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Felix

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18.08.2003
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Felix

Felix steht inmitten des kahlen Raumes und sieht sich mit langsamen, traurigen Bewegungen darin um. Die Rückwand ist lavendellgrün gestrichen und schmucklos, bis auf einen übergibsten Riß, von der Decke zum Fußboden verlaufend.
An der gegenüberliegenden Wand hängt eine Tafel. Buchstaben reihen sich dort aneinander, sind mit Lehrinhalten angereichert. Felix betrachtet sie lange, aber es will ihm nicht gelingen sie einer Fachrichtung zuzuordnen. Es könnte Mathematik sein, ebenso gut wie Deutsch oder Philosophie. Vor seinen tränenden Augen ist alles einerlei.
Draußen biegen sich die Bäume vor dem Ansturm herbstlichen Windes. In bunten Farben drängen sich Blätter an die Zweige, um herabzufallen, auf grobkörnigen regennassen Asphalt.
Felix betrachtet es aus ausdrucksloser Miene und fühlt sich, als verlange jemand sein Urteil darüber. Ist es gut so oder schlecht? Er ist außerstande sich eine Meinung zu bilden. Sein Kopf ist leer. Sein analytischer Verstand läßt ihn im Stich.
Palmen wiegen sich über Korallenriffen, sich widerspiegelnd in azurblauen Wasser unter glänzend gelber Sonne. Das helle Ocker der Sandstrände bildet einen reizenden Kontrast, vervollständigt die Reisebüroprospektidylle. Südseeparadies. Dorthin möchte Felix. Dort wäre er jetzt gerne. Aber er kann es sich nicht leisten, obwohl jetzt keine Saison mehr ist.
Große Laubhaufen haben sich angesammelt und verdecken die verblassenden Kreidezeichen der Kinderspiele. Von Innen heraus werden sie von Maden und Würmern zerfressen. Destruenten gehen ihrer Arbeit nach und verwandeln den Müllberg Mutter Naturs zurück in Erde, auf der dann neues Leben keimen kann, das dann wieder stirbt, zerfressen zu Erde wird, auf der neues Leben keimt, das dann wieder stirbt.
Felix steht am Fenster und er ist allein und er hört dem Leben zu. Er hört und sieht, aber er kann die zwingende Logik, die hinter dem ewigen Kreislauf steht, nicht mehr begreifen. Früher, als Schulbuchwissenschaft, mag es seine Berechtigung gehabt haben, aber darüber ist das Leben längst rücksichtslos hinweggegangen.
Leer liegt der Schulhof zwei Stockwerke tief unter Felix. Kinderlachen und Kindergeschrei werden wie aus weiter Ferne von der Wand des gegenüberliegenden Gebäudes an sein Ohr geworfen. Wenn er genau hinhört und sich konzentriert, meint er seine eigene Fistelstimme, die vorpupertäre, heraushören zu können. Wenn er sich noch mehr konzentriert und genau hinsieht, kann er die Kinder vielleicht sogar auf dem Schulhof spielen sehen.
Felix. Felix. Geh doch. Was treibt dich hier noch um? Du bist schon lange kein Schüler mehr. Dreh dich um. Sieh die Türe hinter dir. Geh hindurch und sieh dich nicht mehr um. Ein Anfall von Nostalgie. Ein entschuldbarer Anfall von Nostalgie bloß. Er ist auch schon vorüber, nicht wahr? Schließlich muß man in der Gegenwart bleiben, mit beiden Beinen fest in der Realität verankert stehen.
Felix wendet sich um. Er läßt seinen Blick über die grün gestrichene Tür streifen, hin zur weißen Wand. Hinten in der Ecke, an der Zierleiste, hängt noch immer die Brandschutzverordnung und der Zettel mit den Terminen für die Arbeitsgemeinschaften, der schon zu seiner Zeit hoffnungslos überholt war. Beide Blätter sind von der Zeit und vom Licht gelb gefärbt worden, schon ganz vergilbt. Bald werden sie abfallen, auf den Boden. Dort werden die Destruenden sich nimmermüde über sie hermachen.
Damals.
Langsam scharrt Felix mit dem Fuß über den Boden, in der Hoffnung das schrecklich quietschende Geräusch zu hören. Doch alles bleibt still. Vielleicht muß man Turnschuhe tragen und mit mehr Enthusiasmus über den Boden rutschen. Felix blickt auf seine derben Arbeitsstiefel herab und stellt sich vor es wären Turnschuhe. Nike Air, Puma Predator, Adidas Streetwear. Die Namen seiner Generation.
Felix geht kurz entschlossen um die Tischreihe herum und setzt sich auf seinen alten Platz. Hinten links, zur Rechten, wie zur Linken flankiert von Mädchen. Der Hahn im Korb. Westentaschencasanova, der nie eine abbekommt. Natürlich hat er es auch nie ernsthaft versucht.
Die Niederlagen echter Gefühle, die ihm seiner Souveränität, seines unverbindlichen Charmes hätten berauben können, hat er immer zu meiden gewußt.
Wäre es nur wie damals. Held der Oberstufe. Von allen geliebt oder zumindest geachtet. Graue Eminenz, die im Hintergrund, alles stets unter Kontrolle habend, Klassenkameraden wie auch Lehrer, seine Fäden zieht.
Er ist sich vollkommen im Klaren darüber, daß die Oberstufe seine Zeit war. Sein Element, in dem er sich tummeln konnte, wie ein Fisch im Wasser, von keinerlei Industrieabfällen verunreinigt. Er ist sich auch darüber im Klaren, daß diese Zeit, diese drei Jahre, unwiederbringbar vorüber sind.
Felix, geh hinaus. Es ist nicht gut hier zu stehen. Sieh nur deine glasigen Augen. Erinnerungsjunkie, Mitleidsmensch. Felix, geh doch hinaus. Nur wenige Schritte von hier ist das richtige Leben. Felix?
Felix kippelt mit seinem Stuhl und kriegt die Wand zu fassen. Er läßt seine Hand darüber streichen. Köstlich schmiegt sich der kühle Stein an sein Fleisch. Willig folgt Felix Kopf nach.
Felix, merkst du nicht, wie deine Erinnerungen dich locken? Sie sind Sirenen, die dich verderben werden. Schon bald werden sie die Realität verdrängt haben, die Zukunft verschüttet. Dann bist du in ihnen gefangen. Niemand kann dich dann noch retten.
Erschrocken weicht Felix von der Wand zurück. Irgendwo werden Stimmen laut. Schritte folgen ihnen nach. Hektisch sieht sich Felix im Klassenzimmer nach einem Versteck um, aber er findet keines. Nackt, hilflos, steht er an seinem Platz und sieht in gelähmten Entsetzen zur Türe hin. Jeden Augenblick wird sie sich öffnen und er wird vor Scham in sich zusammenfallen. Wenigstens wäre er dann vorüber.
Dann verstummen die Stimmen und die Schritte verklingen. Felix ist wieder alleine, ist gerettet.
Hektisches Treiben herrschte an der Tankstelle und Felix stand mittendrin. Eine Frau schrie lautlos und ihre Hand, an ausgestrecktem Arm, wies auf das Kind in ihrem Auto. Ihr zu großer Mund verzerrte grotesk ihr Gesicht. Ein Mann stand in einen beigen Mantel gekleidet an eine Wand gelehnt und lächelte höhnisch. Er rauchte. Andere Menschen standen in Gruppen beisammen und gestikulierten aufgeregt. Immer wieder deuteten sie auf die Zapfsäule, aus der goldgelbes Benzin auslief. Der Mann rauchte noch immer grinsend.
Felix spürte, daß er etwas tun mußte. Der blaue Overall drückte schwer auf seine Schultern. Er mußte etwas tun, aber er wußte nicht was. Der Mann im beigen Mantel war wie die anderen auch mit seinem Wagen vor die Zapfsäule gefahren. Er hatte den Verschluß des Tanks aufgeschraubt und den Zapfhahn genommen. Dann hatte er ihn blockiert und neben das Auto auf den Boden gelegt und war zu der Garage gegangen, wo er sich eine Zigarette mit einem vergoldeten Feuerzeug anzündete. Seitdem lief das Benzin aus. Der Kerl wollte sich umbringen und alle anderen dazu. Die Leute erwarteten von Felix, daß er etwas tat. Er selbst erwartete es von sich, aber er wußte nicht was.
Das Benzin bildete erst eine Lache, dann ein Rinnsal, das ungehemmt in den Gulli floß. Eine gefährliche Situation, auch ohne daß der Idiot seine Zigarette rauchte und sie jeden Augenblick damit in die Luft jagen konnte.
„Was tun Sie hier? Wollen wohl was klauen, was?“ Der Kerl hatte ihn am Kragen gepackt und schüttelte ihn grob. „Schön blöd. Der Physiktrakt ist im Erdgeschoß. Hier sind nur Klassenräume, in denen gibt’s nichts zu holen. Aber das machen wir schön mit der Polizei aus.“
Felix versuchte dem Hausmeister erfolglos klarzumachen, daß er sich durchaus bewußt sei, wo der Physiktrakt ist, weil er nämlich selber einmal Schüler dieser Anstalt gewesen war und nur alte Erinnerungen auffrischen wollte.
„Kann ja jeder kommen“, war die Antwort gewesen. Eine Alkoholfahne hatte der Kerl gehabt, daß man besser kein Streichholz in dessen Nähe anzündete. Aber eigentlich hätte Felix das nicht überraschen dürfen. Das war schon zu seiner Schulzeit so gewesen.
Dennoch versuchte er, den alten Hausmeister vom Wahrheitsgehalt seiner Aussage zu überzeugen. Sich vor dem nach billigen Fusel stinkenden zu demütigen, war immer noch besser als die peinlichen Fragen der Polizei zu beantworten.
„So?“ triumphierte der Hausmeister. „Sehen wir denn aus, als hätten wir Führungen durchs Haus. Mit Japsen und Fotoapparaten und so?“
Wie lange er wohl darauf gewartet hatte diesen Satz einmal anbringen zu können. „Wir? Wir haben nichts miteinander gemein“, wollte Felix entgegnen, schluckte es aber herunter. Die natürliche Unterlegenheit seiner Position und der blaue Tankstellenoverall hielten ihn davon ab. Dies war nicht der Zeitpunkt für Standesdünkel, für die es ohnehin keinen Grund gab. Was half ihm jetzt schon seine Bildung, was war er in seinem Arbeitsanzug mehr als der alte Hausmeister? Nichts, er war gar nichts, außer gescheitert. Das Abitur in der Tasche hatte ihn zu einer Vielzahl glänzender Karrieren berechtigt, aber geworden war er Hilfsarbeiter auf einer Tankstelle.
Es ging noch eine Weile hin und her. Am Ende blieb die Polizei wo sie war. Nur Felix mußte gehen. Unter den skeptischen Blicken des Hausmeisters, der sich selbst wohl schon als eine Meldung im Lokalteil der Zeitung gesehen hatte – Hausmeister stellt Einbrecher – trat er den demütigensten Rückzug seines Lebens an.
Felix ging die Reuterstraße herunter zum Adenauerplatz, wo gerade Markt war. Vor den Menschenmassen flüchtete er. Ihre Anwesenheit bereitete ihm Schmerzen. Trug er seine Schande nicht auf die Stirn geschrieben?
Er ging zur Richard – Zanders – Straße, wo er einen Biergarten wußte. In der Anonymität der Menschen dort, wollte er sich betrinken. Immer saßen dort irgendwelche Frauen in schwarzen Strümpfen und geblümten Kleidern herum. Vielleicht kannte er eine von ihnen. Vielleicht würde sein unverbindlicher Charme...
Da es Herbst war, hatte der Biergarten geschlossen.
Der Chef kam aus seinem Kabuff gelaufen. Er sah die aufgeregten Menschen und das auslaufende Benzin und er sah den untätig herumstehenden Felix. Den Mann mit der Zigarette, der in seinem Rücken stand, sah er nicht.
„Die Feuerwehr geholt, Mensch. Willst du warten, bis uns alles um die Ohren fliegt, oder was?“
Er wartete gar nicht erst eine Reaktion ab, sondern stürzte zurück, in seinen Verschlag, um die Feuerwehr anzurufen. Wenige Minuten später traf sie ein. Und mit ihr kam die Polizei. Das Benzin wurde abgepumpt und der Mann mit dem vergoldeten Feuerzeug und dem beigen Mantel verhaftet. Er grinste jetzt nicht mehr hämisch, sondern blöde.
Alles wurde gut. Nur für Felix nicht, der wurde wieder arbeitslos. Er würde seinen Eltern seine dritte Kündigung erklären müssen und dabei in ihre traurigen Augen blicken müssen, wenn sie ihm erklärten, daß sie ihn liebten und daß er noch Zeit habe, das Richtige zu finden. Als sie in seinem Alter waren. Aber in seinem Alter waren sie nie gewesen.
Laub wird vom Wind über die Straße geweht, wo es unter die Räder der vorbeifahrenden Autos gerät. Felix betrachtet das Schauspiel eine Weile und geht dann weiter. Sein Platz war in der Schule gewesen. Es gibt so Menschen, die sind wie für diese Institution geschaffen. Aber Felix ist noch nicht am Ende. Im Leben hat er noch Probleme, doch er nimmt sich vor auch im Leben seinen Platz zu finden.

 

Hallo Hamilkar,

sehr melancholisch und traurig. Der Schluß ist allerdings etwas enttäuschend, da fehlt mMn die Überraschung, der Höhepunkt der Kurzgeschichte.

Würde gern mehr von dir lesen.

Gruß
Rainman

 

Hallo,

ich kann mich meinem Vorredner nur anschließen: Eine melancholische Geschichte, angenehm zu lesen, in deren Plot man sich recht gut einleben kann.
Das Ende hat jedoch auch mich ein wenig enttäuscht, vor allem der letzte Satz. Vielleicht gelingt es ja, den Vorsatz des Prot. in die Geschichte einzuflechten, statt mit einem "Kommentar" zu schließen. Wirkt für mich ein wenig nach dem "Holzhammer". ;)

Darüber hinaus hat mich die ein oder andere Umschreibung gestört, beispielsweise das "lavendellgrün".
Lavendelblüten sind doch violett, dementsprechend fällt es mir nur schwer, mir die Farbe der Wände vorzustellen...

Liebe Grüße,

Volker

 

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