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- 19.06.2001
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Feuerkugel
FEUERKUGEL
Die Luft war trocken und flimmerte in der sengenden Hitze. Ein seltsam rötlich schimmernder Himmel erstreckte sich bis zum Horizont. Keine Wolke war zu sehen. Mühsam schleppte sich ein Pferd durch die Wüste. Sein Reiter hatte kaum noch Kraft, die Zügel festzuhalten, geschweige denn das Pferd anzuspornen, die trostlose Gegend so schnell wie möglich zu verlassen. Selbst wenn, das Pferd war kurz davor, samt seiner Last zusammenzubrechen. Gnadenlos brannte die Sonne auf die zwei sich langsam bewegenden kleinen Punkte hinab, die sich qualvoll durch die Wüste schleppten.
Gabe Daniels saß nach vorne gebeugt im Sattel und hatte die Augen geschlossen. Sein bärtiges Gesicht war von Mückenstichen übersät. Dicke Staubkrusten bedeckten seine zerrissene Kleidung. An seinen nackten blutigen Füßen tummelten sich zahllose Fliegen. Dunkler Speichel tropfte aus Gabes leicht geöffnetem Mund auf den kunstvoll verzierten Sattel. Mit einer Hand hielt er die Zügel seines Pferdes, obwohl er wußte, daß er Mellow nicht lenken konnte. Seine andere Hand umklammerte krampfhaft den Revolver, der noch vier Patronen in der Trommel hatte. Gabe stöhnte leicht auf. Vier Patronen, dachte er schmerzvoll. Nie im Leben würde das reichen. Niemals. Sie waren hinter ihm her. Er wußte warum. Seit Mudson City wußte er warum...
Die Sonne war untergangen. Mellow blieb stehen und schnaufte. Gabe richtete sich im Sattel auf. „Schon wieder dunkel?“ flüsterte er schwach. „Ist es schon wieder soweit, Mellow?“ Mit einem lauten Seufzer stieg er aus dem Sattel. Als seine Füße den heißen Sand berührten, schrie er kurz auf. „Argh...“ Die Nacht bringt keine Erlösung, dachte er. Gabe biß die Zähne zusammen und lockerte die Riemen des Sattels. Mellow schüttelte seinen Kopf. „Ja, gleich...“ flüsterte Gabe. Dann hatte er endlich den Sattel von Mellows abgemagerten Körper gelöst und ließ ihn auf den Boden fallen. „Was denkst du?“ Er tätschelte das Pferd. „Wann werden sie wohl heute kommen? In einer Stunde? In vier? Wenn ich schlafe? Und wird Judy vorher wieder kommen, um mich zu warnen?“ Gabe nahm seinen Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Warum kommen sie nie, wenn ich schlafe, fragte er sich. Eigenartig... „Weiß du, Mellow. Mir ist gerade eingefallen, daß sie es noch nie versucht haben, wenn ich schlafe. Merkwürdig, oder?“ Gabe war plötzlich fest davon überzeugt, von Mellow eine Antwort zu erhalten. Er wartete. „Mellow?“ Natürlich bekam er keine Antwort. „Bist nur ein Pferd. Und mein Freund. Ein zuverlässiger Freund und Partner, hm?“ Er strich über die einst glänzende Mähne des Pferdes. „Klar können sie das nicht. Wir haben Judy.“ Gabe überprüfte seinen Revolver. Noch vier Schuß. „Nie im Leben wirst du die Nacht überstehen, alter Junge.“ murmelte er. „Nie im Leben.“
Über ihm funkelten die Sterne. Gabe lächelte zufrieden. So ein wunderschöner Anblick. Die Sterne... Sie kümmerte es nicht, was mit ihm geschah. Still und leise erschienen sie in der Nacht, um am Tag zu verschwinden. Manchmal wünschte er sich, ein Stern zu sein. Gabe hatte irgendwann einmal gehört, daß es riesige Feuerkugeln waren, Milliarden Jahre alt... Sogar Mellow hätte er dafür eingetauscht, ein Stern zu sein. Sich um nichts kümmern. Einfach nur brennen, den dunklen Raum erhellen und nach einer kleinen Ewigkeit in einem triumphalen Feuerwerk zu sterben. „Ja.“ Er lag mit dem Kopf am Sattel angelehnt auf dem kargen Boden, der nicht mehr ganz so heiß war. Ein Stern zu sein... Er hörte ein Geräusch und richtete sich auf, mit der Waffe in die Richtung zielend, aus der das Geräusch kam. Eine Art Schlurfen. Vielleicht war es ja... Sie war es. „Hallo Judy.“ sagte er. Langsam legte Gabe den Revolver neben sich auf dem Boden.
Ein kleines Mädchen kam aus der Dunkelheit auf ihn zu. „Gabe! Heute hast du Glück. Der Mond erhellt die Nacht.“ Sie zeigte nach oben.
„Ja, kann sein.“
Das Mädchen setzte sich neben ihn. „Sie werden bald hier sein.“ sagte sie traurig. „Was denkst du?“
„Heute wird es wohl das letzte Mal sein.“
„Bist du dir sicher?“
Er runzelte mit der Stirn. „Weißt du, ich habe noch vier Schuß. Das wird kaum ausreichen.“
„Was ist mit deinen Füßen?“ wollte sie wissen. Judy berührte Gabes Füße und strich mit ihren kleinen Fingern über die eitrigen, blutenden Stellen. „Es ist schlimmer geworden.“
Gabe nickte. „Ja, sie sind entzündet.“
„Wenn du nicht aufpaßt, dann...“
Er unterbrach sie barsch „Was dann, Judy? Was dann? Sterbe ich etwa?“ Gabe begann zu kichern. „Hätte ich geahnt, was da auf mich zukommt, ich hätte wohl besser einen großen Bogen um Mudson City gemacht.“
Judy strich sich ihr Kleid glatt und sah Gabe mit ihren leicht leuchtenden, schneeweißen Augen an. „Ich hatte nur gefragt, was mit deinen Füßen ist, Gabe.“ sagte sie zornig.
„Ach, Kleines.“ flüsterte er und berührte sie vorsichtig. „Ist schon gut.“
„So?“
„Ja, sie sind halt entzündet. Ohne Stiefel ist es unmöglich, durch diese Wüste zu kommen. Fliegen, Mücken... all das.“ Er erwähnte ihr nicht gegenüber die Tatsache, daß auf Judy´s verfaultem Kopf eine Unmenge von Maden umherkroch. „Wann glaubst du, werden sie hier sein?“
Judy zuckte mit den Schultern. „Eine Stunde?“
„Oh...“ Gabe lehnte sich wieder gegen den Sattel. „So schnell...“ Ihm wurde übel. Er drehte sich zur Seite und übergab sich. Verdammt. Keuchend wischte er sich den Mund ab. „Tut mir leid, Kleines.“
Judy sah zu Gabe, anschließend auf sein Erbrochenes. „Nein...“ flüsterte sie und stürzte sich gierig auf die Stelle, an der Gabe sich übergeben hatte.
„Gott!“ Gabe schaute angeekelt weg, während Judy sich zufrieden grunzend Erbrochenes in den Mund schob.
„Es ist besser, als das, was sie mit dir machen wollen, Gabe.“ sagte sie kauend.
„Mag sein.“ Er zwang sich, Judy anzusehen. „Vielleicht hast du sogar Recht. Ich...“ Was war das? Er hatte etwas gehört. Gabe deutete Judy an, ruhig zu bleiben. Er schnappte sich seinen Revolver und stand auf.
„Gabe?“
„Pssst!“ zischte er verärgert und sah angestrengt in die Dunkelheit. Er hörte Mellow unruhig schnaufen. Es geht los, dachte Gabe. „Judy? Sie sind da...“ Schnell packte er sie und zog sie hoch. „Hör zu, Kleines. Diese Nacht werde ich nicht überstehen. Ich wollte dir nur sagen, daß...“ Ja, was willst du ihr sagen? Einem Ding. Einem Etwas. Was eigentlich tot und ihm aus unerklärlichen Gründen... Nein. Sie hat dir geholfen, als einziger. Aber was willst du einem kleinen toten Mädchen sagen, Gabe? Was? Er versuchte es. „Ich danke dir, daß du mich aus Mudson City rausgebracht hast, Judy. Ich danke dir, daß du die letzten Wochen da warst. Ich...“
„Gabe!“
„Was?“
Judy packte seinen Arm und zog ihn zu sich runter. Wenige Zentimeter trennten ihre Gesichter. „Du kannst es schaffen. Setz dich auf Mellow und reite los.“
Gabe schüttelte den Kopf. Der Atem des kleinen Mädchens war ekelhaft, wie ihr ganzes Erscheinungsbild. Dennoch war Judy nicht annähernd so schlimm wie die, die ihm auflauerten, ihn verfolgten. „Es ist zwecklos, Kleines. Judy, versteh doch. Sie folgen mir. Du folgst mir. Ihr alle... Mudson City war ein abgeschiedener Ort. Ich weiß selbst nicht, was mich dorthin verschlagen hat. Hätte ich geahnt...“
„Du hättest einen großen Bogen um unsere kleine Stadt gemacht, Gabe.“ sagte Judy traurig.
„Ja. Jeder Mensch hätte das getan.“
„Ich bin auch ein Mensch.“ schluchzte Judy.
Gabe schluckte. Mein Gott, dachte er. Sie glaubt es wirklich. „Ja.“ Er nickte. „Das bist du, Judy. Ein guter Mensch, hm? Sieh mich an!“ Gabe strich ihr über die hautlose Wange. „Weißt du... Du könntest Mellow nehmen und davonreiten. Er hat sich an dich gewöhnt, die letzte Zeit. Und was mich betrifft, hm... Ein Gesetzloser auf der Flucht irgendwo verschollen. Hm?“ Noch nie in seinem Leben zuvor hatte Gabe Daniels klarere Gedanken als in diesem einen Moment gehabt. Alles erschien ihm logisch. Er wurde in zehn Bundesstaaten gesucht. Die Behörden würden heilfroh sein, ihn auf Nimmerwiedersehen endlich aus den Akten streichen zu können. Moment, Gabe... Die wissen nicht, was passiert ist. Egal... Und ihm war in dem Moment, als Judy gesagt hatte, daß auch sie ein Mensch war, endgültig der Wille genommen worden, es vielleicht aus dem ganzen Schlamassel schaffen zu können. „Ich meine es ernst, Kleines.“ Mein Gott, sie denkt wirklich, sie wäre ein Mensch...
Judy löste sich von seinem Griff. „Du gibst auf? So wie in Mudson City? Ich hab dich da rausgelotst!“
„Es hat einfach keinen Sinn mehr.“ Die Geräusche wurden lauter. Sie waren jetzt schon sehr nahe. „Alles was ich wollte, war ein Bett für eine Nacht, Judy. Alles was ich bekam, war ein wochenlanger Alptraum.“ Lächelnd nahm er ihre Hand. „Setz dich auf Mellow und reite davon, hm? Oder willst du zurück nach Mudson City? Willst du das? Judy?“
„Aber Mellow...“
„Er ist schwach, ja.“ Gabe nickte. „Einen Versuch ist es aber wert, oder?“
„Ich verstehe nur nicht, warum du es nicht versuchst, Gabe?“ frage Judy und schmiegte sich an ihn. „Warum versuchst du es nicht weiter?“ Sie konnte die ersten bereits sehen, die sich mit einem leisen schlurfenden Geräusch heranschlichen. Sie sah ihn angsterfüllt an. „Ich habe Angst, Gabe!“
Gabe hob sie hoch und ging zu Mellow. Er setze sie auf das Pferd. „Ich denke, du wirst keinen Sattel brauchen, Kleines. Halt dich an der Mähne fest... Und sieh nicht zurück. Einfach gerade aus, soweit ihr es schafft, ja?“ Sie sah ihn stumm an. Gott, dachte er. Was für ein hübsches Mädchen wäre sie wohl, wenn nicht... „Mellow...“ Er strich sanft über den Kopf seines Pferdes. „Einfach nur weit genug fort, mein Freund.“ Er küsste Mellows Nüstern. „Los jetzt!“ schrie er. Mellow galoppierte mit Judy auf seinem Rücken in die Dunkelheit davon, als ob er wußte, daß er damit seinem Herren einen letzten Dienst erweisen würde.
Gabe nickte zufrieden. Er sah den beiden hinterher, bis sie verschwunden waren. Dann drehte er sich um, entsicherte den Revolver und brüllte: „Na los! Die letzte Nacht, ihr Mistkerle!“ Ihm fiel eine Frage ein, die er Judy die ganze Zeit schon hatte stellen wollen. Wenn nur ab und zu Menschen wie er Mudson City erreichten... Was solls, dachte er. Gabe Daniels streckte den Arm aus und zielte mit dem Revolver auf den ersten Untoten, den er in der Dunkelheit erblicken konnte. Vier Schuß, dachte er. Du hast vier Schuß...
Schweigend saß Judy vor dem Kadaver von Mellow und riß ab und zu ein Stück Fleisch heraus, um es in sich hineinzustopfen. Sie hatte die Schüsse gehört. Vier an der Zahl. Schnell hintereinander. „Armer Gabe.“ murmelte sie. Und nun? Gedankenverloren saß sie im heißen Sand der endlosen Wüste. Der Himmel schimmerte rötlich. Die Luft flimmerte. Es war trocken. „Und nun?“ fragte sie sich laut. Judy wußte, wie sie aussah. Sie wußte, daß sie außerhalb von Mudson City nirgends einen Ort finden konnte, an dem sie Ruhe finden würde. Wozu auch? Keiner aus Mudson City würde das können. „Armer Gabe.“ wiederholte sie monoton. „Armer Gabe.“ Er war ihr auf dem ersten Blick sympathisch gewesen. Sein hilfloses Entsetzen, als er erkannt hatte, wo er sich befand. „Armer Gabe.“ Judy wußte nicht viel. Wohl aber wußte sie, daß Menschen wie sie nicht auf Fleisch angewiesen waren. Die Felder bei Mudson City gediehen prächtig. Fleisch war eine willkommene Zugabe. Wenn es da war, nun... Sie lächelte und riß einen weiteren Brocken Fleisch von dem toten Pferd heraus. Ja, sie hatte Spaß gehabt, ihn Nacht für Nacht zu warnen. Ihn annehmen zu lassen, mit gezielten Kopfschüssen ihresgleichen zu töten... Aber das Spiel, das man ihr gewährt hatte, war mit Gabe Daniels Tod vorbei. Eventuell würde es irgendwann ein neues Spiel geben, vielleicht, irgendwann... Über ihr brannte die Sonne. „Armer Gabe.“ flüsterte Judy. Eine Zeitlang saß sie noch im heißen Wüstensand. Als ihr die Fliegen und Mücken zu lästig wurden, stand sie auf. Die Sonne war kurz davor, am Horizont zu verschwinden. Wer weiß, überlegte Judy, eines Tages verschwinden vielleicht sogar wir... In der Nacht, kurz bevor sie die schäbigen Baracken von Mudson City erreicht hatte, blickte sie zu den Sternen. „Feuerkugeln.“ murmelte sie. So hatte es ihr Gabe erzählt. Feuerkugeln, die brannten, um irgendwann einmal zu erlöschen. Ob sie selbst, sie alle einmal verschwinden würden? Möglich... Judy lächelte und streckte ihre Arme nach oben. „Noch nicht! Nicht jetzt!“ Sie war eine Feuerkugel, abseits von allem, leuchtend, aber dem Sterben nahe...
Bald würden nicht einzelne Outlaws wie Gabe Daniels Mudson City erreichen, sondern die Zivilisation, und damit diese jahrzehnte alte Stadt auslöschen, mit all ihren unerklärlichen Gegebenheiten. Judy wurde es bewußt. Alles ändert sich, dachte sie und wischte sich eine lästige Made aus dem Auge... Alles wird sich verändern. „Feuerkugel, hm? Gabe?“ Judy lächelte bei dem Gedanken. Noch war es nicht soweit. Ein paar Jahre würde es noch dauern. Leichten Schrittes ging sie auf die kleine Siedlung zu, die ihre Heimat war. Feuerkugel, dachte sie immer wieder. Eine Stunde später hatte sie Mudson City erreicht. „Feuerkugel.“ sagte Judy, als sie an Gabe Daniels Kopf vorbeiging, der direkt vor dem kleinen Saloon auf einem Pfahl aufgespießt worden war. „Armer Gabe.“ Kopfschüttelnd ging Judy weiter. Sie vermisste ihr weiches Bett...
ENDE
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12.05.2002
[ 12.05.2002, 07:49: Beitrag editiert von: Poncher ]