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Fensterträume

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08.01.2004
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Fensterträume

Fensterträume

Mary stand am Fenster und sah hinaus. Kaltes Neonlicht strich über die mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Köpfen vorbei hetzenden Menschen. Leichter Nieselregen tauchte die Straßen in ein mattes grau.
Die Stille, die Mary umgab ließ sie frösteln.
Ihr Herz sah in eine andere Zeit. Die Wege waren noch nicht asphaltiert, die wenigen Straßenlaternen verbreiteten einen warmen Schimmer.
Vor ihrem Auge tanzten zarte weiße, wie von Zauberhand dirigierte, Flocken ein Märchen.
Mary spürte noch einmal diese wundervolle Freude in sich, die damals vor so unendlich langer Zeit ihre Seele erfüllte. Als sie an diesem Fenster stand, sich auf die Zehenspitzen stellte, sich vorbeugte um ein Stückchen mehr von der Straße sehen zu können. Das Haus war erfüllt vom Duft der Plätzchen, die im Ofen backten.
Mary schloss die Augen, genoss dies Aroma, als sei es noch immer da.
Bald würden sie heimkommen, ihre Kinder und das Haus mit herrlich lautem Stimmengewirr mit Leben füllen. Schmutzige Stiefel würden die Diele zieren, vom Schnee feuchte Jacken und Hosen auf dem Boden verstreut sein.
Manchmal hatte sie geschimpft, die Kleinen gebeten ordentlicher zu sein, doch das Strahlen ihrer rotwangigen Gesichter, die von durch die Mützen zerzausten Haaren umgeben waren, entschädigten für alles. Kleine Ärmchen schlangen sich um ihren Hals, feuchte Lippen drückten Küsschen auf ihre Wangen, während zarte Stimmen durcheinander redeten.
„Mom, der Henry ist ganz allein den großen Berg runter gesaust.“
„Echt?“
„Jaaa.!“
„Du Mom Lilly hat meine Mütze wieder gefunden, die ich verloren hatte, als ich über die Schanze gesprungen und im Schneehaufen gelandet bin.“
„Das war lieb von dir.“
„Na klar, sonst hätt´s dem die Ohren abgefroren, so weit wie die abstehen.“
„Ach Lilly, du sollst Scott nicht ärgern.“
„Ich war auch mit gaanz oben, Mummy.“
„Tatsächlich Meggy?“
„Aber ich bin nicht mit runter gesaust, das war viel zu hoch... hast du Plätzchen?“
„Ja, aber erst Hände waschen und dann kommt in die Küche, du auch Chris.“

Marys Blick fiel auf die Diele. Heute war sie sauber, keine Kinderkleidung lag umher, da hing nur ihr Mantel am Garderobenhaken. Der Schirm stand trocken im Ständer, leicht nach vorn gebeugt, als würde er darauf warten in die Hand genommen zu werden.
Wie lang schon hatte sie ihn nicht mehr benutzt...
Armer Schirm, wirst auch nicht mehr gebraucht, zuckte es durch Mary Kopf.
Wieder wand sie sich dem Fenster zu. Ein scheues Lächeln umspielte ihre faltigen Lippen. Wie oft hatte sie von hier aus den Kindern beim Spielen im Garten zu gesehen, wenn sie einen Schneemann bauten oder zu den ersten Frühlingsstrahlen in den Himmel schaukeln wollte.
Viel zu oft aber auch zum Abschied gewunken.
Nicht nur ihnen.
Da waren Mom und Dad. Ihre Freunden aus Teenager-Tagen. Und es gab Richard, den Vater ihrer Kinder.
Die Kinder hatten einen Vater, ja, doch Mary keinen Mann. Als er ging stand sie hinter der Gardine und sah ihm nach. Er nahm die Scheinwelt, die sie aufgebaut hatte, mit. Sein Gehen war ihr Versagen. Sie schämte sich und fühlte die Trauer der Kinder, aber sie vermisste ihn nicht. Richard war aus beruflichen Gründen nie viel zu Hause gewesen. Ihr Sohn Henry hat später einmal gesagt, Dad war doch von Anfang an ein Besucher-Dad.
Wenn er auch oft eigensinnig war, so kümmerte er sich doch liebevoll um die Kinder. Manchmal glaubte Mary die Trennung tat auch ihm gut. Er konnte seinen Beruf ausüben ohne ihre ständigen Nörgeleien, er sei zu selten daheim. Ja, sie fanden sogar einen Weg wieder miteinander zu lachen.
Aber jedes Mal, wenn er die Kinder für ein Wochenende zu sich holte, nahm er all das Leben aus ihrem Haus. Beim Zurückbringen hatte Mary oft das Gefühl er würde auch ein Stückchen davon behalten, dies wurde intensiver je älter die Kinder wurden.
Als sie Teenager waren, dröhnte schrille Musik durchs Haus, manchmal auch ein lautstarker Streit unter den Geschwistern oder albernes Gekicher von den ersten Mädchenfreundschaften der Jungs. In Marys Herz hingegen machte sich eine seltsame Stille breit. Es war die Zeit des „ohne Abschiedsgruß gehen“. Manchmal sah sie ihnen verborgen hinter den Vorhängen nach. Sie kamen und gingen, oft ohne dass sie es mitbekam. Mit ihnen schlich sich die Kinderzeit davon, zog die dunkle Stille Abwesenheit in ihre Zimmer, bis sie ganz gingen und nur noch Besuch waren. Selten.

Den melancholischen Nebel, der Mary fortan umgab, trug sie wie eine Jacke, in die sie ihre Träume webte. Träume von Noah. In all den vergangenen Jahre war jede Erinnerung an ihn ihr Licht gewesen. Er hatte sie zum ersten Mal geküsst. Er hatte sie zum Schulball eingeladen. Ihr die Welt von einer ganz anderen Seite gezeigt. Noah konnte die Sterne flüstern hören und ließ sie daran teilhaben. Er kannte die Worte, die Flügel bastelten.
Dass sie ein Paar wurden war eher ein Zufall gewesen. Mary stand hier in ihrem Elternhaus. Sie erinnerte sich noch als sei es heute gewesen, dass sie wütend auf ihre Mom war. Sie hatte ihr nicht die Erlaubnis gegeben mit ihren Freundinnen schwimmen zu gehen, und dass nur wegen einer vier in Erdkunde. Mit der Wut, die Heranwachsenden so eigen ist, die sie in ihrer Fantasie zum Zentrum ihrer Welt macht, trat sie die Arme gekreuzt ans Fenster und starrte hinaus. Eigentlich wollte sie eine lästige Fliege abwehren. Sie hatte Noah, der die Straße entlang gekommen war, nicht bemerkt. Er jedoch glaubte sie würde ihm zu winken. Sein Herz schlug schon seit einer ganzen Weile wie wild, wenn er sie sah, und so winkte er zurück. Sein Lächeln trieb ihr eine tiefe Röte ins Gesicht, sie verschwand hinter der Gardine. Wie albern, dass ihr dies peinlich war. Auch heute noch fühlte sie wie ihre Knie zitterten, wenn sie daran dachte, als er sie am nächsten Tag ansprach. Sie stand an ihrem Spinnt und suchte die Bücher für die nächste Stunde.
„Hi Mary.“
In dem Moment benahm sie sich wirklich wie eine Fünfzehnjährige, außer einem Lächeln kam nichts über ihre Lippen. Doch Noah blieb cool. Zwei Tage später stand er vor ihr und meinte trocken :
“Der Anfang ist gemacht, lass uns doch auch mal reden.“
„Wann denn?“, war es ihr entschlüpft.
„Wenn du morgen zum Spiel kommst, fahre ich dich danach nach Haus.“
Noah war bereits siebzehn und hatte den alten Wagen von seinem Vater bekommen.
Natürlich ist sie zu seinem Spiel gegangen.
Er war nicht der Quarterback, er war ein Runningback, einer der die Arbeit macht, aber in ihren Augen war er der Mittelpunkt des Spiels.
Er wurde zum Mittelpunkt ihres Lebens.
Sie waren sich sicher es wäre genug Liebe für eine Ewigkeit in ihnen gewesen. Eine Chance wurde ihnen nicht gewährt.
Noch während Mary den Flug der Schmetterlinge in ihrem Bauch genoss verlor Noah sein Leben.
Sie hatten den Tag am See verbracht. Noah hatte nicht nur mit den Lippen ihre Haut gestreichelt. Seine Stimme wurde zur weichen Melodie eines springlebendigen Baches, dessen Wasser übermütig von den Geschichten, die es erlebte und die es zu erleben gab, erzählte. Aus Respekt vor ihren Eltern hielten nur seine Augen sie beim Abschied so fest, wie seine Arme es den ganzen Tag übergetan hatten. Da sein Wagen in der Werkstatt war, hatte er sich zu Fuß auf den Weg nach Hause gemacht... sie stand am Fenster sah ihm nach, bis die Dunkelheit ihn mitnahm.
Er ist nicht Zuhause angekommen. Niemand konnte genau sagen was passiert sei, nur dass Noah überfahren wurde, der Unfallverursacher Fahrerflucht begann. Man fand ihn am nächsten Morgen im Graben liegend. Er sei sofort tot gewesen, war alles was man Mary sagte.

Irgendwo im Haus knarrte es. Ein Geräusch, das Mary in die Gegenwart zurückholte. Ihre Tränen rannen nur an der Fensterscheibe sichtbar hinunter, die sie mit dem Zeigefinger wegzuwischen suchte. Selbst das sonst so behaglich wirkende Licht der Weihnachtsbeleuchtung, die aufgrund der Zeitschaltuhr, die Henry ihr installiert hatte, pünktlich um 17 Uhr anging, konnte sie nicht erheitern.
Ob es in Afrika auch regnet? Vielleicht war sie auch gar nicht mehr da. Sie dachte an Megan ihre jüngste Tochter, die es nach ihrer Studienzeit in die Welt hinauszog.
„Mom, ich hab in mir so viel Wissen. Ich will Gutes tun. Ich bin nicht Chirurgin geworden um albernen reichen Leuten die Falten als dem Gesicht zu entfernen. Was ich kann, kann am anderen Ende der Welt Kindern das Leben retten.“, waren die Worte mit denen sie ihre Entscheidung untermauerte. Und so ging sie an´s andere Ende der Welt. Arbeitete in verschiedenen Hilfsorganisationen, meist in Krisengebieten, so genau wusste Mary es nie. Sie schickte über die Jahre viele bunte Postkarten, die Mary alle aufbewahrte. Als die erste Karte kam, hatte sie sich eine große Landkarte von ihrem Sohn Chris besorgen lassen und verschiedenfarbige Pins, mit denen sie Megans derzeitigen Aufenthaltsort markierte. Rot zierte stets den Ort von dem die jüngste Nachricht kam. Woher war noch die letzte Post? Sudan oder Kamerun?
Ihre Gedanken sprangen hin und her. Sie ging in die Küche, um auf der Karte nachzusehen.
„Verdammt, wo ist nur wieder meine Brille?“, ärgerte sie sich laut.
„Vielleicht habe ich sie im Bad gelassen.“, seufzend machte sie auf die Suche.
Ihre Hand glitt über das Treppengeländer. Da diese Kerbe, das waren Chris und Scott, als sie Indianer spielten. Das war der Sommer in dem Henry so krank war, und Lilly, die immer nach wilden Blumen roch, ihr Nachtlager in seinem Zimmer aufschlug, um ihm vor zu lesen. Am Treppenabsatz angekommen brauchte sie eine Verschnaufpause. Als sie selbst noch ein Kind war, führte die Tür zu ihrer linken in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Später war dies das Zimmer von Lilly, ihrem ersten Baby. Mary hatte diesen Raum ganz bewusst nicht als ihr Schlafzimmer gewählt, denn sobald sie durch die Tür trat fühlte sie sich als sei sie wieder ein kleines Mädchen, das Schutz hinter elterlichen Mauern suchte.
Hier war die Mama nah, fühlte sie ihr Lächeln, das ihr in so manchen schlaflosen Nächten, wenn das Baby schrie, die nötige innere Ruhe schenkte. Das Zimmer direkt daneben war ihr Reich gewesen. Sie konnte sich nicht vorstellen, hier mir Richard zu leben. Zu stark war die Erinnerung an jene Tage nachdem die Schmetterlinge mit Noah gegangen waren. Lange blieb dieser Raum verwaist, bis Megan, ihrer jüngstes Kind, es mit einer Helle erfüllte, dass es Tage gab, an denen Mary glaubte die Dunkelheit wäre hier nie Gast gewesen. Die Bereiche der Jungen lagen am Ende des Flur, den sie oft für ihre Ballspiele nutzen und sich den Ärger der Mädchen zuzogen. Für Richard und sich hatte sie das Arbeitszimmer ihres Vaters gewählt. Es lag im Erdgeschoss neben der Stube, wenn ihr Mann spät von der Arbeit heim kam, störte er die Kinder nicht.
Ja natürlich, zuckte es in ihrem Kopf, da liegt die Brille, auf dem Nachtschrank. Sie drehte sich um, und stieg die Treppe hinab. Unten angekommen blieb ihre Blick erneut am Fenster hängen. Sie konnte erkennen, dass einige Leute vor ihrem Haus standen. Für einen Moment verschwamm das Bild vor ihren Augen. Konnte dies sein?
Ihr war beinah als würde ihr Herz ängstlich mit dem nächsten Schlag warten, um keine Enttäuschung heraufzubeschwören. Zittrig trat sie an das Fenster.
Nein. Doch ...
Im Augenblick des Erkennens hob sie die Hand und winkte. Am liebsten wäre sie stehen geblieben, doch dann lief sie geschwind zu Tür. Und da standen sie groß, strahlend mit nassen Haaren.
„Hi, Mom.“
Arme schlangen sich um sie, kühle Lippen drücken sanfte Küsse auf ihre Wangen.
„Schau wir haben dir einen Baum mitgebracht.“
“Freust du dich?“
„Henry meinte wir sollten vorher anrufen...“
„Ich hoffe du bist nicht böse, weil wir einfach so reinplatzen.“
„Nein gar nicht. Ist das eine Überraschung.“
Mary stand da, die Hände auf ihren Wangen, lächelte sie einen nach dem anderen an.
Henry, der den Baum hielt, Lilly, die ihre Handtasche auf die Garderobe stellte, auf die Chris seine feuchte Jacke legt, Scott, der seine Schuhe umständlich auszog.
„Ist das eine Überraschung.“, stammelt sie immer noch, als Henry meinte:
„Nein Mom. Das ist eine Überraschung!“
Er nahm den Baum beiseite. Mary blickte auf von der Sonne gebleichte Haare, braugebrannte Haut. Leben, so nah und voller Geschichten.
„Frohe Weihnachten Mom.“
Ihr Lächeln nahm all die so unbekannten Falten mit.
Sie hatte sie wieder ,die kleine Meggy, die sich nicht traute den großen Berg runter zu sausen.

©Angela Redeker

 

Hallo Angela,

eine wirklich traurig, schöne Geschichte. Die weihnachtliche Einsamkeit in einem großen Haus, in dem eins das Leben tobte. Die Kinder nahmen es mit sich, als sie auszogen und ließen die Erinnerungen daheim, bei ihrer Mutter, die einst für ihre Kinder lebte und so traurig, melancholisch wie es sich liest, frage ich mich, ob diese Mutter nun noch ein Leben hat, welches außerhalb des Wartens liegt?

In diesen Zimmern auch die Erinnerungen an ihre eigene Jugend und ihre erste (tragisch endende) Liebe. All das bricht über sie ein.
Am Ende, kommen die Kinder und bringen dieses Leben wieder mit sich. Zumindestens für ein paar Tage.

Sprachlich finde ich es sauber. An manchen Stellen - ein ach wie schön - an anderen fand ich es ein wenig dick aufgetragen. Aber das ist sicherlich Geschmackssache.

:xmas: Fliege

 

Hallo Fliege,
hab ganz ganz lieben Dank für deine ehrlichen Worte.
Es ist Geschmackssache da hast du natürlich recht, aber aus deinen Worten lese ich, dass ich genau das ausgedrückt habe was ich sagen wollte.
Und um deine Frage zu beantworten, ob die Mutter noch ein Leben hat das außerhalb des Wartens liegt, in den meisten Fällen, so denke ich, ist es nicht der Fall, leider.

liebe Grüße und einen wundervollen dritten Advent
Angela

 

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