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Festhalten
Und dann heißt die Band auch noch Memory Bane. Sven findet, sie klingen wie Knocked Loose mit Trompete. Ob das mutig ist oder bescheuert, muss das Internet entscheiden. Sven macht nur Fotos.
Den Kids gefällt es. Den Hardcore-Kids. Ein paar davon sind sechzehn, ein paar sind sechsundvierzig. Immerhin gibt es jetzt wieder welche. Hardcore-Kids. Frisches Blut. Unter vierzig, unter dreißig sogar. Straight Edge ist wieder wer. Warum auch immer. Alles Gute kommt wieder. Alles Schlechte auch. Vielleicht eine Nachwirkung von Corona. Alles ist ja eine Nachwirkung von Corona jetzt.
Auf einer Skala von eins bis zehn ist die Brutalität des Moshpits eine sechs. Ein paar schlagen und treten um sich. Aber wer im Gesicht getroffen wird, bekommt eine Entschuldigung. Das ist auch nicht immer selbstverständlich. Svens größte Sorge ist nicht sein Gesicht, sondern seine Kamera. Die war teuer. Er geht immer rein. Dahin, wo die Fäuste fliegen. Er schubst und wird geschubst. Und drückt dabei auf den Auslöser. Dafür feiern sie seine Bilder. Wie nah er dran ist. Wie man im Pit dabei ist, wenn man die ansieht. Wie er das festhält.
Nach dem Konzert kommt Jule zu ihm. Sie ist erst zwanzig, hat aber Judge auf dem T-Shirt. Bringin’ It Down. Am Hals ist es eingerissen. Sie riecht nach Schweiß. Sven klickt sich durch die Bilder.
„Die müssen gut sein,“ sagt Jule. Sie mochte die Band.
Sven sieht von seiner Kamera hoch und lächelt. Er ist seit 2000 dabei, aber er will nicht klingen, als würde er vom Krieg erzählen. „Auf jeden Fall“, sagt er.
Jule geht ans Handy. „Was?“, sagt sie. „Nein, vergiss es.“
Sven zuckt, hält die Kamera fest.
Am Sonntag ist er bei den Eltern. Seine Mutter fragt, wie es bei der Arbeit läuft. Ob sein Job noch sicher sei bei der Kasse, die Leute machen ja fast alles nur noch mit dem Computer.
„Ist nichts mehr sicher“, sagt Sven. „Ist aber egal. Nehme ich Bürgergeld und mache Fotos. Das mit den Fotos hatte ich erzählt, oder? Den Job mache ich ja nur wegen der Miete.“
Vor zwanzig Jahren hätte seine Mutter nicht gelächelt, wenn er so was sagt. Der Vater spießt die Erbsen einzeln auf. Die Mutter fragt, ob einer von ihnen noch was zu trinken haben möchte. Der Vater sieht hoch und blickt Sven an. „Seit wann wohnen Sie jetzt nebenan?“
Das Lächeln der Mutter verändert sich. Sie streicht dem Vater über das Handgelenk.
Sven sehnt sich nach dem Pit. Er will ihn festhalten. Alles kommt nämlich nicht wieder.
Gar nichts eigentlich.