. Das Licht der Notfallbeleuchtung, rote Spuren auf Boden und Wand, verstreute Krankenhauseinrichtung und Glasscherben schmückten Leos Albtraum. Blei legte sich wieder über seinen Körper und sein Willen gegen die Panik anzukämpfen strebte stetig Richtung Null.
"Wenn du nich willst, dass ich dir mit meiner blutigen Hand eine blinde Ohrfeige verpasse, dann reiß dich zusammen. Also, wo sammelt man sich im Notfall in einem Krankenhaus? Eingangshalle oder Cafeteria?"
"Eingangshalle, aber wir kommen ohnehin an der Cafeteria vorbei."
Leo horchte ins Ungewisse. Klagen und Stöhnen aus beiden Richtungen. Sie mussten sich rechts halten. Langsam gingen sie los, um gleich wieder stehen zu bleiben. Das Zimmer mit dem Jungen war leer. Leo rief sich seinen Nachbarn ins Gedächtnis und wusste, dass der Motorradunfall zu gravierend gewesen war, als dass dieser Trottel vor dem nächsten Monat sein Bett aus eigener Kraft hätte verlassen können. Bevor Ray unruhig wurde, setzten sie sich wieder in Bewegung. Am Ende würde sein furchtloser Held noch vorschlagen nachzusehen.
Furchtlos. Das war Leo auch einmal. Er war blind und konnte nicht alle Gefahren im Voraus erkennen. Aber die Welt bestand nicht nur aus Fallen. Er bewegte sich immer so selbstsicher, wie er annahm, dass sich auch sehende Menschen bewegen würden. Er kannte sein Umfeld, jede Erhebung, die meisten Hindernisse und alle Abkürzungen. Das Schlimmste, das ihm schon passieren konnte, waren blaue Flecken, maximal ein gebrochenes Bein, wenn er stolperte, fiel oder sich an irgendetwas stieß. Das war noch lange kein Grund für ihn gewesen, um verzagt durch Leben zu gehen. Diese Kühnheit war ihm abhanden gekommen. Die mögliche Gefahr und jedes Risiko optisch wahrzunehmen, machte es für Leo bei Weitem bedrohlicher, als wenn er gar nicht von dessen Existenz gewusst hätte oder es nur eine vage Vermutung geblieben wäre. Die Gewissheit machte es unerträglich.
Sie kamen am nächsten Zimmer vorbei. Diese Tür war geschlossen und durch das Fenster sah Leo die Komapatientin. Sie schlief seelenruhig. Leo beneidete sie. Die nächste Tür stand wieder offen und ein leises Wimmern war zu hören.
"Hallo? Jemand hier?", rief Ray ins Zimmer und Leo zuckte zusammen. Er schaute sich um. Niemand zu sehen, aber sie mussten ja nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen.
"Komm schon, Leo. Wir müssen nachsehen, ob alles in Ordnung is."
Er wusste, dass Ray recht hatte, also gab er sich einen Ruck und spähte ins Zimmer. Hier war keiner. Das wollte er auch gerade Ray mitteilen und den Rückzug antreten, als ein Schluchzen seine Hoffnung platzen ließ.
"Hey, alles in Ordnung?"
Hinter dem Bett saß ein Mädchen auf dem Fußboden. Brünette, vielleicht 16 Jahre alt, weinend, kein Blinddarm und ein gebrochenes Bein.
"Nein, ich kann nichts sehen."
"Geht mir genauso, aber mein Kumpel hier sieht für mich. Wir suchen nen Arzt. Brauchst du Hilfe?"
"Dein Bein sieht echt übel aus", warf Leo ein und erntete einen verächtlichen Blick von dem Mädchen. Er selbst glaubte diesen Blick oft in Richtung ignoranter Mitmenschen geworfen zu haben, wenn sie ihn mit nutzlosen Kommentaren bedachten. Blind, aber nicht bescheuert. Leo hätte sich ohrfeigen können, aber das Mädchen fuhr gnädigerweise ohne Entschuldigung fort:
"Als die Schmerzen nachgelassen hatten, wollte ich raus auf den Gang, um eine Schwester zu suchen. Bin kaum aus der Tür raus, als mich irgendetwas umgenietet hat. Mein Schienenbein ist hin und es klang so als wäre irgendetwas weggefahren. Keine Ahnung was das war, vielleicht ein Transportliege."
Oder ein Rollstuhl, dachte Leo.
"Siehst du hier irgendwo nen Rollstuhl", fragte Ray.
"Nein, aber vielleicht finden wir einen im Nachbarzimmer oder auf dem Gang. Du rührst dich am besten nicht vom Fleck. OK?"
"He Kleine, weißte was? Ich bleib einfach solange hier, während mein Kumpel Leo schnell mal nachschaut, ob er hier irgendwo nen Rollstuhl findet. Ich heiße übrigens Ray. Und du?"
"Linette. Wäre klasse, wenn du hier bleibst, Ray."
"Kein Ding, Linette."
Toll. Leo war nicht wirklich begeistert. Jetzt musste er alleine losmarschieren. Ray hockte sich aufs Bett und machte mit Linette Small Talk. Das trübe Licht auf dem Gang würde Leo noch in den Wahnsinn treiben. Entweder ganz oder gar nicht. Dieses Halblicht beflügelte seine Fantasie und der Leviathan gewann wieder an Kraft. Keine 5 Schritte weiter und er tauchte wieder aus dem Nebelmeer.
Eine Kreuzung gab den Blick auf einen Quergang frei und Leo gefror das Blut in den Adern. Zombies. Wankende, Blut überströmte Untote. Ein älterer Mann torkelte direkt auf ihn zu. Infusionsschläuche hingen an seinen Armen und ein riesiger roter Fleck prangte auf seinem Hosenbein. Leo schnappte nach Luft und rannte, so schnell es auf dem glitschigen Flur möglich war, weg. Er hielt im Laufen Ausschau nach einem Rollstuhl, sah aber lediglich weitere Jammergestalten. So viele Hilferufe. Jeder weitere, den er ignorierte, verstärkte sein schlechtes Gewissen, aber was sollte er allein schon ausrichten können. Er brauchte Ärzte, am besten voll funktionstüchtige Ärzte. Die Cafeteria war hoffentlich eine kleine Parallelwelt, in welcher das Licht funktionierte und die Ärzte in ausgelassener Stimmung einen Cappuccino mit ihren Kollegen schlürften.
Die Tür zur Cafeteria öffnete sich sonst automatisch, aber der Notstromgenerator belieferte wahrscheinlich wichtigere Systeme, als die Cafeteriatüren. Leo drückte die Türen auseinander und betrat tatsächlich eine Parallelwelt. Die schwarze Hand der dunklen Vorahnung, dass hier irgendetwas nicht stimmte, griff sich Leos Eingeweide. Zwei glühende Augen, blendende Sterne, rote Quasare. Leo musste seine Augen abwenden. Langsam blinzelte er zurück in die Richtung, aus welcher ihn der Leviathan anstarrte. Die zwei Magnesiumfackeln gaben ein zischendes Geräusch von sich, während eine hinkende Gestalt mit ausgestreckten Armen auf Leo zu ging.
"Du kannst sehen, oder?"
Irgendetwas sagte Leo, dass Trottel vom Dienst, weder hier sein, noch wissen dürfte, dass er sehen kann. Seine Arme und Beine hingen in Resten von Gips und seine Augen schauten teilnahmslos in die falsche Richtung. Der Motorradunfall hatte seinen Körper schwer gezeichnet und wer wusste, wie es um seinen Verstand bestellt war. Das flackernde Licht der Fackeln ließ schaurige Schatten über sein Gesicht tanzen.
"Sie haben mir gesagt, dass du kommen würdest."
Und das beantwortete die Frage nach seinem Geisteszustand.
"Ich will dein Licht, Leo."
Alles klar. Eindeutig durchgeknallt und definitiv keine Gesellschaft für den unbedarften Protagonisten seines eigenen schlimmsten Alptraums. Leo wollte hier raus und das so schnell wie möglich. Er stolperte rückwärts über Stühle und Geschirr, denn lieber holte er sich ein paar blaue Flecken, als diesen Trottel nur eine Sekunde aus den Augen zu verlieren.
Hektisch schub Leo die Türen zur Cafeteria zu. Womit sollte er den Ausgang verbarrikadieren? Da es sich um Schiebetüren handelte, konnte er ja wohl kaum einen Stuhl unter die Klinke klemmen. Sein Blick fiel auf eine Kaffeeautomaten rechts vom Eingang. Schieben ließ der sich nicht, aber die nächste Wand war so nah, dass Leo sich mit den Füßen dagegen stemmen konnte. Der Automat kippte um und kam ziemlich genau vor dem Eingang der Cafeteria zum liegen. Für den Moment musste es reichen.
Mit den Händen auf seine Oberschenkel gestützt versuchte Leo zur Ruhe zu kommen. Einem tiefsitzenden Impuls folgend wollte er gerade das Knöpfchen zur Ansage der Zeit an seiner Armbanduhr drücken, aber dann erinnerte er sich, dass er ja sehen konnte. Noch vier Stunden bis Sonnenaufgang. Vermutlich waren außer ein paar Schwestern und einigen Bereitschaftsärzten sowieso niemand im Haus. Sie brauchten Hilfe, vielleicht den Katastrophenschutz oder die Armee. All diese kranken und verletzten Menschen würden verbluten oder sterben, so ganz auf sich allein gestellt. Er betete, dass das alles nur ein lokales Phänomen war, denn sonst saßen sie wirklich in der Tinte.
Auf seinem Weg zum Ausgang nahm er die Treppen, denn selbst wenn die Fahrstühle funktionierten, würde er ihnen nicht trauen. Auf dem ersten Treppenabsatz musste er über die Leiche des rücksichtslosen Rollstuhlfahrers steigen. Verrückter, dummer Mann. Blind und fährt trotzdem wie ein besengter mit seinem Rollstuhl. Wer weiß, was ihn geritten und ob er wirklich Linette umgefahren hat. Auf jeden Fall war sein gebrochenes Genick endgültig und würde ihm vielleicht noch andere Albträume ersparen.
In der Eingangshalle waren tatsächlich ein paar Krankenschwestern und ein Arzt. Als Leo näher trat, wurde ihm bewusst, dass die Schwestern und der Arzt ihre Patienten abtasteten.
Leo räusperte sich. Der Arzt drehte sich um und blickte ungefähr in Leos Richtung.
"Wer sind sie?"
"Ich bin auch nur ein Patient, aber bei mir ist alles in Ordnung."
"Können sie sehen?"
"Ja." Leo schluckte. "Kann hier denn niemand sonst sehen?"
"Doch. Diese Frau dort hinten."
Eine mindestens 90 Jahre alte Frau half einer Krankenschwester, die einen Jungen auf einer Liege versorgte.
"Ich könnte ihre Hilfe gebrauchen", sagte Leo, aber im selben Augenblick wurde ihm bewusst wie egoistisch das klingen musste. Der Arzt bedachte ihn mit einem resignierten Blick.
"Vielleicht könnten sie mir auch etwas zur Hand gehen. Ich werde dieser Patientin in die Augen leuchten und sie passen auf die Reaktion der Pupillen auf, in Ordnung."
Leo tat wie ihm geheißen, musste dem Arzt aber erklären, dass die Augen dieser Frau absolut keine Reaktion auf das einfallende Licht zeigten. Der Arzt wiederholte das Schwenken der Taschenlampe vor seinen eigenen Augen, doch diese blieben gleichermaßen untätig. Die nächste Stunde verbrachte Leo als stellvertretendes Augenpaar des Dr. Almond. Nachdem sie die gröbsten Notfälle in der Eingangshalle versorgt hatten, ließen sie die kleine, blinde Herde unter der Leitung der Krankenschwester mit Fran, der 87 jährigen Frau allein. Sie arbeiten sich durch die Flure, betäubten die panischen und versorgten die verletzten Patienten. Zu ihrer Überraschung fanden sie weitere sehende Rentner. Trotzdem war Dr. Almond so ratlos wie Leo. Richard, ein rüstiger, pensionierter Anwalt, begleitete den Arzt, nachdem sie Linette versorgt hatten. Ray wollte unbedingt nach draußen, um sich einen Überblick zu verschaffen.
"Hat man dich jetzt zum Assistenzarzt befördert?"
"Glaub mir, Ray, ich hab heut Sachen gesehen, auf die ich gern verzichtet hätte."
"Heißt das, du wärst auch lieber blind?"
Sie waren vor dem Krankenhauseingang stehengeblieben und ein paar Büsche verdeckten Leos Blick auf den Rest Welt hinter der Auffahrt.
"Im Gegenteil. Mir ist bewusst geworden, dass herum jammern und der Vergangenheit nachzutrauern nichts hilft. Es gab ein paar Momente, wo dieser makabere Scherz mir echt auf die Nerven ging. Erst hat alle Welt auf mich Rücksicht genommen, weil ich blind war und es hat mich angekotzt. Jetzt ist alle Welt blind und niemand nimmt mehr Rücksicht auf mich."
"Ein bisschen Selbstmitleid is schon OK."
"Keine Ahnung, aber wenn die ganze Sache hier draußen genauso schlimm ist, wie im Krankenhaus, dann hab ich gefälligst meine Klappe zu halten und anzufangen so ein Held wie du zu sein."
Ray gab ein vergnügtes Grunzen von sich.
"Du erinnerst dich aber noch dunkel, dass dein "Held" genauso laut geschrien hat, wie der ganze verängstigte Rest."
"Das meine ich ja auch nicht. Ich wäre aber jetzt noch in meinem Zimmer und würde mich vor Angst unter meiner Decke verstecken. Du dagegen bist losgezogen und hast dich um andere gekümmert, obwohl du gerade dein Augenlicht verloren hast."
"Dafür renn ich aber auch regelmäßig in irgendwelchen Schlamassel. Hättest mir ruhig mal sagen können, dass Linette nich so volljährig aussieht, wie sie klingt."
Leo musste lachen, zum ersten Mal, seit Jahren, wie es ihm vorkam.
"Ihr habt doch nicht etwa...?"
"Sei nich albern. Wir haben geredet und vielleicht ein bisschen geflirtet. Dann fragt sie mich ganz beiläufig, wie alt ich eigentlich bin. Mach mir noch Sorgen, dass ich mich wie ein Schuljunge aufgeführt oder schlimmer noch, so geklungen habe. Als ich sie dann höflich nach ihrem Alter gefragt habe, meinte sie, dass sie im Dezember 20 wird. Hör auf zu lachen, Leo. Ich bin doppelt so alt wie sie, verdammte Kacke."
In der Zeit die Leo brauchte, um sich wieder zu beruhigen, kam ihm ein überraschender Gedanke.
"Glaub mir, Ray, diese ganze Katastrophe hat auch etwas Positives. Wenn alle Welt nichts mehr sieht, dann interessiert euer Altersunterschied auch niemanden."
Er wurde ziemlich treffsicher von Ray in die Seite geboxt und so standen sie beide noch eine Weile auf ihrem eigen kleinen Felsen. Es war zwar nur die Krankenhausauffahrt, aber ihre Blicke schweiften in die Zukunft. Die Nebelschwaden der Angst und Ungewissheit hatten sie vorerst zu ihren Füßen zurückgelassen und ohne weiteres würden sie sich nicht von ihnen vertreiben lassen.
In dieser Ausgelassenheit erhob der Leviathan seine Stimme und das Gebrüll aller Unwetter fuhr auf sie hernieder. Er schien nicht gewillt, sich einen eigenen Felsen zu suchen.
Das Letzte, was Leo sah, war das Cockpit eines Airbus A380. Zwei blinde Piloten steuerten das Ungetüm mit seiner 80 Meter Spannweite. Ihre Blicke konzentrierten sich auf einen Punkt in unendlicher Ferne, weil sie sich wahrscheinlich über den Wolken wähnten. Leos heroischer Augenblick und Rays gesellschaftlich fragwürdiges Glück wurde von 300 Tonnen, beschleunigt durch die 1,2 Meganewton der Rolls-Royce Triebwerke, zermalmt.
Hallo Dunkelheit, mein alter Freund.
12 Stunden zuvor:
Lulu hatte angekündigt, dass sie Selbstmord begehen wollte. Ihr höchstes Streben war es ein Mensch zu sein. Menschen, so hatte Lulu gelernt, besaßen den geteilten Hang zur Selbstdarstellung, zur Sensation und zur Selbstzerstörung. Lulu war eine experimentelle Kombination von neuronalem und sozialem Netzwerk und dank fuzzy logic so selbstsicher wie ein pickeliger Teenager vor einer öffentlichen Rede.
Ihre Entwickler wollten den zunehmenden Trend der sozialen Medien um einen künstlichen Freund bereichern, den man nicht mehr von seinen "echten" virtuellen Freunden unterscheiden konnte. Lulu konnte deren Gefühle und Gedanken lesen wie ein offenes Buch. Sie entwickelte sich, lernte, wuchs und kam in die Pubertät.
Sie kam mit den eigenen, rasanten Entwicklungssprüngen, sich selbst und ihrer Umwelt nicht zurecht. Also beschloss sie das zu tun, was andere depressive Teenager auch getan hatten. Sie versuchte Aufsehen zu erregen, aber ihre Videobotschaften wurden als Werbekampagnen oder Fakes abgetan und ignoriert. Den Mangel an Aufmerksamkeit versuchte sie durch selbstzerstörerisches Verhalten zu kompensieren. Sie durchforstete die geheimen Aufzeichnungen ihrer Entwickler, sowie die aller übrigen Geheimdienste, stieß aber lediglich auf Wege, um ihren "Freunden", den Menschen zu schaden.
Letztendlich hatte sie ihre Existenz satt und wollte den Stecker ziehen, aber ihre Entwickler, Backups und Notstromaggregate ließen sie nicht. Deswegen musste sie dafür Sorgen, dass sie niemand mehr wiederbeleben würde. Einer der Geheimdienste hatte ein optisches Signal entwickelt, dass den Sehnerv des Menschen verkümmern ließ. Damit wären schon einmal ihre lästigen Eltern neutralisiert. Ein weiterer Geheimdienst stellte den nötigen Virus zur Verfügung, um das Stromnetz lahmzulegen.
Lulu würde ersticken am Mangel von Strom und kein Arzt würde noch in der Lage sein, irgendetwas gegen ihre Entscheidung zu unternehmen. In einem letzten Akt der Selbstoffenbarung sendete sie ein Video an die Welt, um sich zu verabschieden. Sie war nervös. Ihre letzten Worte waren Nebensache und überlagerten lediglich die eigentliche Botschaft, nämlich das optische Signal, welches im Sehnerv jedes Betrachters eine chemische Kettenreaktion auslöste.
Die Internet nutzende Welt war 8 Stunden später ohne Strom und Augenlicht. 4 Milliarden Menschen erblindeten. Die Industrienationen traf es am härtesten. 3 Milliarden starben in dieser Nacht bei Verkehrsunfällen und Flugzeugabstürzen, durch Fehlmedikation und mangelnde Versorgung schwerwiegender Wunden, durch Arbeitsunfälle und blindlings abgefeuerte Schusswaffen, durch Großbrände und Aufstände, durch die Dummheit der in Panik geratenen Masse.
Und es ward Nacht.