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Festhalten

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01.09.2005
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Festhalten

Und dann heißt die Band auch noch Memory Bane. Sven findet, sie klingen wie Knocked Loose mit Trompete. Ob das mutig ist oder bescheuert, muss das Internet entscheiden. Sven macht nur Fotos.
Den Kids gefällt es. Den Hardcore-Kids. Ein paar davon sind sechzehn, ein paar sind sechsundvierzig. Immerhin gibt es jetzt wieder welche. Hardcore-Kids. Frisches Blut. Unter vierzig, unter dreißig sogar. Straight Edge ist wieder wer. Warum auch immer. Alles Gute kommt wieder. Alles Schlechte auch. Vielleicht eine Nachwirkung von Corona. Alles ist ja eine Nachwirkung von Corona jetzt.
Auf einer Skala von eins bis zehn ist die Brutalität des Moshpits eine sechs. Ein paar schlagen und treten um sich. Aber wer im Gesicht getroffen wird, bekommt eine Entschuldigung. Das ist auch nicht immer selbstverständlich. Svens größte Sorge ist nicht sein Gesicht, sondern seine Kamera. Die war teuer. Er geht immer rein. Dahin, wo die Fäuste fliegen. Er schubst und wird geschubst. Und drückt dabei auf den Auslöser. Dafür feiern sie seine Bilder. Wie nah er dran ist. Wie man im Pit dabei ist, wenn man die ansieht. Wie er das festhält.

Nach dem Konzert kommt Jule zu ihm. Sie ist erst zwanzig, hat aber Judge auf dem T-Shirt. Bringin’ It Down. Am Hals ist es eingerissen. Sie riecht nach Schweiß. Sven klickt sich durch die Bilder.
„Die müssen gut sein,“ sagt Jule. Sie mochte die Band.
Sven sieht von seiner Kamera hoch und lächelt. Er ist seit 2000 dabei, aber er will nicht klingen, als würde er vom Krieg erzählen. „Auf jeden Fall“, sagt er.
Jule geht ans Handy. „Was?“, sagt sie. „Nein, vergiss es.“
Sven zuckt, hält die Kamera fest.

Am Sonntag ist er bei den Eltern. Seine Mutter fragt, wie es bei der Arbeit läuft. Ob sein Job noch sicher sei bei der Kasse, die Leute machen ja fast alles nur noch mit dem Computer.
„Ist nichts mehr sicher“, sagt Sven. „Ist aber egal. Nehme ich Bürgergeld und mache Fotos. Das mit den Fotos hatte ich erzählt, oder? Den Job mache ich ja nur wegen der Miete.“
Vor zwanzig Jahren hätte seine Mutter nicht gelächelt, wenn er so was sagt. Der Vater spießt die Erbsen einzeln auf. Die Mutter fragt, ob einer von ihnen noch was zu trinken haben möchte. Der Vater sieht hoch und blickt Sven an. „Seit wann wohnen Sie jetzt nebenan?“
Das Lächeln der Mutter verändert sich. Sie streicht dem Vater über das Handgelenk.
Sven sehnt sich nach dem Pit. Er will ihn festhalten. Alles kommt nämlich nicht wieder.

Gar nichts eigentlich.

 

Lieber @Proof

So mag ich Flash Fiction, kurz&gut, knappe Sätze, klug gesetzt mit viel Geschichte dahinter.
Ich hab die Bandnamen und den Begriff Moshpit nicht gegoogelt. Erschliesst sich mMn aus dem Kontext, wird sowas wie die wogende tanzende Menge sein, die – einmal in Extase geraten – halt auch ihre "Opfer" fordert.

Aber wer im Gesicht getroffen wird, bekommt eine Entschuldigung.
Sohnemann, mittlerweile Anfang 30, erzählte mir mal von so Konzerten, wie da ein schützender Kreis gebildet wird, wenn jemand aus Versehen umkippt. Fast so Ehrenkodex mässig. Fand ich noch cool. Er selber geht nicht mehr ganz ins Epizentrum, meinte, er werde wohl langsam alt. :)

Er ist seit 2000 dabei, aber er will nicht klingen, als würde er vom Krieg erzählen. „Auf jeden Fall“, sagt er.
Sehr schön das Generationenthema platziert.

Jule geht ans Handy. „Was?“, sagt sie. „Nein, vergiss es.“
Sven zuckt, hält die Kamera fest.
Einziger Moment, der sich mir noch nicht erschliessen will.

Der Vater spießt die Erbsen einzeln auf.
Nachtigall, ich hör dich trappsen ...
„Seit wann wohnen Sie jetzt nebenan?“
... eben. Brutal, Demenz ist ne Bitch.

Gar nichts eigentlich.
Bin ich mir noch unschlüssig, ob es den Satz braucht.

Schönes Gesellschaftsstück mit harten Tönen, seis die Musik, oder der Kampf wider des Vergessens. Fein gemacht, sehr gerne gelesen.

Liebgruss, dot

 

Hallo @Proof,

eine gelungene Kombination von Stil und Inhalt: Auf dem Konzert wird alles bruchstückhaft wahrgenommen, der Action und dem Unpersönlichen geschuldet. Bei den Eltern werden wieder Sätze gesprochen, eine gewisse Nähe wird spürbar, die Sorge der Mutter, die Reminiszenz an Vergangenes.

Dann die plötzliche Wende in deiner Geschichte, die eigenen Belange werden dem Problem des Vaters gegenübergestellt.
Das Demenzthema ist ziemlich überstrapaziert, läßt sich gut als Gefühlstrigger benutzen. Die Stärke deines Textes liegt gerade darin, dass er nüchtern ist. Das Leiden des Protagonisten und die daraus folgende Flucht in den Pit läßt keinen Raum für Tränendrüsengedrücke, sondern einfach nur für eine raue Wirklichkeit, deren Verdrängungsfunktion erst rückblickend deutlich wird.

Jule geht ans Handy. „Was?“, sagt sie. „Nein, vergiss es.“
Hier habe ich mich gewundert, warum die Äußerung Eindruck auf ihn macht ... später stellt man fest: Wie froh wäre er, wenn sein Vater nicht vergessen würde ...

L G,

Woltochinon

 

Hallo @Proof,


ein schöner Text über unterschiedliche Facetten des Festhaltens. Am besten gefallen mir die vielen innertextlichen Bezüge, von denen man bei mehrmaligem Lesen immer mehr findet und versteht, selbst auf diese Kürze. Auch die schlichten, knappen Sätze, in die das Ganze gekleidet ist, gefallen mir und zeigen auch eine gewisse Härte, wie im Moshpit, wo man versucht, der Weichheit, die einen Weinen machen möchte, etwas entgegenzusetzen.
Interessant finde ich den Aspekt des auch Moshpits deswegen, weil Sven einen gewissen Teil des Festhaltens, oder so finde ich zumindest, in dem Moment aufgibt, in dem er Fotos aufzunehmen beginnt, die gewissen Ansprüchen anderer genügen sollen und er somit eine Ebene zwischen sich und dem zu Erlebenden schaltet, die ihn sogar daran hindert, selbst mitzuerleben, sinnlich, ohne sich auf was anderes konzentrieren zu müssen. Er wirkt dem eigenen Wunsch entgegen, möglichst viel vom Pit im Erleben abzuspeichern. Dafür kann er auf eine andere Version als Stütze zurückgreifen. Aber das, was eigentlich vom Erleben lebt und sich nicht feshalten lässt, auch das roh-sinnliche, gibt er in dem Moment auf, es prägt sich vielleicht sogar weniger tief ein. Das, wo es eigentlich nicht darum geht, es "als Ding besitzen zu wollen".
Es gibt trotz der Kürze der Geschichte auch viele Nebenschauplätze, die ich adäquat eingepflegt finde und interessant als Details von gesellschaftlichen Trends. Sven ergibt für mich eine Figur, die sich dadurch auch beim Lesen gefühlt anreichern lässt, ohne dass einer der Nebenschauplätze zur unnachvollziehbaren Statisterei wird. Etwa, dass die Existenz im Sinne eines Brotjobs nicht (mehr) so viel Bedeutung beigemessen wird, dass Sven neben einem Job einer "Karriere" nachgeht, die mehr von Leidenschaft als von Notwendigkeit getragen ist, dass auch lange Erwachsene (Sven ist in meinem Leseverständnis den Hardcore-Kids, die schon 46 sind, gar nicht mehr so weit entfernt), einen eher jugendlichen Lebensstil mit dazugehörige Merkmalen pflegen. Das sind durchaus Trends, die sich in meinem Verständnis beobachten lassen.
Also jagt er das aufregend-spürbare Leben eher, wie in einem Fight Club, kommt seinem Ziel, es für das eigene Leben festzuhalten aber gar nicht sehr nahe, getrieben aber auch durch seine Familiengeschichte mit dem dementen Vater, das miterleben, dass auch auf die Erinnerungen des Lebens möglicherweise kein Zugriff mehr bestehen kann. Dass das Festhalten eben vergebens bleiben muss.
Spannend finde ich auch Jule, die für mich nochmal zeigt, wie "junggeblieben" Sven ist im Sinne davon, dass er den Lebensmittelpunkt scheinbar nicht in der Welt vieler seiner Gleichaltrigen hat, für die der Beruf eine andere Bedeutung hat, die vielleicht Familie haben. (Sven ist in meiner Vorstellung Single). Daher fand ich letzthin auch die Corona-Erwähnung sinnig, weil es etwas hilft, zu berechnen, wie alt Sven etwa sein könnte. Aber auch dieses "Alles kommt wieder" scheint er aus eigener Erfahrung zu kennen, dann ist er keine 25 mehr. Alles kommt wieder im Sinne der Erinnerung im Text ja leider nicht.
Und ein bisschen Straight Edge gegoogelt habe ich auch nochmal, das ist alles schon ganz schön viel für so einen "kleinen" Text.

Interessant!
Viele Grüße,
Helen

 

Jule geht ans Handy. „Was?“, sagt sie. „Nein, vergiss es.“
Hier habe ich mich gewundert, warum die Äußerung Eindruck auf ihn macht ... später stellt man fest: Wie froh wäre er, wenn sein Vater nicht vergessen würde ...
:bonk: so genial, ich hab's nicht erkannt. Merci Wolto.

 

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