Feuer
Noch während seine Gedanken strömten und er den Blick wieder auf den Fernseher richtete, wurde die Stille von einem ohrenbetäubenden Knall durchbrochen. Laut wie 1000 Silvester drang es durch das Zimmer, weiße Lichtblitze erhellten den disigen Himmel, Fenster zersprangen und Glas bildete einen eisigen Regen. Sofort rückten alle zusammen und beugten sich über das kleine Mädchen. Zusammengekauert hockten sie aufeinander und warteten auf das Ende. Sie hörten Schreie, piepende Autos, scheinbar regnete es Steine. Trotz der geschlossenen Augen nahmen sie das Rot, das durch die zerstörten Fenster drang, wahr. Was zur Hölle ist geschehen? Leben wir alle noch? Er blinzelte durch die instinktiv geschlossenen Augen. Seine Tochter war am Leben und hielt sich an ihrer Mutter fest. Beide scheinen unverletzt zu sein. Plötzlich durchzuckte ihn jedoch die blanke Angst. Was ist wenn es brennt? Und ihr gefangen sind? Er löste sich auf der Umklammerung und stand langsam auf. Was er durch den dichten, schwarzen Rauch erkennen konnte, war noch schlimmer als seine Befürchtungen. Überall lagen Trümmer und die Bäume, die in der Nähe der Wohnung gewachsen waren, standen in Flammen. Ist das alles nur ein schlechter Traum? Er rieb sich die Augen und ging langsam in Richtung der Terrasse , dabei knirschten und knackten die Glassplitter unter seinen Füßen. Er hielt sich sein T-Shirt von den Mund und bewegte sich langsam vorwärts. Auf der Terrasse angekommen, stockte ihm der Atem, als er das Ausmaß der Verwüstung erahnen konnte. Sämtliche Bäume der Nachbarschaft standen in Flammen, Fenster waren zersprungen, auch Dächer brannte. „Wo ist die verdammte Feuerwehr? Warum höre ich keine Sirenen?“, dachte er und blieb wie angewurzelt stehen. Was, wenn es überall so aussieht? Was, wenn keine Hilfe kommen kann? Er drehte sich zu seinen verängstigten Familienmitgliedern und dem Fernseher, der nur noch Schnee zeigte. „Seid ihr OK?“, fragte er und nahm dabei wieder das Shirt von seinem Mund. Seine Tochter schluchzte noch leise, schien aber unverletzt zu sein. Seine Freundin hob den Kopf und antwortete: „Ich glaube schon“. Dabei strich sie der gemeinsamen Tochter über den Kopf. „Was ist passiert?“, fragte sie mit zittriger Stimme. „Ich habe keine Ahnung“, entgegnete er ihr und suchte einen Weg über die Scherben. Auf dem Sofa angekommen, schaute er ihr tief in die Augen und flüsterte: „Alles steht in Flammen. Ich weiß nicht, ob es die Feuerwehr und die Polizei noch gibt. Vielleicht sollten wir uns in den Keller oder nach draußen begeben“. „Und die Kleine?“, flüsterte seine Freundin aufgeregt zurück. Beide sahen sie an. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen, nahm seine Tochter auf den Arm, sie hielt sich an ihm fest und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. „Komm, mein Schatz! Wir spielen jetzt ein Spiel. Du darfst nicht gucken, musst aber erraten, wo wir sind.“. Ohne aufzuschauen nickte sie und alle Personen begaben sich zu der Wohnungstür. Nach dem Öffnen wurde schnell deutlich, dass er die richtige Intuition bewiesen hat. Durch das flackernde Licht konnte man bereits Rauch aufsteigen sehen. Er blickte seine Freundin leicht ängstlich an und begann die Treppe hinab zusteigen, sie folge ihm und legte dabei eine Hand auf seine Schulter. „Es sind nur vier Stockwerke, das muss doch zu machen sein“, sagte er mit dem Kopf leicht nach hinten gedreht zu seiner Freundin. In diesem Moment fiel das Licht vollständig aus. Wie angewurzelt blieb die Gruppe stehen. Sie fischte das Handy aus ihrer Hosentasche und aktivierte die Taschenlampenfunktion. „Besser als nichts“, flüsterte sie. Langsam stiegen sie die Treppe hinab, das erste Stockwerk war bereits geschafft. „Und wo sind wir, mein Schatz?“, fragte er seine Tochter. „Bei Schröders“, antwortete seine Tochter. Er streichelte seiner Tochter über den Rücken und signalisierte ihr auf diese Art, das sie richtig lag. Ohne Vorwarnung sprang die Wohnungstür auf! Reflexartig drehten die erwachsenen sich um, zunächst war nichts zu sehen. Aber dann schien ein Schatten aus der dunklen Wohnung auf sie zu zukommen. Starr vor Angst blickten sie gebannt in die Wohnung. Mit einem dumpfen Knall fiel die dunkle Gestalt auf den Boden des Treppenhauses, erschreckt wichen die anderen einen Schritt zurück. „Oh mein Gott! Das ist Herr Schröder!“, rief die Freundin, als sie die Gestalt anhand der Hausschuhe erkannte. Sofort lief sie zu ihm und drehte ihn auf den Rücken. Seine geöffneten, unbeweglichen Augen ließen das Blut in ihren Adern gefrieren. „Herr Schröder?“, stammelte sie, schüttelte ihn und legte ihre Finger an seinen Hals. So hatte sie es in der Serie gesehen. Sie konnte nichts fühlen. „Er sieht doch vollkommen unverletzt aus, warum kann ich sie nichts fühlen?“, fragte sie ihren Freund. „Ich bin auch kein Arzt“, zischte er nur zurück. Gleichzeitig deutete er mit seinem Kopf an, dass sie ihren Weg fortsetzen müssen. „Wir holen Hilfe“, sagte er leise und drehte sich um. Schuldbewusst strich sie dem alten Mann über das Gesicht, richtete sich auf und folgte ihrem Freund, dabei richtete sie die kleine Taschenlampe auf die Stufen. Der Rauch wurde immer dicker, ein mulmiges Gefühl stieg immer stärker in ihnen auf. Die Wohnungstür des zweiten Stockwerks stand bereits offen. „Scheinbar haben nicht nur wir diese Idee“, sagte er fast erleichtert zu seiner Freundin. Beim Herabsteigen der Stufen überkam ihn das Gefühl, dass Hitze in ihm aufsteigt. Ist das nur die Aufregung? Momente später überkam ihn die erschreckende Erkenntnis, dass die Hitze nicht nur in seinen Gefühlen vorhanden ist. Die Eingangstür des Hauses stand in Flammen, durch den Rauch konnte er erahnen, dass ein Fahrzeug sie gerammt hat. Ein süßlicher, verkohlter Geruch stieg auf, instinktiv drückte er seine Tochter fester an sich, um sie vor den Rauchgasen zu schützen. „Klingel bei den Özdems! Wir müssen über den Balkon raus!“, fauchte er seine Freundin beinahe an. Sie stiegen die Treppe wieder hinauf, seine Freundin begann sofort an der Tür des ersten Stockes zu klingeln und klopfte wild gegen die Tür. Keine Reaktion! Wieder und wieder versuchte sie es, er schaute dabei das Treppengeländer hinunter und konnte erkennen, dass die Flammen bereit den Teppich, der über den Stufen lag, in Brand gesetzt haben. „Lass es mich versuchen!“, rief er und übergab seine Tochter an seine Freundin. Auch seine starken Schlägen führten zu keiner Reaktion. „Wir müssen da rein!“, kam es ihm in den Kopf. Ohne weiter Gedanken nahm er Anlauf und sprang mit seiner Schulter gegen die Tür, er prallte ab und fiel auf den Boden. „In der verdammten Serie geht das immer!, ärgerte er sich und rieb sich dabei die Schulter. „Versuch es nochmals“, entgegnete seine Freundin verzweifelt. Mit dem Mut der Verzweiflung sprang er wieder gegen die Tür! Obwohl er es selbst nicht glauben konnte, löste sein Sprung ein lautes, hölzernes Knacken aus und die Tür sprang auf. Anders als in der Serie, landete er jedoch ziemlich unbeholfen auf dem Boden. Seine Freundin betrat nun die Wohnung und leuchtete den dunklen Flur aus. „Scheinbar sind sie schon weg“, sagte er und richtete sich dabei auf. Er nahm seine Tochter wieder auf den Arm und ging in die Richtung des Wohnzimmers, hier vermutete er den rettenden Balkon. Im Wohnzimmer angekommen lautete bereits die nächste schreckliche Überraschung. Während er sich noch umschaute, tippte seine Freundin ihm auf die Schulter und deutete zitternd und schwitzend auf das Sofa. Vater, Mutter und Sohn saßen leblos und mit starrem Blick vor dem schwarzen Fernseher. Sie hatten keine Wunden, aber es war sofort erkennbar, dass sie nicht mehr lebten. „Das…das hat doch gar nichts mit dem Knall und dem Feuer zu tun. Was ist mit den Menschen geschehen?“, fragte seine Freundin mit Tränen in den Augen. „Ich weiß es nicht, aber so langsam glaube ich, dass nur wir in diesem Haus überlebt haben“, antwortete ihr Freund. Zeitgleich mit seinen Worten fiel der mutmaßlich leblose Körper von Herrn Özdem nach vorne und knallte auf den Boden. Seine Freundin schrie ohne Vorwarnung schrill los und lies ihr Handy fallen. Sie standen in völliger Dunkelheit mit den Leichen und konnte nur das Kreischen wahrnehmen. „Er lebt“, schrie seine Freundin und begann dabei zu weinen. Sie drückte sich eng an ihren Freund und das gemeinsame Kind. „Reiß dich zusammen und heb dein Handy auf!“, pflaumte er sie harsch an. Mit Tränen in den Augen begann sich mit ihrer Hand auf dem Boden zu suchen. Dabei hörte sie ein Geräusch, dass wie ein heiseres Atmen klang. Leben sie doch noch? Voller Erleichterung fand sie ihr Handy und konnte die Taschenlampfenfunktion wieder einschalten. Sofort richtete sie den Lichtkegel auf das Sofa. Herr Özdem lag auf dem Boden, seine Frau und sein Sohn saßen unverändert auf dem Sofa. Gemeinsam mit seiner Freundin atmete er tief aus. Urplötzlich ertönte hinter ihnen ein ohrenbetäubender Knall und gelbe Flamen erhellten den Raum! „Der scheiß Wagen geht hoch! Wir müssen hier raus, mach die verdammte Tür auf!“, befahl er seiner Freundin. Diese griff nach der Tür, riss sie auf und beide kletterten auf den Balkon. Es folgte eine zweite Explosion und die Flammen loderten bereits im Flur der Wohnung. Sie ergriffen den Teppich und die Wände, breiteten sich mit mit rasender Geschwindigkeit aus. „Spring“ konnte er seiner Freundin noch zurufen, während er mit seiner. Tochter auf dem Arm bereits zum rettenden Sprung ansetzte. Im nächsten Moment war alles schwarz und still. Er spürte weder Wärme noch Kälte, dafür jedoch unendliche Aufregung.
Voller Schrecken riss er die Augen auf und beugte den Oberkörper nach vorne. Sein Herz raste und er atmete schnell. Im Fernsehen lief gerade der Abspann der letzten Folge. „Alles okay bei dir?“, fragte seine Freundin leicht entsetzt. „Sollen wir vielleicht besser etwas unternehmen?“. Er drehte seine Kopf langsam zu ihr und konnte sie zusammen mit ihrer Tochter erkennen, sie saßen entspannt auf dem Sofa. „Nein, das Sofa ist heute wirklich perfekt“, antwortete er knapp und ließ sich nach hinten fallen.