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Fensterliebe

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02.01.2002
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2.436
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Fensterliebe

Er kennt mich nicht und das ist gut so. Ich würde nicht zu ihm passen, würde ihm nicht gefallen. Seine Freundin ist anders als ich. Ganz anders. Doch sie gefällt ihm.

Manchmal fahren wir im gleichen Bus. Manchmal stehen wir im Supermarkt an der gleichen Kasse. Einmal hat er mir beim Bäcker die Tür aufgehalten. Mein Herz klopfte, meine Beine zitterten und ich wollte mich bedanken, aber er hatte sich schon weggedreht.

Er weiß nicht, dass ich ihm gegenüber wohne. Er sieht mich nicht, wenn ich vom Fenster hinüberblicke. Er sieht mich nicht, wenn ich sie beide beobachte. So wie jetzt.

Mein Zimmer ist dunkel. Ein Streifen Mondlicht stiehlt sich durch den Gardinenspalt. In seinem Zimmer brennt gedämpftes Licht. Im Hintergrund wird Musik laufen. Ich sehe ihre schmale Gestalt und wie er sich an sie schmiegt. Wie er sie berührt, wie er sie küsst. Ich weiß, dass sie jetzt lächelt. Seine Hand gleitet zu ihrer Schulter und streift den Träger beiseite. Seine Lippen berühren ihre nackte Haut. Ob sie dabei stöhnt? Vermutlich. Ich würde es tun. Seine Arme umfassen ihren Körper, ziehen ihn zu sich, seine Hände verlieren sich in ihrem Haar. Wenn sie sich jetzt umdrehen, werden sie mich sehen. Doch sie drehen sich nicht um. Sie drehen sich niemals um. Sie sehen nur sich. Und ich sehe nur sie.

Er kennt mich nicht und das ist gut so. Eine Träne rinnt über meine Wange. Er kennt mich nicht und das ist gut so. Das ist gut so. Das ist gut so. Ich wiederhole den Satz, bis meine Stimme erstirbt.

Vielleicht kann ich eines Tages daran glauben.

 

Hallo Ginny-Rose!

Also, deine Geschichte hat mir wirklich sehr gut gefallen. Man kann sich wirklich in die Lage deiner Protagonistin hineinfühlen.

Ob sie dabei stöhnt? Vermutlich. Ich würde es tun.

Außerdem finde ich gut, dass die Frau ihre "Gegenspielerin" keinesfalls für das, was sie tut verurteilt.


. Einmal hat er mir beim Bäcker die Tür aufgehalten. Mein Herz klopfte, meine Beine zitterten und ich wollte mich bedanken, doch er hatte sich schon weggedreht.
Ohje ... :(

Ehrlich, schöne Geschichte.

IrishCoffee

 

Hallo Ginny!
Eine kurze, aber schöne, vielaussagende Geschichte!

Habe ich sehr gerne gelesen.

LG Ulrike

 

Hi Ginny!

Eine schöne Geschichte hast du geschrieben - ich konnte mich zwar sehr gut in die Protagonistin hineinfühlen, hoffe aber, dass mir so etwas erspart bleibt! Ich hoffe, sie ist nicht autobiographisch?

LG, Vita

 

hey ginny!
Was kann cih zu deiner Geschichte sagen? Nicht viel.
Sie hat mir gut gefallen. Die Art, wie du geschrieben hast, passt sehr gut. Wirkt ruhig, aber auch nciht ruhig. Ich kann es nicht beschreiben, ist ein fließender Wechsel. Ist dir mMn gut gelungen.

Ob sie dabei stöhnt? Vermutlich. Ich würde es tun.
Wie Irish Coffee schon erwähnte, scheint deine Prot. überhaupt niemanden dafür zu verurteilen, dass die Situation ist, wie sie ist.
Ich finde, an dieser Stelle wirkt die Prot. sehr nüchtern, scheint so, als hätte sie sich mit der Situation abgefunden.
Die ganze Geschichte über erweckt die Prot. auf mich den Eindruck, als ignoriere sie ihre wirklichen Gefühle, versucht sich selbst zu belügen und so zu tun, als wenn es für sie nicht schlimm ist, dass er sie nicht kennt und nicht bei ihr ist.
Er kennt mich nicht und das ist gut so. Eine Träne rinnt über meine Wange. Er kennt mich nicht und das ist gut so. Das ist gut so. Das ist gut so. Ich wiederhole den Satz, bis meine Stimme erstirbt.
Nur am Ende, da bricht diese Fassade zusammen.
Sie versucht trotzdem sich weiter einzureden, dass es so, wie es ist, gut ist.
Sie redet auf sich selbst ein, um sich selbst etwas einzureden, um es zu glauben.
Vielleicht kann ich eines Tages daran glauben
Hier habe ich das Gefühl, dass sich in der Prot. etwas Resignation breit macht. Der Versuch, sich selbst einzureden, dass es gut ist, wie es ist, scheint nicht funktioniert zu haben (wie auch?).

Hat mir gut gefallen :)
bye

 

Huhu zusammen.

Danke für's lesen und kommentieren. Freut mich, dass euch der kleine Text soweit gefallen hat ... auch, wenn er ziemlich traurig ist.

Ich hoffe, sie ist nicht autobiographisch?
<g> Nein. Davon abgesehen, dass ich von meinem Fenster aus nur auf Baumwipfel und nicht in die Schlafzimmer interessanter Männer blicken kann :D setze ich kaum autobiographische Stories von mir hier rein ... nur wenn es sich dabei um harmlose Texte handelt. Manchmal treffen zwar einige Sätze ins Schwarze, aber der Kontext ist so gut wie immer fiktiv.
Zum Glück, denn meine romantisch-erotischen Texte sind fast alle traurig. :-)

Ginny

 

Hallo Ginny- Rose,

die Einseitigkeit der Emotion hast Du trotz der Kürze des Textes prima eingefangen. Die Protagonistin scheint sich nicht nur im Bezug auf ihre „Fensterliebe“ nicht begehrenswert zu empfinden, sonst würde sie nach Auswegen suchen, ihr Verhalten erscheint mir schon als fast masochistische Vernarrtheit, denn abgesehen von ihren Wunschvorstellungen gibt es keine Beziehung zwischen ihr und dem Mann.
Eine ungewöhnliche Schilderung von Trostlosigkeit.

LG,

tschüß… Woltochinon

 

Hi Wolto!

Wie immer schöne Zusammenfassung von dir - freut mich, dass der Text so rübergekommen ist. ;-)
Danke für's Lesen!

Ginny

 

Hallo Ginny Rose!

Die Geschichte gefällt mir sehr gut. Wirklich ergreifend!
Was ich aber eigentlich sagen will: Während ich die Geschichte so lese, erinnert sie mich vom Stil her immer mehr und mehr an Stefan Zweigs "Brief einer Unbekannten"!
Versteh das jetzt nicht falsch. Ich will damit nichts wirkliches aussagen, es hat mir nur plötzlich ins Auge gestochen. Die Schreibweise ist wirklich meiner Meinung nach sehr ähnlich. Hier, schau mal:

Ausschnitt aus dem Buch:
Dir, der Du mich nie gekannt,
Mein Kind ist gestern gestorben - drei Tage und drei Nächte habe ich mit dem Tode um dies kleine, zarte Leben gerungen, vierzig Stunden bin ich, während die Grippe seinen armen, heißen Leib im Fieber schüttelte, an seinem Bette gesessen. Ich habe Kühles um seine glühende Stirn getan, ich habe seine unruhigen, kleinen Hände gehalten Tag und Nacht. Am dritten Abend bin ich zusammengebrochen. Meine Augen konnten nicht mehr, sie fielen zu, ohne daß ich es wußte. Drei Stunden oder vier war ich auf dem harten Sessel eingeschlafen, und indes hat der Tod ihn genommen. Nun liegt er dort, der süße, arme Knabe, in seinem schmalen Kinderbett, ganz so wie er starb; nur die Augen hat man ihm geschlossen, seine klugen, dunklen Augen, die Hände über dem weißen Hemd hat man ihm gefaltet, und vier Kerzen brennen hoch an den vier Enden des Bettes. Ich wage nicht hinzu- sehen, ich wage nicht mich zu rühren, denn wenn sie flackern, die Kerzen, huschen Schatten über sein Gesicht und den verschlossenen Mund, und es ist dann so, als regten sich seine Züge, und ich könnte meinen, er sei nicht tot, er würde wieder erwachen und mit seiner hellen Stimme etwas Kindlich-Zärtliches zu mir sagen. Aber ich weiß es, er ist tot, ich will nicht hinsehen mehr, um nicht noch einmal zu hoffen, nicht noch einmal enttäuscht zu sein. Ich weiß es, ich weiß es, mein Kind ist gestern gestorben - jetzt habe ich nur Dich mehr auf der Welt, nur Dich, der Du von mir nichts weißt, der Du indes ahnungslos spielst oder mit Dingen und Menschen tändelst. Nur Dich, der Du mich nie gekannt und den ich immer geliebt.

Findest du nicht auch?

Liebe Grüße
cherrie

 

Hi Ginny,

wie gelingt es dir bloß immer wieder, so kurze aber prägnante Texte zu schreiben? Hat mir sehr gut gefallen, die Sätze waren stilsicher und bewegend. Mehr davon! ;)

*Chris*

 

Hallo Ginny,
kann mich meinen Vorgängern nur anschließen, ein kurzer, aber dennoch sehr schöner Text. Man kann sich gut in die Gefühle der Prot hineinversetzen, besonders der Schluss hat mir gefallen, wo sie sich einzureden versucht, dass es gut ist, dass er sie nicht kennt.
Über ein Wort bin ich etwas gestolpert, das passt nach meinem persönlichen Sprachgefühl nicht so gut zu der Wortwahl des restlichen Textes.
"Seine Lippen berühren ihre freigelegte Haut."
Ich weiß auch nicht, aber das Wort "freigelegt" klingt irgendwie nicht so schön. Irgendwie kommt mir da das Bild von etwas mit Hammer und Meißel Freigelegtem in den Sinn.:D
Schöner fände ich einfach "nackte Haut".
Aber wie gesagt, ist nur mein Empfinden, du bist der Boss.:D

LG
Blanca

 

@Ginny-Rose
Tolle Geschichte. Sprachlich und inhaltlich einfach klasse! Super!!

@cherrie
Ich finde, dass es zwischen den beiden Erzählstilen doch große Unterschiede gibt.

Was den beiden Texten gemeinsam ist, ist dass man sich direkt in die Protagonisten hineinversetzt fühlt.
Das allerdings, ist nicht ungewöhnlich. Man nennt diese Methode übrigens "stream of consciousness"-Technik.
Siehe auch http://www.bartleby.com/65/st/streamco.html

Im Zweifel würde ich übrigens sagen, dass mir Ginny-Roses Stil besser gefällt als der von Stefan Zweig (auch wenn das wie Gotteslästerung klingen mag)!

 

Hallo cherrie, ANiMA, Blanca, Timo_Tahon21 und sylviasmother,

danke für Eure Kommentare und ich freu mich, dass der Text bei euch positiv ankam. :-)
Der Vergleich mit Stefan Zweig ehrt mich ... und jetzt geh ich den guten Herrn mal schnell in seinem Grab zurückdrehen. ;-)
@Blanca: Deinen Vorschlag habe ich übernommen, klingt natürlich besser.

Ginny

 

Was soll ich noch an Lob hinzufügen? Manche Sätze bringen Dinge rüber, die nicht direkt dastehen.

Sie drehen sich niemals um.
Wie oft hat sie ihnen schon zugeschaut? Wieviel Zeit verbringt sie schon mit ihnen?
Sie sehen nur sich. Und ich sehe nur sie.
Der Gipfel der Trostlosigkeit. Die Mauer ist unüberwindlich.

Da ist der Hang, sich zu verschließen und sein Leben mit fremdem Glück zu füllen. Das hast Du ohne Schnörkel rübergebracht.

 

Hallo franck,

Was soll ich noch an Lob hinzufügen?
Was immer du magst, tu dir keinen Zwang an ... ;-)

Danke auch dir für deinen Kommentar, Schön zu wssen, dass der kleine Text wie beabsichtigt bei dir rüberkam.

Ginny

 

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