Fenster und Türen
„Jetzt musst du aber wirklich schlafen, Schatz. Es ist fast elf!“
Kevin hörte nicht zu. Er saß, die Beine angezogen und mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, auf seinem Bett. Er wollte nicht schlafen, noch nicht. Es war gefährlich. Der Zauberer hatte es ihm gesagt. Kevin vertraute ihm, obwohl er wusste, dass dieser Mann nicht existieren konnte. Kevin war zwar noch jung, aber hatte die Kinderängste schon lange hinter sich gelassen. Er glaubte zumindest, dass es so war. Der Zauberer hatte ihm etwas anderes erzählt und Kevin vertraute ihm. Er wusste nicht wieso, aber es war so. Kevin hatte von ihm geträumt letzte Nacht. Es sei sehr wichtig, dass Kevin tat, was er tun sollte. Die Zweifel an dieser Sache kamen ihm gar nicht erst. Er war eben doch nur ein Kind, dessen Welt sich in Gut und Böse einteilte, die durch klare Grenzen getrennt waren. Und der Zauberer stand auf der guten Seite. Davon war er felsenfest überzeugt. Warum sonst hätte er Kevin warnen wollen?
„Noch nicht, Mama. Ich will das noch zu Ende malen“, sagte Kevin. Er hatte ein Skizzenbuch mit einem schwarzen Ledereinband auf dem Schoß liegen und zeichnete. Für seine Mutter waren es nicht mehr als Kritzeleien. Doch für Kevin stand mehr dahinter. Er zeichnete gerne, ob das nun chaotische Muster waren oder Tiere und Menschen. Es war wichtig, dass er jetzt zeichnete.
„Schluss jetzt!“, sagte Susanne und riss ihm das Skizzenbuch aus den Händen.
„Ich will aber noch nicht schlafen. Erst muss ich das noch beenden!“, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
Susanne biss sich auf die Unterlippe.
„Sieh mal, Kevin, morgen hast du Schule. Wenn du nicht früh schlafen gehst, kommst du nicht aus dem Bett und ich habe keine Lust mich dann wieder mit dir zu streiten“, sagte sie.
Kevin glaubte nicht daran, dass das der einzige Grund war. Die Wände waren dünn und neulich hatte Kevin das Quietschen der Bettfedern im Schlafzimmer seiner Mutter gehört, begleitet von einem leichten, rythmischen Stöhnen. Kevin wusste nicht, was sie dort oben getan hatten, doch einschlafen hatte er auch nicht gekonnt. Am nächsten Morgen, als Kevin seine Mutter danach gefragt hatte, wurde ihr Gesicht rot, als würde sie sich vor etwas schämen. Sie verloren kein Wort mehr über den Vorfall, aber seitdem war seine Mutter immer darüber besorgt, dass er zeitig schlafen ging.
Aber das hier war etwas anderes. Kevin wollte die Geräusche nicht wieder hören. Sie machten ihn nervös. Aber er musste das Totem fertigstellen. Kevin wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, nur das es wichtig war.
„Ich darf noch nicht schlafen gehen. Ich darf nicht ohne Totem schlafen!“, sagte Kevin.
Seine Mutter redete sich ein, es läge daran, dass der Junge zuviel Fantasie hatte.
„Schluss jetzt, kleiner Mann! Es gibt da draußen keine Monster, keine schwarzen Männer oder Vampire, verstanden? Und was für ein Totem?“
„Du verstehst das nicht, Mum! Es ist sehr wichtig …“
Als Kevin seine Mutter nach der Nacht, in der ihm der Zauberer erschienen war, gefragt hatte, was ein Totem sei, hatte sie geantwortet, dass wären diese Dinger aus Westernfilmen. Große behauene Baumstämme mit Tiergesichtern darauf. Diese Antwort stellte ihn jedoch nicht zufrieden, also fragte er den Zauberer, als er ihm nochmals im Traum erschien. Er nannte sie Türwächter. Sie wären wie Schlösser zu denen kein Schlüssel passte. Sie ermöglichten einem auf die andere Seite zu blicken ohne das etwas von dort herüber konnte. Das verstand Kevin. Seine Mutter verstand es nicht und Kevin erwartete das auch nicht von ihr.
„Wer hat das gesagt, Kevin?“
„Niemand …“, sagte er nur und stierte geradeaus, an den blonden Haaren seiner Mutter vorbei. Sie würde ihn sowieso nur anlächeln und ihm vielleicht sagen, was für ein Spaßvogel er doch sei. Zauberer gäbe es nicht, genauso wenig wie Monster und Totems. Immerhin genoss er noch den Status des unwissenden Kindes. Wäre er erwachsen, hätte man ihn sicher für verrückt erklärt.
„Na also. Du brauchst keine Angst zu haben …“
Nichts war okay, das wusste Kevin. Er fürchtete sich vor der Nacht, er fürchtete sich wirklich.
Als seine Mutter das Zimmer verlassen hatte sprang er schnell aus dem Bett und schnappte sich einen Filzer aus dem Etui auf seinem Schreibtisch. Er war nervös.
Das vertraute Zimmer mutierte zu einer Collage aus Schwarz- und Grautönen, als das Licht im Flur ausgeschaltet wurde. Ab und zu erhellten Autoscheinwerfer von draußen das Zimmer. Kevin hielt den Stift in den schwitzigen Händen und blickte nervös in die Dunkelheit, als könnte er sie durch pure Willenskraft zurück zwängen.
Doch es half nichts. Kevin war gefangen in diesem Schattenreich voller schwarzer Bastionen und irreführender Silhouletten. Angst schlich sich in seinem Verstand wie eine Raubkatze und versteckte sich im Dickicht seines Unterbewusstsein, um mit diabolischer Geduld auf den richtigen Augenblick zu warten. Er hatte kein Totem, er war schutzlos. Kevin zwang sich zur Ruhe. Denk nach, was hat der Zauberer dir noch gesagt?
Dreiecke! Ein Dreieck war in gewisserweise auch ein Totem. Der Zauberer hatte ihm erzählt, dass man mit ihrer Hilfe für kurze Zeit ein Fenster erschaffen konnte. Kevin wusste natürlich nicht wie das ging, aber er wollte auch nicht vollkommen ohne Schutz da stehen. Der Geruch des Filzschreibers ließ ihn die Nase rümpfen. Kevin spürte die kalte Farbe, als er sich das Symbol auf die Hand malte. So verharrte er sitzend und beobachtete die Schatten, die ihn aus hungrigen Augen anzustarren schienen.
Plötzlich spürte er etwas anderes in seinem Kopf. Kevin wusste nicht wie er es beschreiben sollte. Es war eine neblige Dampfwolke. Kalter Nebel.
Ich spüre dich, Kevin, ich spüre die schillernden Farben des Lebens in dir … so schillernd schön.
Die Stimme sprach in seinem Kopf.
Ich kenne viele Welten, Kevin. Ich bin durch viele Zeiten gesprungen. In manchen Welten nennt man mich Verschlinger. In anderen bin ich einfach nur Naddan. Dein Freund, der Zauberer, oder wie er sich auch nennen mag. Ein Betrüger ist er, nichts weiter, als ein Scharlatan und eine Illusion. Aber ich, Kevin, ich bin echt …
Es war die züngelnde Stimme eines Reptils. Kevin meinte die orangeroten Schlangenaugen direkt vor sich sehen zu können. Die Stimme jagte ihm Schauer über den Rücken, doch er wollte sich ihr nicht beugen. Sie drückte auf ihn und Kevin hatte Angst zerquetscht zu werden, wenn er nachgab. Also stemmte er sich mit aller Kraft gegen den Nebel, der mit geisterhaften Fingern zu streicheln schien. Kalten Fingern. Kevin konnte nur auf den Zauberer vertrauen. Kevin verstand nun vor wem ihn der Zauberer hatte warnen wollen. Der Verschlinger. Naddan …
Naiv, vertrauensselig. Du wirst es sehen, Kevin. Er kann dich nicht beschützen … Ich werde mir so oder so holen, was ich will. Oh, so blau!
Etwas rumpelte unter seinem Bett. Ein rundes Ding rollte darunter hervor, ein Basketball. Kevin spürte wie das Bett nach vorne rutschte und das Holz dabei über den Teppichboden schrappte.
Das war genug. Er warf die Decke von sich und sprang vom Bett. Ein Ding, das einem glitschigen Arm glich, verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Er schlug die Tür hinter sich zu und atmete kurz durch. Wae das Ding eben real gewesen? Daran konnte kein Zweifel bestehen. Kevin hörte wie es sich unter dem Bett hervorwand. Ihm fröstelte. Nach wie vor spürte er diese kalte Präsenz in seinem Kopf.
Doch da war noch etwas anderes. Es verbreitete Wärme und Geborgenheit wie ein Lagerfeuer in einer kalten Nacht. Der Zauberer, er hilft mir. Kevin entspannte sich und dachte nach. Er musste hier weg, aber er durfte seine Mutter und ihren Freund nicht merken lassen, dass er fort war. Sie würden ihn zweifelsohne wieder in dieses Zimmer stecken, in dem Naddan lauerte.
Der Keller …
Es war eine gebieterische Stimme, die sich so sehr von Naddan zu unterscheiden schien, dass es sich nur ob das komplette Gegenstück des Monsters handeln konnte. Kevin zögerte keine Sekunde und rannte los. Ihm ersten Augenblick dachte Kevin, er wäre gegen einen Baumstamm gerannt. Dann registrierte der Junge, dass er direkt in die Arme seines Stiefvaters gelaufen war.
Seine Pranken von Händen trugen eine Weinflasche und zwei Gläser, die wirkten, als könnte sie jeden Moment zerbrechen. Kevin hatte ihn überrascht und der stämmige Mann taumelte. Schließlich fand er sein Gleichgewicht wieder, doch die Gläser fielen klirrend zu Boden. Glasscherben verteilten sich über den Fußboden.
„Was soll das? Warum bist du überhaupt noch auf?“
„Kann ich dir nicht sagen. Jetzt lass mich vorbei!“
„Nichts da, du gehst jetzt in dein Zimmer und schläfst! Oder soll ich deine Mutter holen?“ Kevin hatte den Mann nie gemocht und konnte nicht verstehen, was seine Mutter an ihm fand und sich mit ihm einließ. Der Bierbauch seines neuen Vaters wölbte sich bereits über den Ansatz seiner Boxershorts. Sein Schädel hatte fast alle Haare verloren. Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken, auch sein Vater schien es gehört zu haben, denn er horchte auf. Holzsplitter und Farbe flogen durch die Luft. Kevin wich zurück. Die Tür und Naddan hatte er für einen Augenblick völlig vergessen.
„Kevin, wenn du wieder irgendwelche Haustiere angeschleppt hast ...“ Er stieß ihn grob zur Seite. Kevin stolperte an die Wand und wich zurück.
„Tu das nicht, es wird dich umbringen!“
Sein Stiefvater öffnete die Tür und sah sich um. Kevin glaubte nicht, dass sein Stiefvater ihn wirklich ernst nahm. Warum auch? Er war schließlich das Kind. Kinder hatten nie Recht. Dennoch meinte er, in dem schwammigen und unrasierten Gesicht so etwas wie Nervosität erkennen zu können.
„Willst du mich verarschen, Kevin?“ Er stieß die Tür auf. Naddan wartete auf dem blauen Teppichboden von Kevins Zimmer. Er lauerte und wartete. Seine orangeroten Schlangenaugen sahen seinem Stiefvater direkt an.
Kevin erwartete, dass dieser einen Schrei ausstoßen und die Tür zuknallen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Der Mann wich nicht einmal zurück.
So, als ob er das Wesen, das sich dort auf dem Teppichboden schlängelte und wand, nicht sehen konnte.
Kevin konnte die widerlichen, dürren Arme der Kreatur erkennen. Sehnen zuckten, als der Körper auf und ab wippte wie eine Kobra in Lauerstellung. Die mit lederiger Haut überzogenen Finger endeten in jeweils einer raubtierhaften Klaue un stützten das Ungeheuer. Insgesamt an jedem Arm drei.
„Hier ist doch nichts und jetz Abmarsch ins Bett!“ Die orangeroten Augen wandten sich von seinem Stiefvater ab und richteten sich auf Kevin. Das schmatzende Maul, das in erschreckender Weise einer Horrorversion eines Neunauges ähnelte, formte eine diabolische Parodie eines Lächelns. Zumindest vermutete Kevin, dass die Kreatur lächelte.
Kevin wich noch mehr zurück. Das schien seinen Stiefvater in Rage zu versetzen. Sein Gesicht lief puterrot an.
„Verdammt nochmal muss ich deine Mutter erst holen?“
Pass gut auf. Das Schlangenmonster kroch lautlos den Türrahmen hoch bis es an der der Decke direkt über Kevins Stiefvater hing. Der widerliche, schleimige Leib beugte sich herab. Das wurmartige Maul enthüllte tausende, rasiermesserscharfer Zähne.
„Oder muss ich dich eigenhändig in den Raum prügeln?“
Das Maul schnappte zu. Sein Vater schrie auf und hielt sich die Schulter.
„Was ist das, wieder ein Hexenschuss. Na warte, kleiner, ich kriege dich noch! Scheiße tut das weh!“
Blut trat aus der Wunde heraus und lief in Stürzbächen an dem kahlen Mann herab und tropfte von seiner Wampe dick auf den Teppichboden. Sein Stiefvater schien es nicht zu sehen. Er humpelte weiterhin auf Kevin zu.
Kevin riss sich von dem grauenvollen Anblick los. Er musste in den Keller, der Zauberer war seine letzte Hoffnung. Er stolperte die Treppen hinunter in die Küche. Hinter ihm waren erneute Schreie zu hören. Nein, so ein Schicksal hatte dieser Mann nicht verdient. Auch, wenn Kevin ihn nicht ausstehen konnte. Kevin rechtfertigte die Flucht vor seinem Gewissen, indem er sich einredete, dass er nichts gegen das Wesen unternehmen konnte. Also beschränkte er sich darauf zu rennen, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden. Dennoch schämte Kevin sich in seinen naiven Vorstellungen, die er hauptsächlich aus Comicheften hatte, dass er nicht den selben Mut aufbringen konnte wie seine Helden.
Der Schlüssel zum Keller hing an einem Brett neben der alten Holztür, die in den Lagerraum hinabführte. Die weiße Farbe blätterte bereits ab. Kevin schnappte sich die Schlüssel. Naddan war nahe. Der eisige Nebel in seinem Kopf schien anzuschwellen, dichter und kälter zu werden. Seine Zähne klapperten und er presste den Rücken von innen gegen die Tür, nachdem er sie zugeschlagen hatte.
Kevin beruhigte sich ein wenig. Doch dann begann das Ungeheuer sich gegen das schrecklich morsche Holz der Tür zu werfen. Kevin könnte es knirschen hören. Lange würde die Tür nicht halten. Dieser Gedanke jagte ihm Angst ein.
Der Schlüssel fiel ihm aus den zitternden Händen und landete wenige Zentimeter vor dem Absatz der Treppe, die in den Keller führte. Kevin versuchte den Schlüssel mit dem Fuß zu erwischen. Die Schläge wurden heftiger. Einmal öffnete sich die Tür sogar einen Spalt breit. Schließlich erwischte er ihn.
Es klackerte, als Kevin mehrfach das Schloss verfehlte. Schließlich erwischte er es und drehte mit aller Kraft, die ihm noch blieb. Abgeschlossen. Langsam entfernte sich Kevin von der Tür und wäre beinahe die Treppe heruntergestürzt. Das Geräusch von Holz, das an seiner Belastungsgrenze stand, jagte ihm Schauer über den Rücken.
Er betätigte den Lichtschalter und begab sich in den hintersten Teil des Kellerraums. Er ging an modrig riechenden Kartonstapeln und einem alten verrosteten Fahrgestell, das einmal sein altes Fahrrad gewesen sein konnte, vorbei. Doch er beachtete die Sachen nicht, sondern fixierte sich nur auf die Tür. Bitte nicht brechen, wollte er sie anflehen.
Seine Hände berührten etwas Glattes. Es war so kalt, dass er im ersten Moment zusammengezuckt war. Als er sich umdrehte, sah er in das kreidebleiche, tränennasse Gesicht und konnte erst nicht glauben, dass es ihm gehörte. Der große Spiegel …
Ein altes Erbstück. Die goldene Farbe am Rahmen blätterte bereits ab. Das Stück war bestimmt wertvoll, doch seine Mutter hatte sich immer geweigert, den Spiegel zu verkaufen. Nun staubte er im Keller vor sich hin. In ihrer alten Wohnung hatte er noch einen Ehrenplatz im Wohnzimmer gehabt. Aber nachdem sein Vater gegangen war, hatte sich alles verändert. Etwas riss ihn aus seinen Gedanken. Die Schläge und die Geräusche von berstendem Holz hatten aufgehört. Kevin näherte sich der Treppe. Die Tür stand dort, umgeben von einem Feld aus abgeblätterter Farbe. Das Material sah sehr mitgenommen aus.
Es versetzte Kevin einen Stich ins Herz und er schreckte zurück, als er von draußen die Stimme seiner Mutter vernahm. Sie fragte, was das alles solle und warum er die Tür abgeschlossen hatte. So gern er ihr auch geantwortet hätte, so gern er die Tür aufgerissen hätte und in ihre Arme gefallen wäre, etwas hielt ihn zurück. Er konnte Naddans Anwesenheit nach wie vor spüren.
Kevin war sich fast sicher, dass Naddan ihn mit irgendeinem Trick herauslocken wollte. Aber den Gefallen würde er dem Monster nicht tun. Kevin blendete die Fragen und das Klopfen der falschen Susanne aus und konzentrierte sich auf den Spiegel, um sich abzulenken.
Ein Schatten stand hinter dem blassen Jungen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Kevin drehte sich erschrocken um, doch da war nichts. Nur Gerümpel, beleuchtet von einer einzigen Neonröhre. Als Kevin sich erneut dem Spiegel zuwandte, trat der Zauberer vor. Es war der Mann aus seinen Träumen. Er hatte eine Glatze und einen schwarzen Spitzbart.
Hallo, Kevin. Die Stimme in seinem Kopf strahlte Wärme und Geborgenheit aus. Es war der komplette Gegensatz zu Naddans Kälte und trotz seiner Angst, gelang es Kevin sich für einen Moment zu entspannen und das gute, warme Gefühl zu genießen.
Wir haben nicht viel Zeit. Der Verschlinger wird die Tür bald durchbrochen haben. Vertraust du mir?, fragte ihn die Stimme des Zauberers. Die Gestalt hinter seinem Spiegel-Ich sah ihn eindringlich an. Die Lippen bewegten sich jedoch nicht.
Das ist nicht deine wahre Gestalt, oder?
Die Gestalt im Spiegel lächelte.
Das, was du sehen willst, und das, was ich bin, sind unterschiedliche Dinge. Ich musste mir sicher sein, dass du mich als Mentor akzeptierst. Was genau ich bin, spielt nun keine Rolle. Das Einzige, was zählt ist, dass wir einen gemeinsamen Feind haben. Also vertraust du mir?
Darüber musste Kevin nicht nachdenken. Er vertraute dem Zauberer. Kevin wusste nicht warum, aber momentan gab es nur die Wahl zwischen ihm und der Kreatur dort draußen. Naddan hatte es offensichtlich aufgegeben ihn herauslocken zu wollen. Nun waren wieder regelmäßige Schläge zu hören. Das Holz der Tür ächzte unter der brutalen Kraft des Wesens, das sich Verschlinger nannte, und Kevin hatte jedes mal das Gefühl, jetzt würde die Tür aufbrechen und wie ein verendendes Tier den Kampf aufgeben. Ihm blieb keine Wahl.
Ja, ich vertraue dir … was soll ich tun?
Dann hör mir jetzt genau zu. Löse deinen Geist von allen Gedanken und Zweifeln. Dann wirst du wissen, was du zu tun hast …
Kevin schloss die Augen. Zuerst wollte es Kevin nicht gelingen, aber dann kam ihm eine Idee. Kevin stellte sich einen Knoten vor. Einen normalen Seilknoten und löste ihn auf bis keine Faser des Seils mehr zu erkennen war. Das hatte ihm seine Mutter beigebracht. Es ist ein guter Trick, wenn du mal in Aufregung wegen irgendeiner Sache bist. Das war Kevin damals gewesen. Dieser Tag war einfach ein Pechtag gewesen und er stocksauer nach hause gekommen. Um ihn zu beruhigen, hatte ihm Susanne diesen Trick gezeigt. Es hatte damals funktioniert, hoffentlich funktionierte es jetzt auch. Es ging um alles. Kevin löste die Fäden des Knotens Stück für Stück. Er konnte sie vor sich sehen, als würden die Seile wirklich vor ihm auf einem Tisch liegen. Als er fertig war, spürte er eine Energie, die in ihn hineinfloss. Es fühlte sich großartig an, wie die Wirkung eines heißen Bades. Kevin fühlte sich wie neugeboren. Fühlte sich so Magie an? Kevin wiederholte die Prozedur ein weiteres mal, dann war Kevin sich sicher, dass er bereit war.
Die Stimme des Zauberes war nun lauter, als zuvor: und jetzt das Zeichen. Es ist in jeder Welt und bei jeder magiebegabten Person anders. Du wirst es wissen.
Etwas krachte und Kevins Blick fuhr nervös zu der Tür. Ein Loch prangte im Holz, während Splitter und alte Farbe herabregneten. Ein wütendes orangerotes Auge starrte ihn an.
Ich krieg dich, Junge! Die Stimme war kalt und schneidend wie Eis. Kevin wusste es nicht besser zu beschreiben. Panik erfasste. Das Zeichen, das Zeichen …
Dann brach gesammelte Magie in ihm aus. Kevin schwebte in der Zeit. So fühlte es sich zumindest an. Als die Tür aufbrach, kam es ihm so vor, als würde er in einem Meer aus imaginärer Energie schwimmen. Das herausbrechende Schloss war so klar und durchdringend wie ein Glockenspiel. Die Holzsplitter schienen in der Luft Schlieren zu ziehen wie Geschosse, die in Wasser eintraten bis sie schließlich ganz schwerelos zu schweben schienen. Kevin konnte es nicht fassen, er hatte die Zeit verlangsamt.
Das Zeichen, das Zeichen …
Das Monster schien sich ebenfalls in Zeitlupe zu bewegen. Es zog sich mit den widerlichen, klauenbesetzten Armen vorwärts, während der schlangenartige Schwanz ihm den Antrieb verlieh. Es rutschte die Treppe herunter, die gierigen, orangeroten Augen immer auf Kevin gerichtet.
Oh, so Blau … , konnte Kevin in seinem Kopf hören. Die Stimme war langezogen und wirkte blechern, unnatürlich.
Kevin hörte das Geräusch der einziehenden Luft nachhallen, als er einen letzten tiefen Atemzug nahm. Dann nahm er von jeder Hand den Zeigefinger. Sie schienen die zu Gelee erstarrte Luft zu teilen und zogen gleißende Lichtstrahlen hinter sich her. Kevin malte ein Dreieck. Das war das einzige, was ihm einfiel.
Das Dreieck, das er in die Luft zeichnete, erinnerte ihn an die Bilder eines Fotokünstlers, in dessen Aussstellung seine Mutter ihn gezerrt hatte. Den Namen wusste er nicht mehr, aber die Bilder waren surreal gewesen, aber auch in anderen Art unheimlich real. Es wären nichts weiter, als mit Licht gezeichnete Bilder, die mit einer Kamera mit langer Belichtungszeit aufgenommen wurden, hatte ihm seine Mutter achselzuckend erklärt, als der Junge nachfragte. Kevin hatte diese Ausstellung nie vergessen und nun erinnerte ihn dieses Dreieck in einer Weise an diese Fotokunstwerke, die ihn erzittern ließ. Mit Licht gemalte Bilder. Dies ist dein real gewordenes Foto.
Als das Dreieck vollendet war, konnte er einen Luftzug spüren, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Heulen, als die Zeit weiterzulaufen begann und Naddan kreischend in die Tiefen dieses Fensters gesogen wurde.
Nach dem Bruchteil einer Sekunde, war alles vorbei. Der Schrei der Kreatur hallte noch in seinen Ohren nach wie ein Tinitus. Dann herrschte wieder Totenstille. Erschöpfung griff nach Kevin. Er hatte das Gefühl, das ihm alle Kraft ausgesaugt worden war. Kevin fragte sich unwillkürlich wie diese andere Seite aussah und ob es dort auch Wesen wie Naddan gäbe oder ob es sogar daher stammte. Das Letzte, was er hörte, war eine Stimme in seinem Verstand …
Nicht, wenn du es nicht willst …