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Fett in der Sonne
Fett in der Sonne
Angewidert von sich selbst ging er um die Tafel rum, nahm sich Erbsen, nahm sich Häppchen, fraß im Stehen und nahm erneut. Wieder ging er um die Tafel, ignorierte all diejenigen, die vermessen genug waren, ihn anzusprechen, höflich distanziert oder mit vertrauter Freundlichkeit, egal. Diesmal nahm er Spargel, Sauce, Fisch und Fleisch und Kaviar, packte alles auf den Teller und fraß erneut im Stehen. Besteck hatte er keins. Ihm wurde welches angeboten, aber er grunzte nur ein: „Danke, nein.“
Und weil er von sich selbst so angewidert war, wandte er sich ab, versuchte zu verbergen, wie erbärmlich er das Leben anderer in sich hinein schlang, weil er selber keines hatte. Aber zu fett war er, zu fett, als daß er sich und seinen Teller, den er abermals mit wahllos zusammengeklaubten Köstlichkeiten von der Tafel befüllte, hätte verbergen können. Alle starrten, keiner lachte.
Die Anwesenden wollten ihm entfliehen, das wusste er genau. Wenn sein Blick einen anderen traf, stießen beide sich ab wie gleichgepolte Magnete und wurden irgendwohin geschleudert, meistens Richtung Boden. Dabei fraß er weiter, verteilte Teile seines Essens auf den Bauch, der unter den zu engen Klamotten hervorquoll.
Beschämt verschmierte er mit einer Hand die Speisereste auf seinem weißen Fleisch, immer in großzügigen Kreisbewegungen, er hatte Übung darin. Das machte er so lange, bis die Schmiere trocken wurde und in Form von Krümeln zu Boden gefegt werden konnte. Er legte keine Pause ein beim Fressen, produzierte mehr und mehr Nachschub für die schmierveredelnde Krümelindustrie, die doch nur rote Zahlen schrieb.
Warum sie blieben, war ihm ein Rätsel. Er fraß ihnen die Tafel leer, machte alles Schöne zunichte, weil fette Menschen tollpatschig und „volumenbedingt destruktiv“ sind, wie sein Vater immer sagte. Damit war sein Schicksal besiegelt gewesen, denn mehr als sein Fett hatte er nicht und mehr würde er niemals haben. Auch das hatte sein Vater ihn gelehrt.
Das Leben war nur eine Tafel, von der er fressen konnte, was andere darauf abgeladen hatten. Das widerte ihn an, wie es offensichtlich auch andere anwiderte. Allmählich fragte er sich aber, ob es wirklich richtig war zu versuchen, seine brennenden Gefühle in Fett zu ersticken, wie er es mit weniger brennenden Gefühlen glaubte geschafft zu haben.
Etwas drückte sein Fleisch ein, an der Seite, von unten. Er wandte sich um, hörte auf zu kauen.
„Los, weiterfressen!“
Die Kinderstimme war nicht allein, etwas anderes schwang darin mit und als er in das glatte, von dunklen Zöpfen umrahmte Mädchengesicht blickte, wusste er, daß er dem Tod gegenüberstand.
Kurz blickte er in ihre Augen, die so abgründig waren, daß er den Eindruck hatte, der Raum hinter den Höhlen sei mit nichts anderem gefüllt als einer dunklen Augenmasse, die in den Tod führt, wenn man hineinspringt.
Gedanken wie „Ob dieser Pudding hin und her schwappt, wenn man an dem Kopf rappelt?“ oder „Quillt das Augenlicht des Todes heraus, wenn man von hinten gegen den Mädchenschädel schlägt?“ kamen ihm in den Sinn.
Er stellte sich vor, wie die Masse gegen seinen weißen Bauch klatschte und er sie mit den Essensresten zusammen verrieb. Immer in kreisförmigen Bewegungen, wie er es gewohnt war.
Schwarze Krümel, die gut schmeckten, würden dabei entstehen, dessen war er sich sicher. Aber er wusste nicht, ob er es wagen würde, sie zu probieren.
Das Mädchen, das der Tod war, lächelte und öffnete seine Hose. Entsetzt nahm er wahr, wie sein Bauch mit Wucht nach vorne schnellte und hart wie ein Kartoffelsack auf den Boden schlug. Nervös blickte er sich um und schob erneut Essen vom Teller, den er wie ein exotisches Musikinstrument an seinen Mund hielt, in sich rein.
Als der Bauch zur Ruhe gekommen war und nicht länger wie eine Naturgewalt bebte, umarmte das Mädchen kichernd den von Menschen gemachten Berg, drückte sein kühles Gesicht hinein und biss verspielt in die Schwarte.
Verzweifelt schlang er alles runter, was er auf dem Teller hatte, wälzte sich samt Bauch und Mädchen zur Tafel, um abermals Essen auf das Porzellan in seiner Hand zu häufen. Aber der Tod streichelte ihn und flüsterte unschuldig klingende Aufforderungen in sein Fett, bis er nicht mehr an sich halten konnte. Er warf sein exotisches Musikinstrument achtlos über die Schulter.
Einige der Anwesenden verfolgten den Flug des Tellers, bis dieser auf dem polierten Marmorboden zerschellte und einen letzten unharmonischen Ton von sich gab. Andere jedoch sahen staunend zu, wie er sich mit weit ausladenden Bewegungen seiner Arme immer mehr Essen direkt vom Tisch in seinen gierigen Schlund baggerte.
Nicht einer der Gäste verabschiedete sich. Als seien sie ein Teil des Inventars geworden, blieben sie stehen und ließen das Schauspiel über sich ergehen. Wenn sie sprachen, dann nur mit gedämpften Stimmen.
Essen nahm keiner zu sich. Aber Angst hatten sie und nicht einer unter ihnen konnte sagen, was der Grund dafür war.
Nach unzähligen Minuten war die Tafel leer. Das Mädchen klammerte sich immer noch an sein Fett. Mittlerweile war seine gesamte Kleidung geplatzt und hing sinnlos an ihm herunter. Es kümmerte ihn nicht.
Schwer atmend stand er da, gestützt auf seinen Bauch, und blickte in das Antlitz des Mädchens. Das Lächeln darin wollte überhaupt nicht dazu passen, schien über die Grenzen des Gesichts hinweggewachsen zu sein.
„Bist du jetzt fertig mit mir, du verdammter Scheißkerl?“ Seine Stimme klang gepresst.
„Wer sagt denn, daß ich gekommen bin, um dich zu holen, Häuptling Schweiß-in-der-Kerfte, hä?“ Noch immer war das Lächeln da, perfekt, kalt; freudlos.
Verwunderung machte sich auf dem runden Gesicht breit. „Warum bist du dann hier?“
„Du hast nicht aufgegessen, Schwabbelbacke. Na komm, da drin ist noch Platz für eine ganze Kompanie, mein Dicker!“ Der Tod drehte seinen mit Locken bewehrten Kopf und blickte auf die Gäste im Raum. Gesichts- und namenlos standen sie da, wie erntereifes Getreide auf dem Acker.
Er ächzte, sein Atem ging rasselnd. „Erzähl keinen Mist! Wenn sie dran sind, sind sie dran und du holst sie. So läuft das Spiel, das weißt du besser als ich. Also, was willst du von mir?“
„Bringe das zu Ende, was du angefangen hast und friss in dich hinein, was du brauchst. Nur so bleibst du am Leben und kannst mir entgehen. Habe ich mich klar ausgedrückt, du wandelnde Schmalzbombe?“ Die Stimme hatte nun nichts mehr von einem Mädchen an sich, aber die Hand strich unverändert zart über die vom Fett gewölbte Haut.
„Glasklar, Arschloch“ Und in der Tat hatte er verstanden, daß für ihn die Zeit gekommen war, sich zu entscheiden. Leben auf Kosten anderer? Selbst immer fetter werden und sich nicht mehr rühren können? Oder gab es noch eine weitere Möglichkeit?
Kurz dachte er nach, dann hatte er seine Entscheidung getroffen. Entschlossen packte er das Mädchen an den Hüften und hob es hoch. Dann schluckte er seinen Tod herunter und es fiel ihm nicht schwerer, als nähme er eine Tablette gegen Übelkeit ein.
Gefasst schmolz er wie ein Stück Fett, das man achtlos in der prallen Sommersonne liegen gelassen hatte.
Je weiter er in sich zusammenfiel, desto ruhiger wurde er. Und während seine Sinne für ihn spürbar in die Dunkelheit abdrifteten, nahm er seine Gefühle mit einer Klarheit wahr, die er nicht kannte und für die er eine tiefe Dankbarkeit verspürte. Sie brannten nun nicht mehr. Im Moment seines Todes hatten sie endlich aufgehört zu brennen.
Die Gäste gingen nach Hause. Einige beschwerten sich über den Fettwanst, der das Buffet leergefressen hatte. Die meisten jedoch waren erleichtert, auch wenn sie nicht erklären konnten, was überhaupt vorgefallen war. Sie gaben jedoch einheitlich zu verstehen, daß sie das vage Gefühl hatten, mit dem Leben davongekommen zu sein.
Manche verspürten sogar ein wenig Dankbarkeit für den fetten Mann, der alles weggefressen hatte. Wären diese wenigen mit offenen Augen durchs Leben gegangen, wäre ihnen vielleicht in den Sinn gekommen, weshalb sie ihm dankbar waren. So jedoch verblieb nur ein unbestimmtes Gefühl, das schon bald vergessen war. Vergessen wie ein Stück Fett, das irgendwann mal in der Sonne geschmolzen war.
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© by Theryn