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Feuerzeug
Ich weiß nicht mehr, warum ich noch mit ihr spielte, obwohl sie mir regelmäßig die besten meiner Pferdepostkarten klaute (sie versprach jedes Mal, neue mitzubringen) und warum ich sie überhaupt zu Hause besuchte, obwohl ich die kleinen, dicklidrigen Schlitzaugen in ihrem sommersprossigen Frettchengesicht nicht mochte. Ihre Mutter lächelte, wenn ich vorbei kam, und stellte uns Kakao und Plätzchen hin, manchmal auch Stachelbeeren und Erdbeeren aus dem Stück Garten, das hinter den Garagen lag. Meist pflückten wir uns das Obst selbst, kauten versandete Erdbeeren, während wir uns in der Zentrale trafen, der größten Garage, in der Annikas Eltern Werbetafeln lagerten und die immer noch stark nach Benzin roch. Auf Eimern und klapprigen Stühlen versammelten wir uns und Annika entschied, was wir machten. Viele ihrer Vorschläge gefielen mir nicht. Andererseits wurde es nie langweilig. Und Langeweile war für mich damals das Schlimmste.
Es war an einem Freitagnachmittag und Annika und ich gingen allein in die Garage. Für Momente wunderte mich, wo die anderen Kinder waren. Normalerweise waren wir zu sechst oder acht. Die Zwillinge, die mit Annika im gleichen Haus wohnten, und ein paar Nachbarjungen.
Draußen hatten wir Unmengen Erdbeeren genascht und jetzt war ich durstig. Annika schien zu ahnen, wie groß mein Durst war, und nahm eine Flasche aus dem Regal, ich freute mich über ihre unerwartete Einfühlsamkeit und wollte schon den ersten Schluck nehmen, als mir ein stechender Geruch in die Nase kam.
„Los, trink schon“, herrschte Annika mich an. Das konnte sie nicht von mir verlangen! Obwohl ich mich vor ihrem Blick fürchtete, ließ ich die Flasche fallen.
Was hatte sie mir angeboten? Benzin? Nitroverdünnung oder sonst ein Lösungsmittel? Mit acht roch für mich alles gleich. Alles gleich gefährlich. Die Flasche war gar nicht zerbrochen, wie ich zunächst glaubte, und eine große Pfütze bildete sich um mich herum. Annika grinste, als bedeute die Pfütze etwas anderes, als hätte ich mir vor Angst in die Hose gemacht.
Plötzlich flammte ein Feuerzeug vor meiner Nase auf. Annika musste es schon vorher in ihrer pummeligen kleinen Hand gehalten haben, denn ihr Sommerkleid war taschenlos. Ihr Grinsen vertiefte sich.
„Zieh dich aus“, sagte sie, „und wenn du es nicht machst, zünde ich die Garage an." Vor Feuer hatte ich noch mehr Angst. Als ganz kleines Mädchen hatte ich Streichholzanzünden über der Badewanne geübt. Und als ich Annikas Gesicht im orangefarbenen Licht sah, öffnete ich schnell meinen Rock und ließ ihn runterfallen, in die gefährliche Pfütze. Noch nie hatte ich mich so schnell ausgezogen. Annika betrachtete mich ungerührt und es ärgerte mich, dass sie das Feuerzeug trotzdem anknipste, immer wieder für kurze Momente, das war gegen die Abmachung! Angst kroch in mir hoch und ich wusste nicht mehr, wovor ich mehr Angst hatte, vor brennenden Garagen oder vor Annika. Noch nie war sie mir unheimlich vorgekommen. Ihr Frettchengesicht verzog sich zu einem immer böseren Grinsen. Sie war vorher nie richtig gemein gewesen, schon eine Lügnerin und nie hatte sie die versprochenen Pferdepostkarten mitgebracht, den kümmerlichen Ersatz für meine Lieblingskarten. Wie hatte ich ihr nur diesmal glauben können? Und wenn sie so weitermachte, würde die Garage bestimmt bald explodieren.
Anika stierte mich weiterhin an, ohne etwas zu sagen. Bildete ich es mir ein oder wurden ihre Augen noch schlitziger? Ich fragte mich, warum Annika das machte, da nahm sie meine Sachen und sagte: „Ich hole jetzt die anderen Kinder!“ Das war noch schlimmer als Feuer und explodierende Garagen. Ich wollte nicht, dass die Jungen mich so sahen. Wie ich zitternd in der Pfütze stand. Hatte Annika die ganze Sache geplant und die anderen sich nur versteckt? Hatten sie mich womöglich schon die ganze Zeit beobachtet? Ich schaute an Annika vorbei zu den Garagenfenstern, aber da war niemand, kein plötzlich auftauchendes Gesicht, das mich johlend anstarrte. Und auch auf dem Hof war niemand. Und wie sollte ich später nach Hause kommen, nackt durch zwei Straßenviertel rennend, an Häusern und Läden und neugierigen Blicken vorbei? Vor allem, wie sollte ich am Büdchen vorbeikommen, an schon mittags besoffenen Kerlen, die mich sicher anquatschten?
Als Annika abhaute, ahnte ich, dass ich schnell sein musste. Ich wollte nur noch fliehen. Ich musste fliehen. Was, wenn ihr noch mehr einfiel, Schlimmeres, etwas wirklich Schlimmes? Jeden Augenblick konnte sie zurück sein. Und wer weiß, wen sie mitbrachte! Ich sah mich um und auf dem dämmrigen Boden erkannte ich etwas, das mich vor Erleichterung aufjuchzen ließ. Annika hatte meinen Rock übersehen. Rasch zog ich das schwer gewordene, klebrige Ding an. Eigentlich zog ich ihn gar nicht richtig an, sondern stieg nur hinein und zog ihn hoch, damit er meine Brust bedeckte. Warum, war mir nicht klar, wo ich doch sonst beim Fußball- oder Federballspielen auch oft oben ohne war und mit meinen kurzen Haaren sah ich sowieso wie ein Junge aus.
Als ich nach Hause kam, war mein Vater mit dem Aufbau des Planschbeckens beschäftigt, meine Geschwister tobten mit dem Gartenschlauch. Niemand wunderte sich, warum ich ohne T-Shirt herumlief. Aus der Küche hörte ich meine Mutter gedankenverloren „Hallo“ rufen und das Geklapper von Geschirr. Ich zerrte ein Kleid aus meinem Schrank und lief ins Bad, stopfte den Rock zuunterst in den Plastikwäschekorb und saß minutenlang reglos auf dem Klodeckel, bevor ich duschte, das dünne Kleid anzog, und dann lief ich in den Garten, in die warme Sommerluft, hörte Lachen, sah das Planschbecken sich füllen und tapsig aufrichten und ich huschte unter den wild um sich spritzenden Gartenschlauch, den mein kleinster Bruder zu bändigen versuchte.
Es wunderte mich, dass meine Mutter nichts sagte zu dem Rock im Wäschekorb, weder an jenem Tag noch später, dabei musste das ganze Bad nach Chemie gerochen haben. Aber sie fing an, mich genauer zu beobachten, zumindest kam es mir so vor, wenn ich am Basteln war und mit Farben und Klebern hantierte. Das tat ich nun fast jeden Nachmittag, wenn ich von der Schule kam. Draußen fühlte ich mich nicht sicher. Annika konnte überall sein und plötzlich auftauchen wie früher, wenn sie meine Karten klaute.
Der Sommer war heiß und unser Planschbecken zog immer mehr Kinder aus der Nachbarschaft an.
"Als hätten sie kein eigenes", bemerkte mein Vater jedes Mal knurrend, wenn er Eisstiele und Bonbonpapiere herausfischte. Ich badete nur noch direkt nach Schulschluss. Dann konnte ich sicher sein, dass Annika zuhause ihr Mittagessen verschlang. Wenn man sich auf eines verlassen konnte, war es ihr ständiger Hunger. Aber spätestens ab drei konnte ich nicht mehr sicher sein.
Durch die Rolladenschlitze meines Kinderzimmerfensters konnte ich sie manchmal beobachten, wie sie in ihrem ausgeleierten Badeanzug im Pool lag, genüßlich grinste und zu mir hinsah. Natürlich sah sie mich nicht wirklich, aber sie wusste, dass ich im Dämmerlicht über meinen Hausaufgaben saß und ihr übliches Annika-Grinsen wurde richtig fies. Nicht einmal zuhause entkam ich ihr! Schlimmer noch, meine Mutter ging fast jedes Mal zu ihr hin und lud sie auf eine Limonade ein. Zum Glück war der Garten groß und ich konnte schnell zur Vordertür raus.
"Warum möchtest du nicht mit uns Limonade trinken?" fragte meine Mutter jedes Mal erstaunt, wenn Annika wieder weg war. "Ihr könntet doch so schön zusammen spielen!"
"Ich will aber nicht", sagte ich dann.
"Aber warum denn nicht?", wiederholte meine Mutter.
Sie kapierte es einfach nicht.
"Es wäre doch so schön", schloss sie dann jedes Mal seufzend, "solange ihr nicht wieder Druckerei spielt!"
Wie hatte meine Mutter das nur glauben können! Wo mein Vater doch den viel cooleren Job hatte als Annikas Eltern. Apropos Vater. Ich bekam Angst, dass er auf Dauer nachbohren könnte und dann würde meine Eltern Annikas Eltern besuchen. Das wäre das Allerschlimmste! Von Annikas Rache ganz zu schweigen! Und so beschloss ich, die Limonaden-Planschbecken-Stunden über mich ergehen zu lassen, stoisch, cool, was meine Mutter mit nettem Lächeln und Annika mit höchstzufriedenem Grinsen quittierte.
Ich musste meine Strategien ändern, um Annika wenigstens sonst aus dem Weg gehen zu können. Zum Spielplatz ging ich nicht mehr, zum Sport auch nicht mehr. Bald hatte ich keine Ausreden mehr. Meine Besuche beim Büdchen mussten entfallen. Ich trauerte meinem geliebten Esspapier nach, aber was sollte ich machen? Weder meinen Geschwistern noch Freundinnen konnte ich von meinem Problem erzählen, von meinem Annikaproblem, das immer größer wurde. In den nächsten Wochen versuchte ich jeden Morgen zu spät zu kommen. Nicht wirklich zu spät, aber immer zusammen mit dem Lehrer, was bald für Spott sorgte, aber das war mir egal.
Hauptsache nicht mit Annika allein sein! Es war kurz vor Weihnachten, als mein Deutschlehrer mich nach der Stunde ansprach.
"Du bist doch so ein großes starkes Mädchen!", sagte er und lächelte mich an. Wollte sich jetzt auch noch ein Lehrer über mich lustig machen? Doch er meinte es ernst.
"Ich möchte, dass du dich um Tessa kümmerst!"
Dabei war Tessa ebenfalls kein kleines Mädchen, um das sich jemand kümmern musste.
Tessa war die Tochter unseres Sportlehrers und wie ich sportlich genug, um es mit jedem aufzunehmen, zumindest hatte ich das gedacht.
Was war nur mit Tessa los?
Ich nahm meine neue Aufgabe ernst und lud sie zu einem Snickers auf dem Pausenhof ein. Und als sich Tessa ängstlich umdrehte, viel zu oft, wie ich fand, ahnte ich, worum es ging.
Spätestens, als ich Annika entdeckte. Sie stand mit ein paar der größeren Jungen zusammen und sah zu uns hinüber. Sie fing an zu tuscheln, flüsterte dem Nächststehendem, einem dicken Jungen, etwas ins Ohr, woraufhin er uns neugierig anstarrte, bevor er anfing zu grinsen. Kein fieses Grinsen wie bei Annika. Schlimmer noch. Und ich ahnte, worum es ging.
Das konnte sie nicht machen!
Annikas Lachen wurde immer lauter.
Wir rannten los. Das war uncool. Aber wir wollten nur noch weg. Fast hätten wir es geschafft. Doch kurz vorm Klo holte uns der gefährlichst aussehende ein.
"Zeigst du mir auch mal alles?", fragte er mich und zu Tessa gewandt: "Oder stehst du mehr auf Mädchen?"
Tessa schüttelte den Kopf und versuchte, sich ihm zu entwinden und schnell aufs Klo zu flüchten.
Doch es gelang ihr nicht. Im Gegenteil, er würde mit ihr zusammen hinter der Klotür verschwinden, wenn nicht etwas passierte! Jetzt gleich! Wir brauchten Hilfe, sofort!
Ich sah mich um, wir waren allein. Nur Tessa und ich. Und dieser Junge.
Niemand war da, um uns zu verteidigen.
Tessa schaute mich an.
Und ich wusste wieder, wie stark ich war. Mit Bärenkräften warf ich mich auf den Jungen. Es war einfach. Ich schlug einfach zu. So lange zu, bis eine Lehrerin einschritt, Blut war an meiner Hand und auf meinem T-Shirt.
Und diesmal warf ich zu Hause das T-Shirt nicht einfach so in den Wäschekorb. Ich erzählte alles. Alles. Und danach erwähnte ich Annika nie mehr.
Dabei gingen wir nach wie vor in die gleiche Grundschulklasse. Später wechselte sie auf eine andere Schule und erst als sie mit zwölf plötzlich schwanger war, was mich nicht überraschte, hörte ich wieder etwas von ihr und ich wusste nicht, ob sie mir leid tat oder ob ich in das schadenfrohe Gelächter der anderen mit einstimmen sollte.