Feuerwerk
Am zweiten Samstagabend im August hockten Martin und ich auf unserem Stammplatz neben dem Schornstein und warteten auf das Feuerwerk. Unsere halbe Kindheit hatten wir auf diesem Flachdach verbracht, gespielt, uns versteckt und auf die Stadt zwischen den beiden Flüssen heruntergesehen, die im Dunklen selbst wie ein Fluss aussah, ein Strom aus Lichtern, der um uns herum brandete.
„Schöner Polterabend war das gestern“, sagte ich, „hab‘ nur etwas viel getrunken.“
Martin griff hinter sich und zog zwei Flaschen Bier hervor. „Macht nichts. Ist noch was übrig geblieben.“
„Cool“, sagte ich, nahm eine Flasche und trank einen Schluck.
„Hast du die Ringe?“
„Klar“, antwortete ich und legte zum Beweis meiner Zuverlässigkeit als Trauzeuge die zwei goldenen Ringe in Martins Hand. „Ich will doch Petra nicht enttäuschen.“
„Ja, Petra“, sagte er gedankenverloren, stand auf, schlenderte ein paar Schritte nach vorne und schaute nach unten.
Als ich zu ihm ging, sah ich eine Holzkonstruktion aus Bodenbrettern und hüfthohen Seitenwänden, einen Kasten der an Seilen vor der Fassade hing.
"Was soll das?" fragte ich, als Martin in den Kasten kletterte.
"Hey, das Ding gehört den Fensterputzern. Sie lassen sich damit an der Hauswand herunter. Komm her, von hier aus haben wir das Feuerwerk noch nie gesehen."
"Ich weiß nicht", sagte ich und schaute neben meinem Freund in die Dunkelheit, "ist das nicht gefährlich?"
"Vielleicht“, antwortete Martin, „aber heute ist unser letzter Junggesellenabend. Komm schon!“
Obwohl mir dieses Argument nicht einleuchtete, nahm ich seine Hand und sprang auch in den Kasten. Im gleichen Moment ging ein Ruck durch die Bodenbretter. Ungefähr einen halben Meter fielen wir nach unten, bis wir von den Halteseilen aufgefangen wurden. Martin lachte lauthals, und ich hielt mich an dem Seil auf meiner Seite fest. Dann begann das Feuerwerk.
Lichtfontänen spritzten aus der Festung, die hell erleuchtet auf der anderen Rheinseite lag. Die Ausflugsschiffe voller Tagestouristen hatten angehalten, und die Menschenmassen in den Rheinanlagen, die eben noch in Bewegung waren, standen still, rot erleuchtet durch eine Batterie von Feuersternen. Martin jubelte, nahm mir meine Flasche ab, die ich noch verkrampft in der Hand hielt, und trank daraus. Alle Fenster in dem Hochhaus hinter uns waren dunkel. Irgend jemandem da drinnen versperren wir die Sicht, dachte ich.
Dann drückte Martin auf einen Knopf des Bedienbretts, und wir rutschten ein Stück nach unten. Bunte Lichtblumen blühten am Himmel auf, es roch nach Pulverdampf. In meinem Magen schwappte Bier.
Plötzlich wurde es hinter uns hell. In dem Fenster, vor dem wir hingen, stand Petra. Sie öffnete und schien kein bisschen verwundert zu sein, uns zu sehen. Ihr langes schwarzes Haar glänzte im gelb-roten Licht der Feuerwerksraketen. Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ein orangefarbener Feuerregen brachte es zum Strahlen, sodass ihre Stupsnase einen kleinen Schatten warf. Sie lächelte Martin verliebt an, lächelte mit ihrem großen Mund und ihren grünen Augen, so als müsse sie ihn wieder verführen, wo er doch längst ihr gehörte. Sie schien mir in diesem Augenblick die schönste Frau der Welt zu sein.
Martin griff tief in den Raum hinter dem offenen Fenster, schlang seine Arme um ihre Taille und hob sie mühelos zu uns nach draußen.
Petra schien die Höhe gar nicht zu bemerken. Sie gab mir einen Begrüßungskuss auf die Wange und umarmte dann ihren Martin. Die beiden standen auf ihrer Seite des Fensterputzerkastens und küssten sich im flackernden Licht. Ich stand daneben und konzentrierte mich schließlich auf das Geschehen am Himmel.
Ein weißer Lichtblitz zerriss die Dunkelheit, und im gleichen Augenblick kippte unser Fensterputzerkasten auf meiner Seite etwas nach vorne. Reflexartig duckte ich mich, klammerte mich an die Vorderwand und schaute mich um. Eines der Halteseile war gerissen. Petra sah mich mit weit geöffneten Augen an und hielt sich an Martin fest, der die Bierflasche fallen ließ. Einen Aufprall hörte ich nicht, weil eine Rakete über uns hinweg pfiff. In ihrem blauen Licht sah ich zu meinem Entsetzen, dass auch das hintere Halteseil auf meiner Seite reißen würde. Ich versuchte mit meinen schweißnassen Händen einen Halt zu finden, bekam aber nur die Holzplanken der Seitenwand zu greifen, auf denen ich kauerte. Als das Seil riss, pendelte der Kasten weiter nach unten. Ich verlor den Halt unter meinen Füßen, hing plötzlich in der Dunkelheit und klammerte mich mit beiden Händen an das Holz. Ich hing an einer Balkenwaage, und Martin und Petra waren das Gegengewicht. Aber alle zusammen waren wir zu schwer, denn der Kasten war nur für einen oder maximal zwei Fensterputzer gedacht. So war es nur eine Frage der Zeit, wann die nächsten Seile reißen und wir alle nach unten fallen würden. Wie die Funken der Feuerwerksraketen.
Ich brüllte, schrie meine ganze Hilflosigkeit in die Nacht, aber meine Panik wurde von einem Sturm aus Chinaböllern verschluckt. Meine Fingergelenke schmerzten und würden bald ihren Dienst versagen. Voller Angst sah ich Martin an, meinen Freund, der immer Rat wusste, wenn ich in Schwierigkeiten gewesen war. Er hielt Petra fest und wirkte hilflos, als auch auf seiner Seite ein Seil riss. Erfolglos hackte er auf die Knöpfe des Bedienpults ein, schaute nach oben zu Petras offenem Fenster, das in unerreichbarer Höhe lag, sah dann zu mir und schließlich zu seiner Frau. Martin, der stark war wie ein Bär, sah ratlos aus. Bestimmt konnte er eine Person halten und sich mit ihr am Seil nach oben ziehen. Aber zwei Personen waren selbst für ihn zu schwer. Wieder schaute er mich an, wie jemand, der eine schwere Entscheidung treffen muss. Er musste etwas tun, denn weder ich noch Petra konnten uns aus eigener Kraft aus dieser Lage befreien. Und das nächste Seil würde bald reißen.
Er griff in seine Tasche, nahm einen der Ringe, die ich ihm gegeben hatte, und steckte ihn Petra an. Dann küsste er sie, nahm sie auf seinen Arm und warf sie in die Tiefe. Ihr Schrei war lauter, als die Höllenpfeifer, die in diesem Augenblick abgeschossen wurden und ich hörte ihn noch, als Martin uns beide schon längst durch das offene Fenster in Sicherheit gebracht hatte.
Es geht doch nichts über einen Freund.