- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Ferdis Weihnachtsbaum
Am dritten Advent meinte Ferdi beim Familienkaffee: „Wie hoch soll der Weihnachtsbaum in diesem Jahr sein?“
„Ich will keinen Weihnachtsbaum. Sonst muss ich wieder wochenlang Nadeln vom Boden absammeln. Ich hab das satt“, schimpfte seine Ehefrau.
„Wir brauchen eben einen Baum, der nicht nadelt. So was gibt‘s doch bestimmt“, versuchte ihre Tochter zu vermitteln.
„Ich hab schon ne Idee. Mein Baum wird nicht nadeln“, beendete Ferdi das Gespräch.
Zwei Tage später kam er mit einer mannshohen Tanne zur Arbeit. „Was soll das denn werden?“, fragte der Pförtner misstrauisch.
„Ich konnte den Baum billig besorgen. Heute Abend nehm ich ihn wieder mit nach Hause.“
„Na gut“, brummelte der Pförtner und trug in sein Buch ein: 16.12. um 7:00 Uhr Ferdi: Ein Tannenbaum. Seine Pförtnerloge war beengt, sonst hätte er den Baum vorsichtshalber dabehalten.
Ferdi hatte, wie schon oft, eine Arbeit bekommen, die sonst niemand wollte. Aber da er die penetranten Düfte nicht riechen konnte, störte es ihn nicht, alleine in einer großen Halle mit zahlreichen Rohrleitungen, Kesseln und Bottichen aufzupassen, dass alles im grünen Bereich lag. Einige Behälter waren offen. Warum, wusste Ferdi nicht, es interessierte ihn auch nicht. Aber er hatte vor einigen Monaten mitbekommen, wie ein Kollege einen Rosenstrauß in einen gelb-orange geringelten Bottich getaucht hatte.
„Was soll das denn?“, fragte Ferdi.
„Das ist ein Speziallack, der nur ganz dünn aufträgt und alles luftdicht versiegelt.“ Der Kollege betrachtete den Rosenstrauß, der genauso aussah wie vorher. „Der wird jetzt jahrelang halten.“
Also schnappte sich Ferdi den Tannenbaum, hängte ihn kopfüber an eine Laufkatze und tauchte ihn in den gelb-orangenen Bottich. Nach drei Minuten zog er den Baum wieder hoch und ließ ihn zum Abtropfen hängen. Als er nachprüfte, war der Baum vom Stumpf bis zur Spitze mit einer harten und durchsichtigen Schicht umgeben.
Abends stellte Ferdi den Baum im Wohnzimmer auf und alle betrachteten ihn. „Sieht irgendwie aus wie gelackt“, meinte die Mutter.
Die Zwillinge schnüffelten an den Zweigen: „Riecht aber nicht nach Lack.“
Weitere Gedanken verschwendeten die Familienglieder nicht auf den Baum.
Am Morgen des Christabends begannen die drei Kinder den Baum zu schmücken. Das Mädchen - sie war die Älteste und wäre gerne ein Junge geworden - hängte bunte Säckchen an die Zweige, die nach kleinen Luftballons aussahen. Die Zwillinge hatten Kugeln gebastelt, silberne Hohlkugeln mit farbigen Gittern im Innern. Als sie fertig waren, hing der Baum voller Schnüre, die silbern und golden eingefärbt waren und vielleicht Lametta darstellen sollten.
Am Heiligen Abend kamen die Omas und Opas sowie einige Onkel und Tanten. Alle versammelten sich im Wohnzimmer und der Baum wurde von den Kindern in Betrieb genommen. Die elektrischen Kerzen blinkten und die Christbaumkugeln ... Die Erwachsenen starrten verdutzt auf den Baum, denn die farbigen Kugeln schwollen abwechselnd an und fielen wieder zusammen, während andere anschwollen. Dieses Schauspiel wiederholte sich und sah mit den blinkenden Lichtern recht bizarr aus. Die Tochter erklärte schließlich: „Ich habe zwanzig Luftballons gebastelt, die hängen mit dünnen Schläuchen an zwei kleinen Kompressoren. Haben die den eingestellten Druck erreicht, öffnet ein Ventil und die Luft entweicht aus den Luftballons. Und so weiter.“
Ihre Erklärungen waren schwer zu hören. Inzwischen hatten die Zwillinge nämlich ihren Baumschmuck zum Funktionieren gebracht. in den Kugeln steckten jeweils kleine Lautsprecher, die nun in einer Endlosschleife Weihnachtslieder abspielten.
„Die Idee finde ich ja gut, aber wieso klingt das so schrecklich?“, stöhnte Ferdi, während sich seine Frau ihre Ohren zuhielt.
„Nun ja“, erwiderten die Zwillinge, „jeder hat seine Lieblings-Weihnachtslieder aufgenommen und wir haben anscheinend doch nicht den gleichen Geschmack.“
Wenigstens spielten die beiden iPods zum Schluss völlig synchron „O du fröhliche“, allerdings ohne Zuhörer. Die verzehrten das Weihnachtsessen lieber in der eigentlich viel zu kleinen Küche.
Nach den Weihnachtstagen begann wieder der Alltag und der Baum blieb meistens alleine zu Hause. Nun zeigte sich, dass Ferdi kein Facharbeiter war. Da keine Luft mehr an die Nadeln herankam, hielt der Baum sie für unnötig und stieß sie allesamt auf einen Schlag ab. Der Lack war zähflüssig, also dehnte er sich langsam aus und die Nadeln sammelten sich in kleinen Säckchen, die von den Zweigen hingen. „Wie grüne Tannenzapfen“, bewunderte die Familie am Samstag diesen neuen Baumschmuck. Aber in der Nacht wurde die Nadellast zu schwer, die Säckchen platzten und vertrocknete Nadeln bedeckten den Fußboden. „Kein Problem“, teilte Ferdi seiner wütenden Ehefrau mit und holte den Staubsauger. „Ich sauge die Nadeln ganz schnell ab.“ Allerdings saugte er auch die herabgefallenen und erschlafften Lackbeutel mit ein und in wenigen Minuten war der Staubsauger verstopft und der Motor begann zu glühen. Der Lack brannte zwar nicht, aber vor der fetten schwarzen Wolke musste die Familie aus dem Haus fliehen. Der Kommandant der Feuerwehr meinte lakonisch: „So was habe ich noch nie gesehen. Mitten im verrußten Wohnzimmer steht ein glänzendes Tannenbaumgerippe.“
Die Lokalzeitung titelte: „Feuerfester Weihnachtsbaum erfunden - leider nadelfrei.“