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Feuerwerk
"Wann geht's denn los?"
Schräg hinter mir steht ein kleiner alter Mann mit Zipfelmütze und Rauschebart. Im Mundwinkel steckt eine Brissago und unter buschigen Augenbrauen blitzen zwei dunkle Augen hervor. Er sieht aus wie einer dieser Appenzeller Bauern aus der gleichnamigen Käsereklame mit Uwe Ochsenknecht.
"Los geht's, wenn's dunkel ist", antworte ich freundlich und ziehe meinen Kragen hoch. Die Temparatur bewegt sich irgendwo zwischen blauen Lippen und abgestorbenen Zehen. Karin und ich stehen direkt hinter der Absperrung, eingepfercht neben weiteren Vertretern der 'Früher Vogel fängt den Wurm'-Zunft. Freie Sicht, kein Riese mit Hut, aber dafür muss man halt Opfer bringen.
"Ich stehe doch jetzt hier nicht drei Stunden in der Kälte!", nörgelt Karin und reibt die Wollhandschuhe aneinander.
"Aber nachher sind die besten Plätze bereits vergeben", halte ich dagegen. "Und von da hinten siehst du nicht das schöne Gesamtbild, den Wasserfall, die Fontänen ..."
"Ach was, es gibt auch noch genug Feuerwerk über den Köpfen und vielleicht treffen wir ja Freunde."
Demonstrativ schiebe ich mich etwas näher an die Absperrung.
"Ich will aber das Feuerwerk sehen und bleibe auf jeden Fall hier, bis es dunkel wird, basta."
"Wie du willst, ich gehe solange ins Warme", schnaubt Karin zurück und kämpft sich durch die nachrückenden Zuschauer in Richtung Café Odeon.
"Und wann ist es dunkel?"
"Was?"
"Wann wird es dunkel?"
Ich drehe mich um.
Weisse Atemwölkchen schweben über der kalten Brissago.
"Dunkel ist es dann, wenn man nichts mehr sieht", brumme ich und schaue wieder aufs Feld.
Vor uns in sicherer Entfernung wuseln Feuerwerker mit Taschenlampen zwischen Kisten herum und treffen die letzten Vorbereitungen.
"Und jetzt ist es noch nicht dunkel, gell?"
"Nein, jetzt ist es noch zu hell", stöhne ich, drehe mich aber nicht mehr um.
"Weil man ja noch etwas sieht?"
"Genau!"
Die Spitzen der sich im Thunersee spiegelnden Berner Alpen scheinen in rote Farbe getaucht, während der wolkenlose Himmel einen trockenen Abend verspricht. Die Temperatur fällt um weitere drei Grad, kriecht die Hosenbeine hoch und lässt vieles schrumpfen. Der Alte stupst mich in den Rücken.
"Warum fangen sie dann noch nicht an?"
"Weil man noch nichts sieht, hergottnochmal!"
"Eben haben Sie aber behauptet, wenn es dunkel wird, sieht ..."
"Ja, nein, also - "
Irgendwie scheint sich das Alpenglühn jetzt auch auf meine Kopfhaut zu übertragen. Ich drehe mich um und deute mit dem Handschuh auf die Nase dieses trotzigen Bauern.
"Hören Sie, es ist erst dunkel, wenn man nichts mehr sieht, aber damit man das Feuerwerk sieht, muss es dunkel sein, klar?"
"Schon gut, regen Sie sich mal nicht so auf!"
Die Brissago hüpft in den anderen Mundwinkel und er schaut demonstrativ hoch zu den ersten im Abendhimmel durchscheinenden Sternen.
"Eigentlich könnte man hier auch einen Cervelat mitbringen, oder?"
Wo hat man den eigentlich rausgelassen?
"Zum Braten, meine ich. So ein grosses Feuerwerk, da wird es doch sicher saumässig heiss."
Der Alte nimmt seine Brissago zwischen Daumen und Zeigfinger und deutet auf die niedrige Plattform im Feld.
"Gegen die Gefahr von Hitze haben sie hier ja extra die Absperrleine gespannt."
"Aha, na ja, man kann ja den Cervelat auch kalt essen."
Einfach ignorieren, ich muss einfach nicht mehr antworten, dann hört das sicher auf.
"Wussten Sie, dass der Cervelat in Basel Klöpfer heisst?"
"Mann, ja! Und in St.Gallen heisst er Stumpen, genau wie Ihre Brissago, die ich Ihnen gleich in den Hals stosse."
"Ach, Sie kommen aus St.Gallen? Sie reden aber gar nicht wie ..."
"Ich bin ja auch aus Bern, und ich wäre wirklich froh, wenn Sie mich jetzt in Ruhe warten lassen würden."
Unter meinen Füssen hat sich der Schneematsch in eine Pfütze verwandelt und meine Boots entpuppen sich entgegen den Beteuerungen der hübschen Verkäuferin als gar nicht so hundert Prozent wasserdicht.
"Ich wollte ja meinen Barry mitnehmen, aber der mag das laute Geknalle nicht so besonders. Ein reinrassiger Appenzeller, schläft heute bei meiner Schwester. Mögen Sie Hunde?"
"Ach fressen Sie doch Ihren Stumpen!"
Ich hasse Hunde, und noch mehr quasselnde Hundebesitzer, warum ist es auch nicht schneller dunkel geworden? Meine Stiefel erleiden soeben Dammbruch, meine Lenden sind ein einziger Eisblock und in meinem Kopf fangen kleine Appenzeller an, Hackbrett zu spielen.
Wortlos schiebe ich mich an dem Alten vorbei in Richtung Karins vermuteten Aufenthaltsort.
"Solche Leute wie Sie können einem schon den letzten Nerv ausreissen", höre ich den Alten noch brummeln, da zerreist ein Böller die Stille der hereingebrochenen Nacht. Tausend Münder rufen "Ah" und "Oh", das Feuerwerk hat begonnen.
Ich schiebe mich wie ein Ertrinkender durch dichtgedrängte Wintermäntel mit im Widerschein des Funkenregens leuchtenden Gesichtern, als mein Handy klingelt.
"Du kennst doch Anja", kreischt mir eine gutgelaunte Karin ins Ohr.
"Anja - wer?"
"Habe Sie im Café getroffen und jetzt rate mal, wo ich stehe."
Ich schaue mich um, sehe aber nur anonyme Köpfe und wogende Rücken.
"Ich stehe bei Anja auf dem Balkon. Hier sieht man einfach alles, oh diese Fontänen, - äh, wir sehen uns dann nachher im Odeon, ... oh, ah ...", und weg ist sie.
Ein kleiner Junge tritt mir gegen das Schienbein, derweil seine Eltern verzückt die Köpfe gen Himmel strecken.
Karin schwebt gut gelaunt durch die Eingangstür und lässt sich auf den von mir erfolgreich verteidigten Platz im vollgestopften Odeon sinken.
"Wau, was für ein Feuerwerk. Schönen Gruss von Anja, sie musste noch mal weg. Du warst natürlich viel näher dran, aber bei mir war's richtig kuschelig."
Ich nippe an meinem lauwarmen Tee und nicke nur, habe ich doch ausser waberndem Pulverdampf zwischen drängelnden Menschen kein einziges Bild gesehen. Aber das muss ich ja Karin nicht ...
"Du siehst etwas blass aus", sagt sie. "Na ja, Frühstück ist ja auch schon länger her. Ich bestell dir jetzt einen Cervelatsalat, die machen den hier ja mit besonders ..."
Doch das Creszendo der Appenzeller Hackbrettspieler in meinem Kopf verdrängt Karins Redeschwall und mein Verstand verliert sich im Lärm des Lokals wie ein Stück Brot im Käsefondue.