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Fernsehen
Corbinian fuchtelt mit den Armen. Auf den Wangen des Redakteurs haben sich rote Flecken gebildet.
Wie bei einer Matruschka, denkt sich Matthias und schmunzelt. Jetzt kommt bestimmt gleich der nächste geniale Vorschlag.
„Also, ich fange mal mit der Eröffnungsshow an. Die Kandidaten reiten auf Shetlandponys über einen Teppich aus Schnee ins Studio. Was meint ihr? Ist ja Dezember, passt doch super, oder?“
Mit großen Augen und leicht gebeugtem Rücken wirft Corbinian erwartungsvolle Blicke in die Runde. Sein T-Shirt reicht bis zu den Knien und ist durchlöchert. Die Jeans sind enger als die der Kolleginnen, die Füße stecken in sommerlichen Espadrilles.
Matthias schreibt „Eröffnung der Show“, „Shetlandpony“ und „Schnee? Kunstschnee?“ in sein Notizbuch und muss sich darauf konzentrieren, nicht mit dem Kopf zu schütteln. Er arbeitet hier schon eine ganze Weile als Aufnahmeleiter, an manches kann er sich aber nach wie vor einfach nicht gewöhnen. Dann sieht er hoch und beobachtet die Reaktionen am Tisch. Links begeistertes Nicken, rechts ungläubige Blicke.
Links sitzen die Kollegen aus der Redaktion. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man glatt denken, die Damen seien gerade aus einem Modemagazin gehüpft. Da sitzt alles, jede Haarsträhne, jeder Lidstrich, ja sogar die Falten der Bluse scheinen genau durchdacht zu sein.
Echt unsexy, findet Matthias.
Die Männer, nun ja … Hipster aus dem Bilderbuch. Seltsame Zeiten sind das, in denen alles betont lässig aussehen soll, aber doch so verkrampft wirkt. Die Hosen sind allesamt zu eng, die Füße vegetieren barfuß in seltsamen Lederschuhen und die Shirts sind asymmetrisch. Einer trägt sogar einen Strohhut. Keck sitzt er ihm schräg auf dem Kopf, nach dem Motto: „Den habe ich mir ganz spontan aufgesetzt.“ Sicher stand er minutenlang vor dem Spiegel, um den perfekten Winkel herauszufinden.
„Gar nicht schlecht, Corbi. Immerhin lungern die ja dann auch zwei Monate auf dem Bauernhof rum. Wir könnten im Publikum Möhren und Leckerli verteilen und den Zuschauern sagen, sie sollen die Ponys damit ablenken. Das gibt bestimmt lustige Bilder, wenn die völlig verpeilt ins Studio reiten und es einfach nicht hinkriegen, beim Moderator anzukommen.“
Ein schadenfrohes Lachen von links. Melanie, die sich aber nur „Mel“ nennt, lehnt sich zufrieden zurück.
„Sagen wir das den Kandidaten vorher?“, will die Praktikantin Yvonne wissen.
Süß. Matthias betrachtet das unschuldige Gesicht der 18-Jährigen. Da ist wohl jemand ganz neu hier.
„Was? Nein, natürlich nicht.“ Corbinian dreht sich nach rechts. „Ihr müsstet also abklären, wo wir Shetlandponys herbekommen und wie wir das mit dem Schnee machen und dann …“
„Moment mal.“
Matthias’ Mundwinkel zucken, als er sich dem Produktionsleiter Max zu seiner Rechten zuwendet. Schön, zur Abwechslung mal einen Mann in weiten Jeans und symmetrischem T-Shirt zu sehen. Die Haare stehen ihm wirr vom Kopf ab und auf der Stirn treten mehrere Adern hervor – ein deutliches Zeichen dafür, dass er sich tierisch aufregt.
„Shetlandponys? Im Studio? Auf einem Teppich aus Schnee? Dein Ernst, Corbi?“
Corbinian fährt sich durch’s Haar und schaut auf Max herunter.
„Was ist denn das für eine Frage? Natürlich ist das mein Ernst.“
Max lehnt sich nach vorne, stützt sich mit den Unterarmen auf der Tischplatte ab und fixiert den Redakteur mit festem Blick.
„Okay, dann sage ich dir mal ganz im Ernst, was ich davon halte: Shetlandponys in ein Studio zu bekommen, da werden wir Probleme haben, irgendeinen Hof zu finden, der das mitmacht. Zumindest, wenn er seine Tiere gern hat. Punkt zwei: Schnee auf dem Studioboden? Weißt du, wie schnell das bei den ganzen Scheinwerfern zur rutschigen Pampe wird? Und dann noch ein Pony mit Hufen da durchlaufen lassen? Das ist nicht ungefährlich.“
„Ach Max, du jetzt wieder. Was soll denn schon passieren?“
„Tausend Sachen. Das Pony könnte durchgehen. Der Kandidat fliegt runter. Bricht sich ein Bein. Die Show muss unterbrochen werden. Riesenchaos. Zeit, die uns verloren geht. Geld, das uns verloren geht …“
Mel knallt ihre Kaffeetasse auf den Tisch.
„Max, ist es möglich, dass die Produktion erst einmal recherchiert, wie sich Shettys in solchen Situationen verhalten und ob sie mit vielen Menschen klar kommen? Und vielleicht überlegt ihr euch, ob man unter den Schnee nicht irgendeine Art rutschfesten Teppich legen kann, damit die Gefahr geringer wird? Meine Güte, immer erst dagegen sein.“
Die alte Leier. Matthias seufzt innerlich und schreibt „Experte für Shetlandponys ausfindig machen!“ in seinen Block. Er hält seinen Stift hoch, wie ein braver Schüler, der sich zu Wort melden möchte.
„Ich kümmer mich um die Ponys.“ Er zwinkert Max neben sich zu und macht unter dem Tisch eine beschwichtigende Handbewegung nach unten.
Nicht aufregen, Alter! Wir sind schon so lange dabei, kennst das doch. Lohnt sich nicht.
Der Produktionsleiter atmet tief durch. Er beißt die Zähne zusammen, so dass die Kieferknochen hervortreten, und nickt.
„Mel, wir reden nicht immer erst dagegen, sondern müssen das, was ihr euch vorstellt, auf Machbarkeit prüfen.“
„Ja, aber dann prüft doch erst, bevor ihr …“
„Machen wir ja. Ich wollte nur von Anfang an auf die Probleme hinweisen.“
Mel verdreht die Augen und wendet sich ihren Kolleginnen zu.
Respektloses Miststück! Matthias wirft Max einen Blick zu und schüttelt leicht mit dem Kopf.
„So, Amalia, wie läuft es denn mit den Kandidaten?“
Eine Blondine in einer dieser bis zum Bauchnabel hochgeschnittenen Hosen klappt ihre Kladde auf.
„Super, Mel. Beim Casting haben sich fünf Männer und sechs Frauen herauskristallisiert, die echt was reißen könnten. Ines hat schon mal angefangen, alle durchzutelefonieren und …“
Ein Zappeln irritiert Amalia und sie hält inne. Die Praktikantin neben ihr rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her.
„Ähm, Entschuldigung, aber ich heiße Yvonne.“
Matthias betrachtet das Gesicht der Redakteurin. Wenn Blicke töten könnten, läge die Praktikantin jetzt mausetot auf dem Konferenztisch.
„YVONNE hat schon mal angefangen, alle durchzutelefonieren und hat ein paar interessante Details herausgefunden. Die Dicke aus Karlsruhe zum Beispiel: Als ihre größte Macke hat sie ganz schüchtern gesagt, sie sei sehr ordentlich. Nach ein bisschen Bohren ist dann herausgekommen, dass sie einen richtigen Putzfimmel hat.“
„Sie hat mich aber gebeten, das nicht breit zu treten“, schaltet sich die tapfere Yvonne dazwischen. „Ich solle das bitte für mich behalten, hat sie gesagt.“
„Hat ja super geklappt!“, blafft Amalia sie an. „Hör zu, alles, was sie dir erzählen, ist für uns von Nutzen. Das bindest du denen natürlich nicht auf die Nase, aber was meinst du denn, wie wir Spannung in das Format bringen? Sicher nicht, indem wir sie einfach auf dem Hof aussetzen, die Kameras laufen lassen und hoffen, dass etwas passiert. Meinst du, darauf stehen die Zuschauer? Nein, die wollen, dass es ordentlich kracht! Ich habe dir das doch gestern erst erklärt, solche Infos sind wichtig für die Einzelinterviews. Hier und da ein paar eingestreute Andeutungen und die Sache läuft von alleine.“
Yvonne hat den Kopf gesenkt und nickt. Matthias kann das Klirren förmlich hören, als bei der Kleinen die erste Illusion über die aufregende Welt des Fernsehens zerbricht. Amalia lässt sich indessen nicht beirren.
„Pah und wisst ihr, was der Spießer aus München mir beim Casting erzählt hat? Er hasst dicke Menschen.“
Sie haut mit der flachen Hand auf den Tisch und lacht.
Matthias zuckt zusammen. Ja, wirklich sauwitzig.
„Ich würde also vorschlagen, dass wir uns eine Challenge für die beiden ausdenken. Das knallt dann so richtig, ihr werdet sehen.“
Yvonne ist fertig mit der Welt. Sie sieht sich um, wahrscheinlich wartet sie darauf, dass jemand Einwände hat. Matthias ist gerührt. Viele Praktikanten hier sind anders. Kriegen sich kaum wieder ein, weil sie jetzt Fernsehen machen und führen die Befehle aus, ohne nachzufragen.
Die hier hat vielleicht noch ein Gewissen.
Corbinian klatscht in die Hände.
„Das klingt doch vielversprechend. Amalia und Yvonne, ihr macht mit den Kandidaten weiter und schreibt die Profile. Achtet darauf, ob es da zwei gibt, bei denen vielleicht mehr gehen könnte. So eine Romanze zieht immer. Bis nächste Woche sollten wir fertig sein, damit wir weiterplanen können. Das schafft ihr, oder?“
„Klar, kein Problem. Ines weiß schon, dass es hier in der heißen Phase hin und wieder ein bisschen später werden kann.“
Yvonne richtet sich auf und öffnet den Mund. Doch dann überlegt sie es sich anders und schweigt.
„Gut, machen wir weiter. Max, habt ihr abgeklärt, welche technischen Eingriffe auf dem Hof möglich wären?“
Max nickt und verweist auf eine Kollegin schräg gegenüber. Susi. Heute trägt sie Latzhosen und ein schlichtes weißes T-Shirt darunter. Ihr Kurzhaarschnitt und die Sommersprossen im Gesicht lassen sie wie einen frechen Bengel aussehen. Und das passt sogar ganz gut.
„Ich habe mit dem Inhaber gesprochen und den Jungs von der Ton- und Lichttechnik“, erzählt sie mit kratziger Stimme. „Die haben gesagt, es ist kein Problem, Strom- und Wasserversorgung von außen zu beeinflussen. Mal eben Licht abschalten, ohne dass die Kandidaten etwas dagegen machen können, geht also auf jeden Fall.“
„Super, dann können wir die mal einen Abend komplett in der Dunkelheit sitzen lassen. Am besten gleich am Anfang, wenn sie sich im Haus noch nicht gut auskennen.“ Corbi reibt sich die Hände.
„Find’ ich persönlich jetzt nicht so aufregend, aber wenn ihr meint.“
Susi verschränkt die Arme vor der Brust.
Am Ende des Tisches raschelt es. Yvonne kramt hektisch in ihren Notizen.
„Wartet mal kurz. Da war doch … Ja genau, hier hab’ ich es. Eine Kandidatin aus Obertupfing im Schwarzwald hat mir erzählt, sie wolle sich bei diesem Experiment ihren Ängsten stellen. Und jetzt haltet euch fest!“
Oh je, sie hat Blut geleckt.
„Sie hat panische Angst vor der Dunkelheit!“
Ein Raunen geht durch die Runde.
Susi streicht sich über die Stirn und schaut die Kollegen fragend an, eine Augenbraue nach oben gezogen.
„Freunde, wollt ihr das echt machen? Nachher flippt die uns total aus und geht mit einem Trauma da raus. Wird schon ihre Gründe haben, warum sie sich im Dunkeln nicht wohl fühlt. Ich finde das ganz schön grenzwertig.“
„Ach was!“
Mel winkt ab.
„Wir holen uns so oder so einen Psychologen mit an Bord. Matthias, kannst du dich da bitte auch mal schlau machen? Ich glaube die Kollegen vom Dokutainment haben da ganz gute Kontakte.“
Matthias nickt. Mir ist schlecht.
Corbinian blickt auf seine Armbanduhr.
„Okay Leute, das wird doch so langsam. Max, Matthias und Susi, ihr recherchiert bitte alles Nötige für die Eröffnung der Show und wegen des Set-Psychologen. Nächste Woche gehen wir dann in die Feinplanung, schauen uns die Kandidatenkonstellation genau an und überlegen, wie wir ihnen das Leben auf dem Bauernhof sonst noch schwer machen könnten. Ich persönlich bin ja ein großer Freund von Essensentzug, da kommt ganz schnell der wahre Charakter eines Menschen ans Licht.“
Das Team erhebt sich von den Stühlen und verlässt nach und nach den Konferenzraum. Matthias nimmt noch einen Schluck Kaffee und steht ebenfalls auf. In seinem Bauch rumort es. Er springt auf und rennt auf die Toilette. Unerbittlich bahnt sich das Frühstück den Weg nach oben. Er schlüpft in die freie Kabine, schmeißt die Tür zu und übergibt sich in die Kloschüssel.
Scheiße, ich brauch einen neuen Job.