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Festgenommen
Ich könnte vom Tanzen erzählen. Das mache ich aber nicht mehr. Oder vom Kickboxen, mache ich aber auch nicht mehr. Ich könnte von der Rothaarigen beim Penny erzählen, wo sie sich regelmäßig vor ihrem Fanclub auszieht und Lieder singt. Ich könnte erzählen, wie wir auf Gruppenfahrt mit neun oder zehn unsere ersten Tattoos bekommen haben. Ich könnte erzählen, dass mein Onkel mich ein einziges Mal umarmen durfte und danach nie wieder. Dass ich mir ab da die Haare schwarz färbte. Ich könnte von der fetten Lizzo und ihrem Beef mit Cardi B. und Nicki Minaj erzählen. Was dachte sie sich dabei, mit wem sie sich anlegt? Zumindest ist ihr Hintern echt. Ich könnte von der Narbe am Unterarm erzählen, nachdem ich beim Schulreiten abgeworfen wurde. Oder dass KuchenTV endlich sein schmutziges Auto waschen sollte, wann ich meinen Vater das letzte Mal gesehen habe oder dass ich schlecht im Kochen bin. Ich könnte erzählen, wie beschissen ich meinen Namen finde. Ehrlich, wer heißt schon Gesine?
Stattdessen erzähle ich von meiner Mutter. Als sie vorbeikam, hatte sie fast keine Luft mehr in der Lunge. Obwohl ich selbst einkaufe, brachte sie mir immer noch Essen. Ich aß bereits eine Schüssel Müsli. Bevor sie anfing, mir einen französischen Zopf zu flechten, wollte ich aufessen, um keine Haare in den Mund zu kriegen oder damit ihr Zigarettengeruch nicht den Geschmack übertüncht.
„Mann, pass auf!“, schrie ich.
Sie schlug meine Hand weg und zischte. Im großen Spiegel beobachtete ich, wie sie arbeitete. Durch das offene Fenster hörten wir die Bahn donnern. Meine Wohnung lag neben den Gleisen.
„Ich hätte vor zehn Minuten losfahren müssen.“, sagte sie.
„Selber schuld, wenn du nie deinen Wecker stellst.“
Sie riss an meinem Zopf und maulte herum: „Mach die Klappe zu und gib mir den Gummi!“
Unbeeindruckt legte ich mithilfe des Spiegelbildes den Gummi in ihre Hand und fühlte ihre langen Fingernägel und klobigen Ringe. Sie schwang den Zopfhalter um meine Haare. Ich schaute in den Spiegel, sehr lange. Dann, zum ersten Mal, fiel es mir auf. Ich hatte gar keine Mutter. Meine Augen weiteten sich. Ich war allein in der Wohnung. Tatsächlich hatte ich den Zopf allein geschafft. Mir verging der Appetit.
Wegen der Arbeit blieb keine Zeit zum Nachdenken. Ich verwechselte einen Kugelschreiber mit einem Kajalstift. So etwas ist mir noch nie passiert. Ohne Schminke hinauszugehen, war mir plötzlich gut genug. Was ich auf dem Weg zur Tür greifen konnte, nahm ich mit. Ein paar Male drehte ich mich um. Im Fahrstuhl zog ich mich fertig an. Auch dort gab es einen großen, aber dafür zerkratzten Spiegel. Ich machte mit dem Schauen auf mein Spiegelbild weiter. Jede Sekunde mehr fühlte es sich an, als wäre es verdammt nochmal lebendig.
*
„Hi, ich hab heute fast vergessen. Seit Freitag schläft sie gar nicht. Es ist die Hölle!“
Nach eineinhalb Stunden Fahrt stand ich bei Leni und ihrer Mutter im stockdusteren Flur. Leni freute sich wie Bolle, mich zu sehen und sabberte ihr Halstuch voll. Ich schob den Therapiestuhl in die Küche, während mir Molly mit hoher Stimme erklärte, was ihre Tochter essen soll.
„Bist du dort erreichbar?“, fragte ich.
„Mein Anwalt sagt immer, mein Handy darf nicht mal auf Vibration gestellt sein. Die sollen mir das nicht auch noch wegnehmen. Wenn sie gewaschen werden muss, mach ruhig!“
Ich verdrehte unauffällig die Augen. So lange könnte der Gerichtstermin also dauern. Mein Arbeitgeber mochte eigentlich nicht, wenn wir Kindern Windeln wechseln oder sie sogar waschen.
Vorsichtig erkundigte ich mich weiter: „Also, wie lange würde sie denn eine volle Windel aushalten?“
„Du kennst sie doch. Die kriegt gar nix mit. Lass sie aber nicht zu lange drin! Ich kann die Waschmaschine erst morgen benutzen.“
Molly bückte sich zu Leni und gab ihr einen Kuss auf eine trockene Stelle ihrer Wange. Verständlich, den Rotz würde ich auch nicht abhaben wollen. Sie gab mir den Schlüssel und bat mich, mit ihr hinauszugehen. Als wir uns im Flur verabschiedeten, hörten wir nebenan die Tür auf gehen. Als man uns bemerkte, wurde sie auffällig wieder zugemacht. Molly drehte sich zu mir um und machte eine Kotzgeste. Grinsend lief sie zum Fahrstuhl und ich schaute nach Leni.
„Lass mal sehen! Brei, Brei und Schokolade.“
Leni gurrte und schwenkte den Arm Richtung Schokolade, als ich sie hochhielt. Ich fragte mich, ob ihre Mutter von mir erwartete, dass ich es ihr gebe, obwohl Leni doch Allergien hat.
„Hat deine Mama wieder das süße Zeug ausgekramt, um mich zu beeindrucken?“, fragte ich sie.
Natürlich erwartete ich keine Antwort. Sobald sie mich anstarrte und sich nach vorne beugte, sollte ich mit ihr spielen. Das haben wir zusammen trainiert. Ich musste lachen und erlöste sie von ihrem Warten. Im Kinderzimmer lag das Spielzeug schon - oder noch - auf dem Boden. Obwohl Leni acht Jahre alt war, mochte sie Babyspielzeug. Mittlerweile war ich es gewohnt, über Stunden mit ihr zu sitzen. Ich redete einfach mit mir selbst und gab ihr mal ein neues Spielzeug. Es reichte zumindest für Leni und es reichte, um meine Miete zu bezahlen.
„Soll ich dir was erzählen?“
Ich schaute Leni an, die sabbernd zu mir hoch sah und immer wieder vor Begeisterung schrie.
„Letztens hat mir ein Prinz einen Antrag gemacht. Er sah aber hässlich aus. Also habe ich ihm einen Korb gegeben. Wie? Glaubst du, ich lüge, oder was?“
Ich musste grinsen. Natürlich war ich mir sicher, dass sie nichts davon verstand, aber sie guckte so, als wäre sie interessiert.
„Du bist echt verrückt, Leni, weißt du das? Hä? Okay, dann wieder Tuut Tuut Eisenbahn.“
Es klingelte mehrmals an der Tür. Die Nachbarin. Wahrscheinlich hatte sie gewartet, bis Molly weg war. Ich musste also meine Klappe halten.
„Das Kind schreit nachts und jetzt geht es weiter“, sagte die alte Frau.
„Ich kann das nicht abstellen. Sie ist halt so“, erwiderte ich.
Plötzlich kam noch so eine Alte aus dem Fahrstuhl, grüßte uns, hörte die Beschwerde und wollte mitreden. Ich war kurz davor, die Tür zuzuknallen. Ich bemühte mich, freundlich zu bleiben.
„Ich kriege ja auch ständig mit, wenn die Mutter ihre Freunde einlädt.“, sagte die andere.
„Hören Sie, ich muss zum Kind zurück. Sie kann schnell an ihrer eigenen Spucke ersticken. Also, wenn Sie so nett wären.“
Die Omis gaben den Platz an der Tür zögerlich auf. Vor allem das neue Brüllen von Leni war für die beiden eine Einladung, mehr Beweise vorzuführen. Wir verabschiedeten uns und ich rannte schnell ins Kinderzimmer. Manchmal wusste man nicht, welche Art von Schrei es ist.
„Du fällst auf, meine Liebe“, sagte ich und wechselte das feuchtwarme Halstuch.
Sämtlicher Spaß war mir nach dem Treffen mit den Weibern vergangen. Ich war so abgelenkt, dass ich Leni beinah die falschen Schuhe anzog.
Ich hob sie in einen Rollstuhl und meinte: „Deine Mutter wollte doch einen Babysitter besorgen. Wird wohl ein langer Tag heute. Zeig denen, dass du leise spielen kannst, okay?“
Mir hätte klar sein müssen, dass die Schlampe niemanden gefunden hatte, als sie von einem neuen "Kumpel" sprach. Das Mädel war 23 und hatte für Leni bereits vier potentielle "Kumpels". Da kam doch kein Kerl mehr freiwillig vorbei. Stattdessen saß ich auf einer Parkbank, während Leni bedeppert vor sich hin gaffte. Ein paar Kinder dort waren scheinbar neu.
„Was hat sie denn?“
„Gar nichts, sie sitzt einfach im Rollstuhl.“
„Bist du ihre Mama?“
„Nein, ich passe auf.“
„Wo ist ihre Mama hin?“
„Ey, müsst ihr nicht spielen oder so? Sie hat kein Interesse an euch.“
Es war ruhig. Obwohl einige Kinder und gelegentlich Lenis Schreien zu hören waren. Ich überlegte, ob ich eine Freundin anrufe. Mit Leni ging so etwas, weil sie niemandem davon erzählen konnte. Ich verstand immer noch nicht, was heute Morgen passiert war. Wie kam mir das mit der Mutter in den Sinn? Noch einmal griff ich nach meinem Zopf. Er war fast zu perfekt geflochten. Leni wollte wohl in den Sandkasten und krümmte sich ständig. Irgendwie hatte ich darauf keinen Bock und ging mit ihr zurück. Auf dem Weg nach oben donnerte sie ihren Kopf immerzu gegen die Lehne. Normalerweise lief es erträglicher, bis ihre Mutter zurückkam. Heute konnte ich sie kaum erwarten.
Der Schlüssel steckte schon, als die Nachbarin mit ihren Einkaufstaschen aus dem Fahrstuhl stieg. Leni schrie oder lachte, was auch immer sie mitteilen wollte. Hinter uns fühlte ich die Energie der blöden Kuh. Ich spürte, wie sie etwas kritisieren mochte. Dann muss ich mich umgedreht und irgendwas gesagt haben. Ich sah bruchstückhaft Lenis Kopf und den dunklen Flur. Plötzlich wich die Nachbarin etwas zurück.
„Ist ja gut!“, sagte sie mit runzliger Stirn, „Einen schönen Tag noch.“
Sie verschwand eilig in ihrer Wohnung. Ich betrat mit Leni den Flur. Meine Hand schloss die Tür wie von allein. Die Spucke lief und ich wusste nicht, was los war. Während ich immer noch dort stand, war mir auf einmal so als hätte sie etwas über die dunkle Wohnung geredet und dass ich zu ihr meinte, die Stromrechnung ginge sie nichts an. In der Küche sank ich in den Stuhl. Nach einer Weile fühlte ich die Schwere wieder an den richtigen Stellen meines Körpers. Leni war schon wieder am Schwingen der Arme. Ich bemerkte, dass wir fast eine halbe Stunde zu spät mit dem Essen dran waren. Ich holte sterile Sondierungsspritzen heraus. Irgendwann boxte sie mich.
„Warte doch! Spielen ist jetzt vorbei!“, ermahnte ich sie.
Leni versuchte, etwas am Tisch zu erreichen. Ich beeilte mich mit dem Essen und versuchte mich wieder mit ihr zu unterhalten. Langsam gingen mir jedoch die Worte aus. Irgendwie war ich weit weg, obwohl sie direkt neben mir saß. Meine schweren Hände landeten auf ihre kleinen Schultern und ich schaute ihr fest in die Augen. Sie guckte mich bedeppert an und wirkte wie versteinert. Ich wusste weder was ich von ihr wollte noch wozu ich ihre Schultern packte. Nach viel zu wenig Tee kündigte ich ihr betreten an, ins Kinderzimmer zu gehen. Ankündigen, fragen, zuhören, Augenhöhe. Alles aus der Ausbildung kam wieder in mein Bewusstsein zurück. Erleichtert begann ich mit ihr zu spielen. An dieser Stelle wurde mir auch die volle Windel egal. Beim Lesen drückte ich sie an mich. Leni war nie ein Kuschelkind gewesen. Doch sie mochte mich und wehrte sich nicht.
Das Klicken des Schlosses war zu hören. Leni wurde aufgeregt und gurrte. Es war Molly, die uns fröhlich begrüßte. Sie hatte Erfolg vor Gericht und erzählte mir Einzelheiten, die ich nicht hören wollte. Von den Nachbarinnen redete ich lieber nicht.
„Sie hat in die Windeln gemacht. Ich wollte sie gerade wechseln, aber dann warst du schon da“, sagte ich wenig überzeugend.
„Macht nichts! Das übernehme ich jetzt.“
Sie schob Leni in den Flur, damit sich beide von mir verabschieden konnten: „Sag Gesine auf Wiedersehen!“
Sofort fiel mir auf, dass sie die Verabschiedung geändert hat. Normalerweise hieß es: „Sag Gesine bis nächstes Mal!“.
Ich antwortete winkend: „Bis morgen, Leni!“
Auf der Straße stürzten die Gedanken auf mich ein. Ich würde Leni nie etwas antun. So ein Schwachsinn! Verwirrt über meine Überlegungen lief ich, anstatt die Bahn zu nehmen. Ich bog in Wege ein, die ich nicht kannte. Meine Beine trugen mich. Manchmal blieb ich vor Imbissen stehen. Appetit hatte ich aber nicht. Dann sah ich ein paar Backsteingebäude, welche ich zuerst nicht als Klinik erkannte. Es sah komisch aus in dieser Straße. Auf der einen Seite konnte man munter einkaufen und auf der anderen Seite waren diese unscheinbaren Häuser.
*
Später fand ich mich bei einer der vielen Anmeldungen wieder. Irgendwie hatte ich mit Sirenen oder Menschen in Gipsen gerechnet. Alles war ruhiger als erwartet. Mittlerweile waren meine Haare offen und ich knabberte leidenschaftlich ein paar Snacks. Ein netter Mann kam mir entgegen und ich folgte ihm. Er bat mich in einen Raum und bot mir einen Stuhl an.
„Bin ich festgenommen?“, fragte ich.
Ein Ruck ging durch den Raum. Der Mann schaute mich verdutzt an und fragte: „Was?“
„Was?“, wiederholte ich fast zeitgleich.
Mein Versuch, abzulenken, gelang. Er wollte sich definitiv die Augen reiben. Die Ablenkung musste weitergehen. Es durfte keine Gelegenheit zum Nachfragen geben. Also sprach ich wieder.
„Muss ich bleiben?“, wollte ich wissen.
„Ähm, da Sie sich selbst gemeldet haben, dürfen Sie die Station auch wieder verlassen. Wir nehmen Sie auf, wenn Sie es möchten.“
„Nein, danke!“
Ich bildete mir ein, dass eine kräftige Ablehnung, ihn und die zwei Pflegerinnen dazu bringen würde, von mir abzulassen. Die Frauen warteten weit entfernt auf sein Zeichen. Mir ging die Pumpe. Ich hatte zu viele Filme gesehen. Er war einer von der beherrschten Sorte, so eine Art junger Pfarrer.
„Wie kam es denn dazu, dass Sie sich hier angemeldet haben, Frau Ziegler?“
„Ich wollte gar nicht hierher!“
Damit setzte ich meine Taktik fort.
„Sie müssen nicht darüber reden. Manchen Menschen tut so etwas gut. Gibt es einen Grund, warum Sie heute zu uns gekommen sind?“
Dieser Mann hatte nicht nur ein Unschuldsgesicht, sondern auch eine Engelsgeduld. Es fiel mir schwer, ihm bei diesen Fragen in die Augen zu schauen. Je länger ich dort saß, desto mehr wurde ich zu seinem Rührteig. Er hätte mich zu jeder Sorte Kuchen oder Brot backen können, ohne mich zu fragen, ob ich nicht lieber eine Brezel sein möchte. Wir saßen da und schwiegen einander an. Einmal schluckte er etwas lauter, was ich in der Situation mit einer lauten Hupe verglich. Es blieb nur die Sackgasse des Schweigens oder ich versuchte, das Ruder herumzureißen.
„Ich schätze“, stammelte ich, „ich bin einfach nur überarbeitet.“
Staunend über meine eigenen Worte schloss ich meinen Mund und schaute hoch in seine Augen. Er sah mich verständnisvoll an und wartete, elendig lang. Ich musste das ganze hier abbrechen.
„Sie haben einen anspruchsvollen Job, ist es das?“, fragte er.
Ich packte meine Tasche, die fast leer war, und sagte ihm als auch den Pflegerinnen, dass ich nun nach Hause müsse. Sie verabschiedeten sich mit einem verlogenen Lächeln.
„Alles Gute!“, riefen sie mir zu.
Als ich durch die Tür ging, vermisste ich ihn bereits. Krankenhäuser sind wie große Labyrinthe. Ich rannte andauernd in überraschte, müde Gesichter und versuchte zu verstecken, dass ich aus der Richtung der Psychiatrie kam. Warum muss die Klinik das auch so nennen? Über einen kieseligen Seitenausgang erreichte ich eine beleuchtete Bushaltestelle. Mit dem Schritt auf den grauen Asphalt, verließ ich das Gelände. Ich wartete und konnte nun nachlesen, wo ich in der Stadt unterwegs war. Nur ein paar Minuten später nahm ich endlich den Bus nach Hause.