- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Felix - Der Glückliche
Ich erinnere mich oft an die Zeit, als alles noch gut war. Als Achtjähriger war ich noch ganz normal. Etwas still und schüchtern, laut meinen Eltern, aber noch im Rahmen. Naja, im Laufe der Zeit hat sich das geändert. Die Leute in meiner Klasse fand ich irgendwie dämlich. Total zurückgeblieben. Als die anfingen, regelmäßig wegen gemischter Geburtstagspartys auszuflippen, fing ich an, regelmäßig die Wochenenden allein im Wald mit einem guten Buch zu verbringen. Fantasy zuerst, später Jostein Gaarder, dann die wichtigsten Werke der Philosophie, klassische Literatur … und so weiter. Faust hab ich mit elf gelesen. Da haben meine Eltern wohl bemerkt, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich hab Sartre und Brecht zitieren können, aber mit Videospielen wusste ich nichts anzufangen. Ich mochte einfach den Gedanken, all diese Ideen und Erkenntnisse in mich aufzusaugen, die bis zurück in die Antike reichten. Über die Stadtbibliothek war ich bald hinausgewachsen und flehte meine Eltern ständig an, mit mir in die Universitätsbibliothek zu fahren. Genau zwei Mal erfüllten sie mir diesen Wunsch. Die beiden schönsten Tage meines jungen Lebens.
Jetzt könnte man meinen, Schule sei für mich ein Zuckerschlecken gewesen. Aber weit gefehlt. Ich hatte es gerade so auf’s Gymnasium geschafft, und da war ich bestenfalls Mittelmaß. Freunde hatte ich auch keine, nicht dass mich das gestört hätte, aber meinen Eltern bereitete es wohl Kopfzerbrechen.
Mein älterer Bruder Michi war da das genaue Gegenteil zu mir und die Lehrer wunderten sich oft, wenn sie über unseren gemeinsamen Nachnamen stolperten und ich bestätigte, dass wir tatsächlich Brüder seien. Allein schon optisch waren wir wie Yin und Yang. Er blond, hochgeschossen und immer ein Lächeln auf den Lippen, ich dunkelhaarig (wie unsere Mutter), eher klein und nicht gerade die Fröhlichkeit in Person. Warum auch? Die Welt war schlecht. Das wusste ich auch schon vor jenem schrecklichen Tag.
Es war Sonntagabend. Gegen halb neun machten wir uns auf den Rückweg von einer Familienfeier. Die Fahrt würde zweieinhalb Stunden dauern. Meine kleine Schwester schlief in ihrem Kindersitz, Michi hatte seinen Gameboy in der Hand und ich schrieb in meinem Tagebuch bis ich irgendwann einschlief.
Als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich wie in Watte gepackt. Was war denn jetzt los? Warum lag ich in einem Bett? Hatte ich die Fahrt verschlafen und mein Dad hatte mich in mein Zimmer getragen? Aber das roch nicht wie mein Bett. Und irgendwas roch verbrannt. Das Gesicht meiner Tante, der Schwester meines Vaters, tauchte über mir auf.
„Felix? Bist du wach?“
Meine Antwort hörte sich an wie ein Krächzen und mein rechtes Auge wollte einfach nicht aufgehen.
Lange Rede, kurzer Sinn: Alle waren tot, außer meinem Vater und mir. Er hatte ein Bein verloren und ob mein rechtes Auge zu retten war, stand lange in den Sternen. Am Ende blieben eine große Brandnarbe auf meiner Wange und ein paar seltsam krumm wachsende Wimpern.
Zuerst wohnten wir bei meiner Tante, bis mein Vater sich an die Prothese gewöhnt hatte. Das Haus wurde verkauft. Er wollte es nicht mehr. Ich war noch einmal da, um meine Sachen zu holen und packte auch ein paar Dinge von meiner Mutter ein, klammheimlich, denn all das sollte eigentlich der Wohlfahrt gespendet werden. Die Erinnerungen waren zu schmerzlich, fand mein Vater. Mir kam es eher so vor, als würde ich meine Mutter noch ein zweites Mal verlieren. Sie ist damals der einzige Mensch gewesen, den ich echt gemocht hatte und mit dem ich ab und an geredet hatte. Und plötzlich war sie weg.
Bald fing ich an, ihr Parfum zu versprühen und nachts im Bett mit ihrer Kleidung zu kuscheln. Ich vermisste sie eben schrecklich. Mein Vater hatte eine kleine Wohnung gemietet, in einer anderen Stadt, weit weg von alten Erinnerungen. Er fing wieder an, einem Bürojob nachzugehen. Abends wollte er alleine sein. Ich glaube, ich habe ihn zu sehr an meine Mutter erinnert. Immerhin gab es in dem Ort eine größere Bibliothek. Und ich hatte die Kleidung meiner Mutter.
Als mein Vater mich eines Tages in ihrer schwarzen Bluse überraschte, schickte er mich weg, zu meiner Tante. Damals war ich 13 und in dem Hundertseelendorf todunglücklich. Deshalb trug ich Mamas Kleidung noch häufiger, ließ meine Haare wachsen, trug ihr Parfum, entdeckte, dass ich ihr mit Hilfe des Make-ups meiner Tante noch ähnlicher sehen konnte. Das Bild, das der Spiegel zurückwarf, gab mir Trost - bis auf die hässliche Narbe auf meiner Wange.
Als ich auf dem Nachhauseweg von der Schule von ein paar Älteren zusammengeschlagen wurde, beschloss meine Tante, dass ihr Dorf nicht der richtige Platz für einen Jungen wie mich sei, was auch immer sie damit meinte. Ich war 14 und keiner wollte mich haben. Und was macht man mit einem 14-Jährigen, den keiner haben will? Richtig. Man schickt ihn ins Internat.
Zwei Jahre lang sprach ich möglichst mit keinem und wohnte quasi in der Schulbibliothek. Das besserte irgendwie auch meine Noten, nicht dass ich viel darauf gegeben habe. Ich hatte ein Zimmer für mich alleine. Mich zu schminken und in Frauenoberteilen herumzulaufen, wurde für mich so selbstverständlich, wie die regelmäßigen Prügel, die ich dafür einsteckte. Manchmal bedauerte ich, dass es keine Mädchen gab. Alles Jungs. Ich war einsam. Alleine war ich schon lange, aber jetzt fing es an, mir etwas auszumachen. Ich fing auch an, über Sex nachzudenken, aber einem anderen Menschen so nahe zu kommen, das erschreckte mich irgendwie. Außerdem gab es ja ohnehin keine Mädchen und ich hatte nicht vor, mich heimlich fort zu stehlen, um in der Stadt eines kennenzulernen, wie meine notgeilen Mitschüler. Aber da gab es ja auch noch diese andere Möglichkeit.
„Schwuchtel!“
„Kleiner Arschficker!“
„Homo!“
Solche Worte begleiteten die Schläge. Ob es wahr war? Keine Ahnung. Sex ist einfach zu kompliziert. Am besten lässt man es einfach sein.
Das klappte auch erstaunlich gut. Bis jetzt, zum Halbjahr in der Zehnten. Ich bin 16 und habe mich damit abgefunden, die Jahre bis zum Abitur hier abzufristen und dann endlich zu studieren was ich will. In einer Großstadt, in der es nicht auffällt, wenn man anders ist.
Wie immer bleibe ich über die Ferien in der Schule. Aus meiner Stufe tut das sonst keiner. Ich habe meine Ruhe. Mit einem Stapel Bücher neben meinem Bett und einer großen Kanne Kaffee habe ich es mir am Freitagvormittag gemütlich gemacht und ich habe auch nicht vor, mich so bald zu bewegen, da klopft es. Ich bin, gelinde gesagt, überrascht.
„Ja?“
Der Direktor streckt den Kopf zur Tür herein.
„Hallo Felix. Ich habe eine Überraschung für dich. Du bekommst einen Mitbewohner.“
„Was?!“
„Du weißt doch, wir hatten heuer drei fünfte Klassen. Jetzt wird es eng. Sei nett zu Andy und zeig ihm alles ein bisschen, ja? Ich muss weiter. Viel Spaß euch beiden.“
Kein Wunder, dass sich der Direx so schnell aus dem Staub macht. Das geht ja wohl gar nicht! Wütend springe ich auf. Da steht er. Gut einen halben Kopf größer als ich, breit gebaut, was durch seine Baggy-Klamotten noch unterstrichen wird. Unter seinem Cappy kommen dunkelblonde Locken hervor. Aber was mich dazu bringt, wie vom Blitz getroffen vor ihm stehen zu bleiben und ihn anzustarren, ist sein Lächeln. Dieses unglaubliche Lächeln das Eis zum Schmelzen bringen könnte. Wie seine dunkelblauen Augen sich zu Schlitzen formen, wenn er lächelte! Und er lächelte mich an!
„Hallo, ich bin Andy. Scheint als würden wir uns ein Zimmer teilen.“
Ich brauche einen Moment, um zu bemerken, dass er mir die Hand entgegenstreckt. Diese Hand! Diese Berührung! Wann habe ich das letzte Mal jemanden berührt? Ich kann mich nicht erinnern. Weich und warm. Halte ich ihn schon zu lange fest? Abrupt lasse ich los. Er scheint es nicht zu bemerken.
„Also … bist du grad beschäftigt oder kannst du mich ein bisschen rumführen?“
„Nein, ja … klar!“
„Okay, dann lass ich die Koffer solange hier stehen.“
„Okay … hm … also … Zur Bibliothek geht`s hier lang.“
„Ich glaub das können wir auslassen. Ich bin nicht so der Bücherwurm.“
Er bemerkt meinen enttäuschten Blick.
„Du liest wohl viel?“
„Geht so …“
Die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich mache am liebsten den ganzen Tag nichts anderes.
„Also, wo gibt’s was zu essen?“
Ich zeige ihm den Speisesaal, die Sporthalle, den Unterrichtstrakt, den Verwaltungstrakt, den Wohntrakt. Er stellt immer wieder Fragen, die ich so gut wie möglich beantworte.
„Wie sind die Lehrer?“
„Was macht man so nach der Schule?“
„Zu wem geht man, wenn man was nicht verstanden hat?“
„Wo ist der nächste Supermarkt?“
Ich bin ihm wohl bei den meisten Fragen keine so große Hilfe.
Während unseres Rundgangs begegnen wir nur zwei jüngeren Schülern. Sonst ist die Schule wie ausgestorben. Als wir in den Gang zu unserem Zimmer biegen, fragt er:
„Und wie willst du genannt werden?“
„Was meinst du? Ich heiße Felix.“
„Ach so, ich dachte nur, dass du vielleicht noch einen Mädchennamen hast oder so?“
Ich schaue ihn an, sehe aber nicht den kleinsten Anflug von Spott in seinem Gesicht und schüttele nur den Kopf.
„Okay … also, was hat dich hier her nach Waldenburg verschlagen?“
Ich zucke mit den Schultern. Ihm das alles zu erklären, würde ewig dauern.
„Wie lange bist du schon hier?“
„Zweieinhalb Jahre.“
„Und, gefällt’s dir?“
„So gut wie überall anders auch …“
Seine Augen mustern mich ernst und nachdenklich.
„Felix heißt ‚der Glückliche’. Aber besonders glücklich schaust du nicht aus …“
Ich fühle mich so … durchschaut und wende meinen Blick ab.
„Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten …“
„Bist du nicht.“ lüge ich.
„Also ich bin hier, weil ich schon zwei Ehrenrunden gedreht habe und meine Eltern meinen, dass es hier besser laufen könnte. Ich bin ja mal gespannt. Bist du gut in der Schule?“
„Geht so …“
„Vielleicht kannst du mir ja ein bisschen helfen …“
„Keine Ahnung, vielleicht …“
Wir stehen vor unserer Zimmertür.
„Naja, ich glaub, ich geh jetzt erst mal duschen. Wir haben ein eigenes Bad, stimmt`s?“
Ich nicke.
Zwanzig Minuten später liege ich auf meinem Bett, nachdem ich die Hälfte des Schrankes frei geräumt habe, und lese Klaus Manns ‚Der fromme Tanz’. Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. Andy trägt nur ein Handtuch um die Hüften. Seine Haare ziehen sich in dichten, nassen Strähnen über seinen Kopf. Sein Oberkörper - meine Wangen werden heiß, ich spüre plötzlich dieses Verlangen ihn anzufassen. Die ausgeprägte Brustmuskulatur, den flachen Bauch …
„Hast du vielleicht einen Föhn für mich? Hab meinen wohl zu Hause gelassen.“
Sofort springe ich auf.
„Ja klar, warte…“
Ich krame ihn aus meinem Schrank und gebe ihn Andy. Wir stehen voreinander, unsere Blicke treffen sich. Langsam nimmt er mir den Föhn aus der Hand und legt ihn auf’s Bett. Dann kommt seine Hand immer näher an meine Wange. Diese unendlich zärtliche Berührung.
„Weißt du, wie wunderschön du bist?“
Wieder suche ich in seinem Gesicht vergeblich nach Spott und Hohn. Er scheint es ernst zu meinen.
„Nein …“ antworte ich ehrlich.
„Darf ich dich küssen?“
„Ich … ich hab das noch nie gemacht.“
Er lächelt nur sein unglaubliches Lächeln und mir werden die Knie weich. Ich spüre seine rechte Hand mit sanftem Zug in meinem Nacken, seine linke umfasst meine Taille. Dann spüre ich seine Lippen auf meinen. Sie sind unbeschreiblich weich und vorsichtig. Für einen Moment bleiben wir einfach nur so stehen. Als seine Hand über meinen Rücken fährt, bekomme ich überall Gänsehaut. Dann hält er mich eine Weile einfach nur fest, bis auch ich mich traue, ihn anzufassen. Meine Hände erkunden seinen Rücken und ich spüre, wie er leicht erschaudert. Er drückt sich ein Stück von mir weg, damit er mich wieder küssen kann. Dieses Mal spüre ich seine Zunge über meine Lippen gleiten und nur zu gerne gebe ich den Weg in meinen Mund frei. Unsere Zungen berühren sich kurz und das Gefühl dabei ist einfach unbeschreiblich. Andy zieht sich zurück.
„Ist das alles okay?“
Ich nicke und lächele ihn an.
„Trotzdem, lassen wir’s langsam angehen. Ich trockne mal meine Haare.“
„Geh nicht weg.“ schieße ich hervor.
Plötzlich ist die Vorstellung, sein hübsches Gesicht nicht mehr zu sehen, ganz schrecklich. Ich habe Angst davor, zu zwinkern und ihm damit die Gelegenheit zu geben, sich in Luft aufzulösen. Er nimmt meine Hand, als könne er Gedanken lesen, und zieht mich mit ins Badezimmer. Ich setze mich auf den Rand der Duschwanne und beobachte, wie durch das Föhnen nach und nach seine Locken zurückkehren. Als er seine Haare für trocken genug befindet, geht er vor mir in die Hocke und nimmt mit beiden Händen meine Rechte.
„Wenn ich was tue, das dir nicht gefällt, dann musst du nur sagen, dass ich aufhören soll, okay?“
„Okay.“
Vorsichtig und ganz langsam macht er sich daran, die obersten Knöpfe meiner Bluse zu öffnen. Ich spürte seine heißen Hände über meine Brust gleiten. Als er zufällig meine Brustwarzen berührt, überkommt mich ein absolut unbekanntes Gefühl, so als würde Energie in Wellen durch meinen Körper strömen.
„Lass uns wieder rüber gehen.“
An seiner Hand folge ich ihm wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank. Wir setzen uns nebeneinander auf mein Bett. Andy macht sich daran, auch die restlichen Knöpfe zu öffnen. Er streichelt meine Schultern und schiebt dabei die Bluse nach hinten, sodass sie runter fällt.
„Du bist so schön. Ich will dich überall küssen. Darf ich?“
Ich nicke, genieße und spüre, wie mir Tränen über die Wange laufen. Als Andy es sieht, wird sein Blick sehr besorgt.
„Tut mir leid, ich überrumple dich.“
„Nein, mach weiter. Ich hab noch nie etwas so schönes empfunden. Bitte hör nicht auf.“
Oh Gott, diese Lippen! Nichts kann sie aufhalten. Kein Quadratmillimeter meiner Haut ist vor ihnen sicher. Ich zittere, kann mich kaum noch unter Kontrolle halten.
„Ganz ruhig, Felix. Komm, leg dich hin.“
Als er sich über mich lehnt, rutscht ihm das Handtuch von der Hüfte. Es wird ernst. Zu ernst. Ich verkrampfe unwillkürlich. Was hat er vor? Das ist so neu. Ich bin so unsicher. Was, wenn ich alles falsch mache?
„Schon okay. Lassen wir es langsam angehen.“
Andy muss meine Unsicherheit gespürt haben. Er zieht mich in seinen Arm. Wir bleiben eine Weile reglos liegen, bis er mich besorgt fragt, ob alles in Ordnung sei.
„Ja, es ist bloß … überraschend.“
„Ja, ich weiß. Aber ich hab dich gesehen und wollte sofort …“
Er schaut mich nachdenklich an, berührt mich sanft an der Wange.
„Was ist da passiert?“
„Ein Unfall, als ich elf war.“
„Tat es sehr weh?“
„Ich kann mich nicht an große Schmerzen erinnern. Naja, aber seitdem laufe ich mit dieser Narbe rum.“
„Ohne sie wäre dein Gesicht zu perfekt. Ich finde, die Narbe macht dich interessant. Man fragt sich sofort, was für eine Geschichte dahinter steckt.“
Er schaut mich fragend an, aber ich habe nicht vor, das zu erzählen.
„Ich kann nicht darüber reden.“
„Okay, tut mir leid wenn ich zu neugierig war. Langsam werde ich hungrig. Wollen wir in den Speisesaal?“
„Ich hab gefrühstückt.“
„Drei Mahlzeiten am Tag, Minimum!“
Er ist so fröhlich, springt auf und holt sich Kleidung aus seinem Koffer.
„Komm doch mit! Alleine essen ist ungesund!“
Ich denke an die nervigen Blicke der Handvoll Jungs, mit denen ich gestern zu Mittag gegessen habe.
„Ich muss noch was lesen. Aber ich warte hier auf dich.“
„Na gut, wie du meinst. Bis gleich, dann.“
Und schon ist er weg. Ich liege immer noch oben ohne auf dem Bett und frage mich, ob ich vielleicht träume.
Nach 23 Minuten und 15 Sekunden kommt er zurück.
„Hey.“
„Hey.“
„Das Zeug konnte man echt essen. Ich hab mit Schlimmerem gerechnet.“
„Keine Ahnung. Ist halt Essen …“
„Was heißt das denn?“
„Ach, keine Ahnung …“
Er setzt sich neben mich. Seine warme Hand streicht mir über den nackten Rücken. Ich bekomme Gänsehaut.
„Isst du nicht gerne?“
„Ach, ich weiß auch nicht … Ist eben wie Tanken. Man muss etwas Sinnvolles dafür unterbrechen.“
„Krass! Aber Essen schmeckt doch! Essen macht Spaß!!“
„Naja.“
„Ich muss dir mal was kochen! Mal sehen, was du dann sagst.“
Er ist sofort total aufgeregt wegen der Idee und schmiedet Pläne. Ich lasse mich überreden, mit ihm in den Supermarkt zu gehen, um Zutaten zu besorgen und am Abend im Kollegstufenraum zu kochen.
Ich bin, wie immer, erschlagen von den hohen Regalreihen und der riesigen Auswahl von Dingen, die niemand braucht. Er steuert zielsicher umher und packt Gemüse, Olivenöl, Nudeln, Gewürze und eine Flasche Wein in den Wagen. Ich trotte hinter ihm her und sehe zu, wie er den Einkaufswagen als Roller missbraucht und bald einige Blicke auf sich zieht. Nicht zuletzt von ein paar Mädels in unserem Alter, die kichernd zusammen tuscheln und immer wieder auf ihn deuten. Ihm scheint das nicht aufzufallen und wenn doch, ignoriert er es überzeugend.
„Komm schon, lass uns noch nach CDs schauen, wo wir schon hier sind. Auf was stehst du?“
„Keine Ahnung … ‚The Cure’?“
Er verdreht die Augen als hätte er nichts anderes erwartet und fragt:
„Und was Aktuelleres?“
„Keine Ahnung, kenn ich nicht so viel.“
„Na schön. Dann eben … Bücher. In jeder Filiale gibt`s ne Bücherabteilung. Willst du da mal hinschauen?“
„Na gut …“
„Du bist echt schwer zu begeistern.“
„Tut mir leid …“
„Muss es nicht. Ich seh’s als Herausforderung. Also, brauchst du noch irgendwas?“
Tatsächlich ist das der Fall … aber soll ich? Ich zögere.
„Sag schon, was denn?“
Gleich wird er mich ganz sicher auslachen.
„Mein Mascara ist fast alle.“
Er findet es wohl tatsächlich ein wenig lustig und grinst breit.
„Sag das halt. Dann ab in die Kosmetikabteilung!“
Dort macht er sich dann mit fast wissenschaftlichem Interesse daran, mir bei der Auswahl zu helfen. Er rät zu einem von diesen neuen, teuren Exemplaren die man in verschiedenen Schichten mit seltsam gekrümmten Bürsten aus Gummi aufträgt. Ich entscheide mich aber doch für die schlichte Variante, die gerade mal ein Viertel soviel kostet. Er kann sich immer noch nicht von dem Teil mit den vielen Extras lösen.
„Das hat bestimmt die NASA entwickelt.“
„Klar, um ihren Astronauten das Schminken im All zu erleichtern.“ erwidere ich trocken, kann mir aber ein Lächeln nicht verkneifen.
„Du lächelst! Du hast tatsächlich gelächelt!“
„Ach, Schwachsinn.“
„Du hast ein wunderschönes Lächeln, Felix.“ flüstert er mir zu, bevor er mit dem Einkaufswagen davon rollt. Und schon wieder lächele ich. Was ist bloß mit mir los? Rhetorische Frage. Ich habe eine ganz gute Ahnung, was mit mir los ist, und das gefällt mir gar nicht. Er rollt zwei Gänge weiter und wartet auf mich.
„Also … fühl dich nicht gedrängt oder so … aber ich wäre gern vorbereitet, falls … also naja …“
Was stammelt der denn so rum? Mein Blick fällt auf das Regal, vor dem er steht. Oh.
„Oh.“
Kondome.
„Also, ich meine, die halten sich ja lang und so. Und wir müssen ja nicht, also, man kann die ja nicht nur für eine Sache verwenden …“
„Klar, man kann auch lustige Wasserbomben daraus machen und sie durchs Klassenzimmer werfen.“ meine ich trocken. Er kriegt sich gar nicht mehr ein, lacht sogar Tränen. Dann schmeißt er eine Packung ‚extra feucht’ in den Wagen. Ich weiß nicht viel, aber eins weiß ich. Wenn wir wirklich … dann reicht das nicht. In einem spontanen Anflug von Mut schmeiße ich eine Tube Gleitmittel hinterher. Aus irgendeinem Grund bekommt Andy schon wieder einen Lachanfall.
„Was denn? Nur um damit das quietschende Schrankscharnier zu schmieren.“
Das ist offensichtlich zu viel für ihn. Er setzt sich auf den Boden und ringt nach Luft. Verschluckt sich, macht komische Geräusche und muss darauf hin noch mehr lachen. Oh Mann, ich habe echt zwischendurch Angst, dass er mir gleich abkratzt. Und das wäre doch wirklich schade. Äh, naja, ich mag ihn. Ja, ich kann es selbst nicht so ganz glauben. Eigentlich mag ich niemanden.
Er besteht darauf, dass ich einfach nur sitzen bleibe und meinen Wein genieße, während ich ihm beim Kochen zuschaue. Das krieg ich hin. Er tänzelt an der Küchenzeile im verlassenen Kollegstufenzimmer entlang und hat scheinbar echt alles im Griff. Sogar an Musik hat er gedacht. Massive Attack, nicht schlecht. Gott, ist das Essen gut. Gott, ist Andy schön. Gott, ist das alles kitschig! Ich verlange Nachschlag und er strahlt über’s ganze Gesicht. Dann verlangt er einen Kuss für den Koch. Kann der küssen! Hoffentlich stelle ich mich nicht zu dämlich an. Aber ihm scheint es zu gefallen. Der Beweis dafür drückt sich an meine Hüfte. Er sperrt die Tür ab. Und da ist eine Couch … schon liegen wir auf dieser. Ich spüre den Wein, alles dreht sich. Da sind Hände auf meinem Bauch, streichen über meine Brust, schieben mein Shirt immer höher.
„Schlaf mit mir, Andy.“
Hab ich das gerade gesagt? Anscheinend. Andy zieht mich aus. Küsst mich, zieht mich weiter aus. Zeit, dass ich ihn auch mal ausziehe. Dann sind wir nackt. Noch mal: Gott, ist der schön! Und fordernd. Aber ich gebe gerne. Sollte ich nicht eigentlich nervös sein oder sowas? Aber wie er mich festhält! Ich bin in guten Händen und plötzlich sind meine Knie neben meinen Ohren.
Wie wir die nächsten beiden Tage verbringen, dürfte klar sein. Aber wir reden auch viel. Er erzählt mir, dass seine Eltern ihn mit einem Kerl im Bett erwischt haben und er deshalb hier ist. Tja, da haben seine Eltern wohl nicht mit mir gerechnet. Er ist so ehrlich zu mir und erzählt mir auch Dinge, über die zu reden ihm sichtlich schwer fallen. Von Samstag auf Sonntag schlafen wir gerade mal drei Stunden, denn ich erzähle ihm von meiner Familie. Das hab ich noch nie jemandem erzählt. Er hält mich in seinen starken, zärtlichen Armen, während mir die Tränen über’s Gesicht laufen. Ich erzähle auch von der Zeit bei meiner Tante und wie ich dazu kam, immer mehr Frauenkleidung zu kaufen. Er versteht mich, tröstet mich, küsst mich. Auch er weint, als er von seinem Vater und dem ganzen Druck redet, den er von zu Hause bekommt. Und von dem Tag, an dem er für sich selbst herausgefunden hat, dass er schwul ist. Das Einzige, wovon ich ihm nicht erzähle, sind die Prügel. Ich will vor ihm nicht als Opfer dastehen. Drei Tage und zwei Nächte verbringen wir zusammen und danach kommt es mir vor, als würden wir uns ewig kennen. Wie konnte ich es nur all die Jahre alleine aushalten? Ohne Andy, der mir beim Lesen über die Schulter schaut, ohne seine Hände, die mir über den Rücken streicheln, ohne dieses Lächeln, das mir das Gefühl gibt, der wichtigste und schönste Mensch auf Erden zu sein. Felix, der Glückliche.
Am Sonntag schaffen wir es nicht zum Frühstück. Andys Magen knurrt gegen halb eins so laut, dass ich mich breitschlagen lasse, mit ihm in den Speisesaal zu gehen.
Da sitzen drei Jungs aus meiner … unserer Klasse! Verdammt. Kalle, Sven und Steffen. Das ist übel. Das ist echt übel. Denen geh ich lieber aus dem Weg, wenn ich keinen Bock auf Prügel habe.
„Was hast du denn?“
„Ich … mir ist grad eingefallen, dass ich im Zimmer was vergessen habe. Ich hole das mal. Iss ruhig schon. Wir sehen uns nachher.“
„Ehm okay, wie du meinst …“
Eine Stunde später kommt Andy zurück auf’s Zimmer. Er scheint bester Laune zu sein.
„Hey, wo bleibst du denn? Warum sitzt du denn schon wieder über deinen Büchern? Was ist mit Essen?“
„Keinen Hunger …“
„Stimmt was nicht?“
„Alles bestens.“
„Na gut. Also, ich hab ein paar Leute aus unserer Klasse getroffen und die Jungs wollen heute in die Nachmittagsvorstellung des neuen Tarantino und davor noch ein bisschen durch die Stadt ziehen. Kommst du mit?“
„Mit denen? Nö, echt nicht.“
„Felix, was ist denn?“
„Ich lege keinen Wert auf deren Gesellschaft.“
„Ehm, okay … ich würde aber gern ein paar erste Kontakte knüpfen und so.“
„Ja und? Was erzählst du mir das?“
„Verdammt, Felix! Red halt mit mir!“
Ich versuche, meinen Ton ruhiger klingen zu lassen. Schließlich kann Andy noch nicht wissen, was das für Idioten sind. Aber das findet er ja vermutlich bald selbst heraus.
„Ich hab einfach keinen Bock auf die Typen. Ich will eh mal wieder allein sein, also geh ruhig.“
„Sicher? Wenn du lieber willst, dass ich bei dir bleibe …“
„Nein, schon okay. Tut mir leid, dass ich dich angepflaumt habe.“
„Nicht schlimm. Vergiss nicht, was zu essen, ja? Ich bin gegen sechs wieder da und der Abend gehört dann ganz uns, ja?“
„Okay, und noch was: Du sagst ihnen doch nichts von uns, oder?“
Ich habe nicht vor, den restlichen Abend damit zu verbringen, Andy wieder zusammenzuflicken.
„Bist du irre? Ich hab doch keine Todessehnsucht.“
Er zwinkert mir zu, gibt mir einen Kuss auf die Lippen und verschwindet.
Kurz nach sieben schneit er wieder herein, total überdreht.
„Schatz, ich bin zu Hause!“
„Das seh ich.“
„Ich hab auch schon gegessen.“
„Okay, eine Sorge weniger.“
„Der Film war toll. Wir müssen den noch mal zusammen anschaun!“
„Na mal sehen.“
Inzwischen hat er sich zu mir auf’s Bett geschmissen und lässt sich den Kopf kraulen.
„Die Jungs sind eigentlich echt ganz nett.“
Wie bitte? Das ist ja wohl nicht sein Ernst!
„Ehm … Wie du meinst.“
„Ich hab gesagt eigentlich. Bis sie erfahren haben, dass ich mir mit dir ein Zimmer teile. Die wollten sofort zum Direx und mir ein anderes Zimmer besorgen. Du machst denen scheinbar echt Angst.“
„Und was hast du gesagt?“
„Sei nicht sauer, ja?“
„Mal sehen.“
„Ich hab gesagt, dass ich Manns genug bin, mir mit dir ein Zimmer zu teilen und sie sich keine Umstände machen sollen. Ich wolle nicht schon in der ersten Woche durch Sonderwünsche auffallen.“
„Das war okay, glaub ich …“
„Nein war es nicht, aber ich bin einfach ein Feigling. Nach der ganzen Sache mit meinen Eltern …“
„Ich weiß und ich versteh das.“
„Lass dich knutschen!“
„Sperr lieber erst die Tür zu.“
Am nächsten Morgen klingelt der Wecker um sieben. Die Ferien sind vorbei.
„Montag, erste Stunde Mathe.“ murmle ich.
Andys warmer Körper drängt sich dicht an mich. Ich drehe meinen Kopf und sauge seinen Duft ein. Ich will nie wieder alleine aufwachen.
„Wer hat sich das denn einfallen lassen?“
„Lehrer eben. Gemeine Folterknechte.“
„Ich will nicht aufstehen. Ich will viel lieber mit dir hier im Bett bleiben.“
„Ja, das spüre ich deutlich.“
„Frechdachs!“
Andy knabbert an meinem Hals, kneift mich in die Rippen, dass ich loskreische, dreht mich zu sich, küsst mich. Fünf Minuten puren Glückes, bevor wir da raus müssen, wo wir kein Paar sein dürfen, am besten sollten wir noch nicht mal Freunde sein. Ich will Andy keine Schwierigkeiten machen und das sag ich ihm auch.
„Glaubst du echt, die machen Stress, nur weil wir befreundet sind?“
„Auf jeden Fall. Dann stehst du sofort auf der Abschussliste. Ich mach alles so wie immer und du bist einfach der Neue. So machen wir’s, keine Widerrede.“
„Ich glaub echt, du übertreibst, aber bitte. Dann versuchen wir’s mal eine Weile so.“
Wie immer setze ich mich ganz nach vorne ans Pult. Das ist zwar enorm strebsam und so, aber auf die Art traut sich keiner, mich mit irgendwelchen ekligen Sachen zu bewerfen oder mir was zu klauen. Kurz bevor es klingelt, betritt Andy den Raum, zusammen mit Kalle, Sven und Steffen. Dass ausgerechnet die drei ihn unter ihre Fittiche genommen haben, stinkt mir gewaltig. Aber er ist nun mal rein optisch genau ihre Kragenweite. Teuere Hopper-Klamotten mit diesem dämlichen Cappy, das beim Küssen dermaßen störte, dass ich es irgendwann in die Ecke gepfeffert habe. Tumult, ein Neuer, wo kommt der her, was ist das für einer? Herr Strom, der Mathelehrer hat seine liebe Not, die Klasse wieder in den Griff zu bekommen.
„Stell dich doch mal vor.“
„Andy Nagel, 18, aus der Nähe von München. Ich mach die Klasse zum zweiten Mal. Das war`s eigentlich …“
„Na schön, dann setzt euch jetzt alle, mal sehen, ob ihr noch wisst, was wir vor den Ferien durchgenommen haben.“
In der Pause wird Andy von allen Seiten belagert und ich kann endlich mal in Ruhe was essen, ohne dass irgendwer mich blöd anpflaumt. Schade, dass wir nicht öfter Neue in die Klasse bekommen.
Um zwei sitze ich im Zimmer am Schreibtisch, über Englisch, als ich die Tür höre. Andy, aber nicht allein. Chris und Kalle sind bei ihm.
„Hey, ich hol nur schnell was …“
„Was auch immer.“
„Sei höflich, Tunti, sonst gibt`s n paar auf`s Maul“, zischt Kalle.
„Habt ihr’s dann? Ich hab noch was zu tun.“
„Ja, sorry. Wir sind schon wieder weg.“
Andy schaut mich entschuldigend an. Ich kann mich nur weg drehen. Mit den Sprüchen kann ich schon lange leben, aber vor Andy ist mir das echt peinlich. Tunti. Ja, Kalle hat ja Recht.
Als Andy bald drauf zurückkommt, und zwar alleine, lackiere ich mir gerade die Nägel. Trotzreaktion. Schwarz. Ich höre, wie er den Schlüssel umdreht.
„Hey.“
„Hey.“
„Tut mir leid, wegen vorhin.“
„Das ist genauso dein Zimmer.“
„Ich meine nicht die Störung, ich meine, dass ich nichts gesagt hab, als Kalle den Spruch gerissen hat.“
„Lass uns nicht davon reden, okay?“
„Wie du willst. … Schwarz, hm? Ganz schön düster.“
„Wie meine Seele. Uuuuh.“
„Und was für eine Farbe hat meine Seele?“
„Regenbogenfarben.“
„Sind wir nicht ein tolles Paar?“ meint er sarkastisch.
„Fragst du mich jetzt, ob ich mit dir gehen will?“
„Schwachsinn. Du gehst doch schon mit mir.“
„Soso …Waaah, Vorsicht, die Nägel!“
Schon finde ich mich auf dem Bett wieder, Andy über mir.
„Willst du mit mir gehen, Felix?“
„Du bist echt süß.“
„Ist das ein Ja?“
„Bin ich dann dein Freund oder deine Freundin?“
„Mein Schatz.“
Darauf antwortet man wohl am besten mit einem Kuss.
Ein plötzlicher Gedanke:
„Hast du eigentlich einen Führerschein?“
„Allerdings.“
„Oh, wie praktisch, mein Freund hat schon den Führerschein.“
„Und ein Auto.“
„Was?!“
„Ich will das hier nicht so rumposaunen, sonst muss ich ständig wen rumkutschieren. Wenn uns also mal die Decke auf den Kopf fällt …“
„Du bist mein Retter! Weißt du, wie lang ich mit dem Bus bis in die Stadtbibliothek brauche?!“
„Das ist Vergangenheit. Ab sofort musst du mich nur noch gebührlich entlohnen.“
„Soso! Und was verlangst du?“
„Dass ich dich anschließend zum Essen ausführen darf.“
„Häh? Wo ist da der Haken?“
„Nirgends. Ich will nur, dass du ordentlich isst. Du bist zu dünn, Felix.“
„Na gut, Deal.“
„Deal.“
„Und jetzt ab an die Hausaufgaben.“
„Aber bis morgen haben wir doch nur Englisch auf. Sag mal, warum setzt du dich eigentlich freiwillig ans Lehrerpult?“
„Weil ich ein kleiner Streber bin, was denkst du denn? Und jetzt ab! Dann bekommst du nachher auch ne Belohnung.“
Die erste Woche verläuft recht ereignislos. Andy ist öfter nachmittags unterwegs, aber die Abende verbringen wir zusammen im Zimmer. Knutschen, schauen DVDs auf Andys Lap Top, machen rum, lesen zusammen, kuscheln, erzählen uns von unserem Tag oder von früher.
Andy fragt immer öfter, warum ich mich so ausschließe aus der Klasse.
„Hast du denn die Sprüche nicht gehört. Ich bin nicht gerade beliebt.“
„Aber doch nur, weil sie dich nicht kennen. Du bist klug und witzig, die würden dich schon mögen.“
„Wie naiv bist du denn? Die würden sich nie mit mir abgeben und ich kann auch gut darauf verzichten. Lassen wir das Thema, okay? Fahren wir jetzt morgen in die Stadt?“
„Klar, wenn du willst. Dann treffen wir uns um zwei auf dem Parkplatz, ja?“
„Okay …“
Andy ist nach der Schule nicht im Zimmer. Wahrscheinlich ist er wieder mit den dämlichen Dreien unterwegs, die inzwischen mit Chris zu viert sind. Wenn die sich weiter so vermehren, dann Malzeit. Na schön, dann mach ich eben erst ein paar Hausaufgaben und um kurz vor zwei bin ich auf dem Weg zum Parkplatz. Stadtbibliothek und danach Essen mit meinem Freund. Darauf freu ich mich schon seit ich weiß, dass Andy ein Auto hat. Ein alter Ford in weiß. Sollte zu finden sein.
„Hey Tunti!“
Oh Mann, bitte nicht jetzt. Da stehen alle vier mit dämlichem Grinsen, das mehr wie ein Zähnefletschen wirkt.
„Na Süße, wo willst du denn hin? Ein Date mit dem Lover?“
„Lasst mich einfach zufrieden, okay? Ich will keinen Stress.“
„Wenn du keinen Stress willst, dann solltest du nicht so rumlaufen, du kleine Tunte!“
Irgendwie haben die Vier mich plötzlich eingekreist und wo sind denn jetzt alle anderen Leute geblieben? Der Weg ist verlassen, der Parkplatz noch zu weit weg. Ob Andy schon dort ist? Vielleicht kann ich da hin laufen? Und dann? Mich hinter ihm verstecken? Ihn da mit reinziehen? Vor ihm wie das arme kleine Mädchen dastehen? Aber was hab ich für eine Wahl? Kalles Hand greift nach mir, ein schlecht gespielter Annäherungsversuch.
„Na Süße, wie wär’s? Hat’s dir schon mal einer so richtig besorgt? Komm schon, zier dich nicht.“
„Hände weg, verdammt!“
„Oh, Wildkatze.“
Kaum gesagt, hat er schon meine Fingernägel im Gesicht und ich bin auf dem Weg zum Parkplatz. Fünf große Schritte, dann spüre ich, wie sich Arme um meine Hüfte schlingen und mich zu Fall bringen. Rollsplitt reißt meine Handflächen auf, aber mehr Sorgen macht mir das schwere Gewicht eines auf mir sitzenden Körpers. Ich werde an den Haaren gezogen und so gezwungen, mich umzudrehen, höre Gelächter und Beschimpfungen. Kalle ist der, der auf mir sitzt. Im Moment, als ich ihm das Gesicht zuwende, spüre ich auch schon einen harten Schlag von links, gefolgt von einem weiteren auf die Nase. Ich sehe kurz Sterne, dann wird es dunkel.
Ich bin Schläge gewöhnt, aber ich kann sie immer noch nicht gut wegstecken. Ständig werde ich ohnmächtig. Ich weiß aber auch, dass sie dann aufhören und ich alleine bin, wenn ich die Augen wieder aufmache. Langsam rapple ich mich hoch. Meine Hose ist zerrissen, Rollsplitt hat sich nicht nur in meine Handflächen, sondern auch in meine Knie gebohrt. Ein stetiger Blutstrom kommt aus meiner Nase und meine linke Wange tut höllisch weh. Was mich aber wirklich verletzt, ist, dass aus dem Nachmittag mit Andy nichts wird. Er darf mich so nicht sehen. Was soll ich ihm denn sagen? Die Kerle haben mir schon mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass ich tot bin, wenn ich irgendwas ausplaudere. Ich glaube ihnen sofort, dass sie das zumindest versuchen würden. Somit muss ich mal wieder versuchen, ungesehen in mein Zimmer zu gelangen. Darin habe ich schon Übung, ich will ja schließlich keinem Lehrer erklären müssen, woher die blutige Nase kommt.
Das Zimmer ist leer, es ist zehn nach zwei. Ich schließe mich im Bad ein. Ein kalter Lappen im Nacken hilft gegen das Nasenbluten. Ich kann zusehen, wie es schwächer wird, suche Desinfektionsmittel und eine Pinzette. Damit werde ich gleich den Rollsplitt entfernen. Nur die Wange macht mir Sorgen, die wird schon blau. Wie soll ich das bloß erklären? Vielleicht kann ich es irgendwie überschminken, so wie das blaue Auge damals.
„Felix, bist du da drinnen?“
Scheiße.
„Felix, ich seh das Licht. Ist alles okay? Ich hab auf dich gewartet.“
Verdammt, wie soll ich das erklären?
„Sorry, mir geht`s nicht gut. Ich befürchte, wir müssen den Ausflug verschieben.“
„Oh, okay … Schade. Ich hol dir Tee, ja?“
„Okay, danke.“
Jetzt bloß keine Panik. Wie lange kann ich hier drin bleiben, ohne dass es ihm seltsam vorkommt? Ich muss einfach alles schnell wieder in Ordnung bringen. Aber die zerrissene Hose. Verdammt, warum hab ich mir keine andere Hose mitgenommen? Wenigstens hat das Nasenbluten einigermaßen aufgehört. Ich muss mir nur schnell Klamotten besorgen, solange Andy Tee holt. Okay, das ist ein Plan. Schnell öffne ich die Tür und…
„Was … ich dachte …“
Andy sitzt auf seinem Bett und starrte mich ungläubig an.
„Was ist passiert?“
„Ich bin hingefallen, saudämlich.“
„Gott, du bist ja total blutverschmiert. Komm her, das werfen wir erst mal in die Wäsche.“
Er zieht mir den Pulli und die Hose aus und entdeckt dabei die offenen Knie.
„Du nimmst am besten ein Bad, damit die Haut aufweicht. Dann schrubben wir das raus. Komm.“
Er lässt mir ein schönes warmes Bad ein, bringt mir eine kühle Flasche Cola für die Wange, setzt sich mit einem Buch neben mich und liest mir vor.
Nach einer Weile lässt es sich nicht mehr aufschieben.
„So, wollen wir mal sehen, ob wir das Zeug wegbekommen. Gib mir mal deine Hand.“
Es tut wirklich kaum weh, als er mit einem Handtuch die dunklen Flecken fort reibt. Er wickelt mich in seinen flauschigen Bademantel und trägt (!) mich in sein Bett, weil meine Knie irgendwie weich geworden sind und ich Kopfschmerzen habe.
„So, mein Schatz. Jetzt trink erst mal was und dann versuch zu schlafen, ja?“
Ich bin plötzlich wirklich müde und nicke nur.
Geweckt werde ich vom Geruch von frischem Brot und Tomaten.
„Ich hab dir Abendessen gebracht. Hast du Hunger?“
„Etwas.“
„Deine Wange sieht schlimm aus. Ich hab ein Kühlaggregat mitgehen lassen. Hier, nimm die Bettdecke dazwischen, sonst ist es zu kalt.“
„Danke.“
Ich verschlinge die Tomatensuppe mit frischem Weißbrot geradezu. Hab ich heute überhaupt schon was gegessen?
„Wie geht`s dir?“
Andy nimmt mir den leeren Teller ab und setzt sich dicht neben mich.
„Ganz okay.“
„Gut, dann kannst du mir jetzt erzählen, was wirklich passiert ist. Wer war das? Und warum?“
„Warum? Willst du mich verarschen? Du weißt ganz genau, warum. Ich kann halt nicht verstecken wer ich bin, so wie du!“
„Okay und wer war das?“
„Das kann ich dir nicht sagen, also frag auch nicht weiter nach.“
Ich schweige ab sofort beharrlich. Den restlichen Abend liege ich in Andys Arm und starre Löcher in die Luft.
Danach ist alles wieder wie immer. Andy bekommt aus mir nichts raus und versucht es nach einer Weile auch nicht mehr. Er hängt weiter mit diesen Idioten rum und regt sich abends bei mir über ihre dämlichen Sprüche auf. Natürlich frage ich ihn, warum er sich trotzdem noch mit denen abgibt. Er meint, er sei da irgendwie schon zu tief drinnen, die anderen aus der Klasse würden sich nicht mehr wirklich mit ihm beschäftigen. Von solchen Gruppenphänomenen hab ich keine Ahnung, also muss ich ihm das eben glauben.
Dafür sammle ich immer mehr Erfahrungen im Paar-Dasein. Wir holen unseren Bibliotheksausflug nach, gehen ins Kino oder Billard spielen. Das ist echt gar nicht so übel, mit der richtigen Gesellschaft. Außerdem stelle ich fest, dass Andy echt schlau ist, aber ein Problem mit vorgefertigtem Wissen hat. Wenn man ihn alles selbst rausfinden lässt, dann klappt das. Es wird Ostern, was bedeutet, dass ich zwei Wochen lang in mein altes Einsiedler-Leben zurück muss.
Als er zurückkommt, ist Andy irgendwie seltsam. Er leugnet es zwar, aber ich spüre, dass zu Hause etwas vorgefallen ist. Er starrt oft Löcher in die Luft, als würde er einem Gedanken nachhängen. Und es ist kein fröhlicher Gedanke, soviel kann ich sagen.
Dann kommt es mal wieder zum Eklat. Ich habe den Fehler begangen, mein Buch vor Steffens Füße fallen zu lassen, im Pausenhof, in einer ruhigen Ecke. Das reicht natürlich als Anlass. Erst wird mein Buch zerfetzt, dann ich. Es dauert länger als sonst, die Jungs lassen sich Zeit um mit mir zu spielen, schubsen mich von einem zum anderen, reißen dabei blöde Sprüche und entdecken, dass es lustig ist, jemanden anzuspucken.
„Habt ihr sie noch alle? Was soll’n der Scheiß! Lasst ihn gefälligst in Ruhe!“
Wo kommt Andy denn plötzlich her? Ich bin schnell vergessen, denn die Aufmerksamkeit der Höhlentrolle wendet sich dem Verräter zu.
„Verteidigst du die kleine Schwuppe etwa, Nagel?!“
„Ihr könnt doch nicht zu viert auf ihn losgehen! Das ist ja wohl total feige!“
Jetzt wirken die echt ziemlich angepisst. Der Gong zerreißt die angespannte Stille, aber niemand rührt sich.
„Verschwinde, Tunti. Die Männer haben hier was zu klären.“
Andy bedeutet mir ebenfalls, zu verschwinden. Ich habe wohl keine Wahl, wenn ich alles nicht noch schlimmer machen will. Ich ziehe mich erst mal um und gehe dann, mit gehöriger Verspätung, zu Englisch. Die anderen sitzen in der letzten Reihe als sei nichts gewesen.
Erst am Abend kommt Andy auf unser Zimmer zurück.
„Alles okay?“ frage ich, denn er sieht ziemlich fertig aus.
„Mir wurde zu verstehen gegeben, dass ich so eine Nummer nicht nochmal abziehen brauche, oder jeder erfährt, dass ich was mit der Tunte hab. Inklusive meiner Eltern.“
Mir wird heiß.
„Woher wissen die das?“
„Gar nicht, die bluffen. Aber was soll ich machen? Meine Eltern werden das sofort glauben und dann schicken sie mich wo anders hin.“
Das darf nicht passieren. Wir einigen uns darauf, ab sofort noch vorsichtiger zu sein und in der Öffentlichkeit einen auf verfeindet zu machen. Wenn Andy von hier weg müsste … ich darf überhaupt nicht daran denken.
Immerhin bleiben uns die Abende. Da kann sich Andy total entspannen. Er sagt mir immer, wie glücklich ich ihn mache und ich kann ihm nur versichern, dass es bei mir das Gleiche ist. Ich liebe unsere Ausflüge in die Bibliothek und ich liebe es, dass Andy inzwischen fast genau so gerne liest, wie ich. Gibt es etwas schöneres, als sich abends zusammen zu kuscheln und in eine andere Welt einzutauchen? Ja, das Leben ist schön. Felix, der Glückliche.
„Hey, Nagel! Die Schwuchtel starrt dir auf den Hintern! Willst du dem Kleinen die Flausen nicht austreiben?“
Die Umkleide nach dem Sportunterricht, ganz und gar mein Fehler. Ich habe ihn tatsächlich angestarrt, denn da ist ein blauer Fleck über seiner Hüfte. Gestern Abend war der noch nicht da.
„Tut mir leid, ich …“
„Schnauze, mit dir redet keiner!“
Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass ein paar Leute eilig ihre Sachen zusammenraffen und verschwinden. Steffen und Chris kommen von draußen wieder rein. Ich bin eingekreist.
„Was is, Nagel? Zeig deiner kleinen Freundin mal, wer der Herr im Haus ist!“
Andy steht kurz davor, panisch zu werden. Er ist leichenblass und schwitzt. Als er sonst nichts tut, übernimmt Kalle das. Schneller als man dem Fleischklops zutrauen würde, packt er mich an den Haaren und schleift mich Richtung Duschen. Mein Kopf knallt gegen die Armatur, gleich danach trifft mich ein eisiger Wasserstahl von oben.
„Felix!“
Andy ist uns wohl gefolgt. Unfreiwillig landet er neben mir, rappelt sich aber sofort wieder auf. Mich trifft ein Fußtritt am Knie. Das Wasser verschleiert mir die Sicht. Andy brüllt irgendwas, woraufhin ich nur noch Gepolter höre. Ich versuche, aufzustehen, aber mir ist zu schwindlig. Gleich darauf befördert mich ein Stoß wieder gegen die Wand. Jemand tritt mich, ich krümme mich zusammen und warte, aber es hört nicht auf. Diesmal ist es anders. Diesmal habe ich Angst. Angst um Andy. Ich muss sehen, wo er ist. Langsam nehme ich den Arm vor dem Gesicht weg, weiche vor einem Fußtritt zurück und schaue nach oben, in das Gesicht meines Peinigers. In Andys Gesicht. Seine Augen sind geschlossen, sein Gesicht feuerrot und immer wieder holt er aus und tritt gegen meine Beine, meine Hüfte, meinen Rücken. Kalle hat sich über mich gebeugt, hält mich fest und zieht eine irre Fratze. Steffen und Chris stehen hinter Andy und lachen hysterisch. Das alles nehme ich ganz sachlich, ohne jede Emotion wahr. Sven taucht aus dem Nichts über mir auf, eine Sekunde später wird alles schwarz.
Als ich zu mir komme, liege ich immer noch in der Dusche. Mir ist kalt und meine Glieder sind steif. War da nicht eine Stimme? Ich drehe den Kopf und sehe meinen Sportlehrer. Da kommen Sanitäter. Ich bin total benommen.
In einem sauberen, weiß bezogenen Krankenhausbett stellt mir der Direktor Fragen. Eine Platzwunde an der Stirn musste genäht werden, aber alles wird wieder heilen, verspricht er mir. Er hat auch meinen Vater benachrichtigt, der bestimmt bald hier sein wird. Ich nenne ihm nach einer Weile vier Namen. Damit gibt er sich zufrieden.
„Und wo steckt dein Mitbewohner?“
„Andy? Warum, was ist mit ihm?“
„Er ist zur fünften Stunde nicht erschienen und ist nicht zu finden.“
Er hat auf mich eingetreten. Die einzig logische Erklärung ist, dass er dazu gezwungen wurde, vermutlich erpresst. Trotzdem bin ich wütend auf ihn. Man hat immer eine Wahl. Andererseits, nach allem, was er von seiner Familie erzählt hat, verstehe ich schon, dass er um jeden Preis verhindern will, dass sie irgendwelche Gerüchte aufschnappen. Ich weiß nicht, was ich denken soll und beschließe, abzuwarten, bis ich am nächsten Tag mit ihm sprechen kann.
Er ist nicht da. Alle seine Sachen sind hier, aber von ihm keine Spur. Sogar sein Geldbeutel liegt hier. Jetzt mache ich mir wirklich Sorgen. Ich gehe zum Direktor, was Besseres fällt mir nicht ein. Ich erfahre, dass er nicht im Unterricht war. Die Neandertaler sind für zwei Wochen suspendiert und nach Hause geschickt worden, die kann ich also auch nicht fragen.
Am Abend lässt sich der Direktor nicht mehr abhalten. Nach Rücksprache mit den Nagels schaltet er die Polizei ein.
___________________________________________________________________________
Das ist jetzt zwei Jahre her. Andy kam nie zurück. Kalle, Sven, Chris und Steffen wurden befragt, doch die waren geschlossen zur fünften Stunde aufgetaucht. Sie beteuerten, Andy sei einfach weggegangen, nachdem ich bewusstlos geworden war. Ohne ein Wort oder einen Hinweis, wohin er wollte. Sein Auto stand auf dem Parkplatz, nichts von seinen Sachen fehlte, die war ich immer wieder durchgegangen, bis kein Zweifel mehr bestand. Anfangs habe ich noch gehofft, dass er einfach so wieder auftauchen würde. Chris gestand, dass sie ihn mit Erpressung dazu gebracht hatten, mich zu schlagen. Soziale Stunden haben sie dafür bekommen, in einem Altenheim. Zum Schuljahresende wechselte ich auf ein anderes Internat, wo ich ein Jahr blieb. Mit 18 zog ich nach München, dort werde ich nächstes Jahr Abi machen. In Waldenburg habe ich meine Adresse im Sekretariat hinterlassen, falls Andy doch eines Tages, wie in meinen Träumen, zurückkehrt. Doch inzwischen sagt mir mein Gefühl untrüglich, dass das nie passieren wird. Ein Mensch kann nicht einfach so, ohne Spuren zu hinterlassen, verschwinden? Einige Kilometer von der Schule entfernt gibt es diesen Staudamm, ich selbst habe Andy mal davon erzählt, dass ich mir manchmal vorgestellt habe, für immer in den reißenden Fluten zu verschwinden, wie in einem schwarzen Loch.