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Feinschmecker
Es war an einem Donnerstagabend. Karin war weg und zurück blieb nichts als Leere. Grund genug, mit zwei Sixpacks die Couch zu besiedeln, um mir die Herr der Ringe Trilogie hintereinander rein zu ziehen, natürlich in der extended version. Ich hatte mir ein dazu passendes Outfit gewählt: Unterhosen und mein geliebtes Siff-T-Shirt, das ausgewaschene, scharlachrote.
Als ich gerade in die Tiefen meiner Couch sank und feierlich den Start-Knopf drücken wollte, klingelte es an der Tür. Selbstverständlich dachte ich nicht daran zu reagieren, ich war ja schon so gut wie in Hobbingen. Aber es wollte nicht aufhören.
„Was soll' s“, dachte ich mir. „Schlimmstenfalls guckt noch einer mit.“ Also erhob ich mich und schlurfte den Gang meiner Zwei-Zimmer-Wohnung hinunter, um der mittlerweile klopfenden Nervensäge die Tür zu öffnen.
„Mensch, hallo Jörg! Kennste mich noch? Ich bin' s, Manfred, der Kumpel von dein Vadda!“
Da stand er nun: Manfred Born, ehemaliger Arbeitskollege meines alten Herrn, Gott habe ihn selig. Ich hatte ihn bei einer der Schwarzbaustellen kennengelernt, wo ich in den Ferien mein Taschengeldkonto aufbessern durfte. Er hatte eine eiserne Regel: Bier erst ab zehn.
„Grüß dich Manfred. Ähm, wie geht' s?“ Irgendwas musste ich ja sagen.
„Oh, alles bestens!“ Er war sichtlich erfreut über mein geheucheltes Interesse. „Aber jetzt, wo du fragst, eigentlich geht' s mir beschissen“, nuschelte er hinterher. Nachdem ich noch mal sehnsüchtig in Richtung Fernseher gelinst hatte, sagte ich resignierend:
„Na dann komm halt rein!“
Wir saßen am Esstisch in der Küche. Manfred hatte sich mittlerweile die dritte Kippe angesteckt und spielte am Verschluss seiner Bierdose.
„Ich kann dir sagen, das war nicht leicht für mich, bei dir anzuklopfen. Aber ich weiß nimmer wo hin. Und dein Vadda, der war wie ein Bruder für mich, verstehste?“
Unwillkürlich drehte ich den Ring am Finger. Vaddas Ehering war das einzige, was nach der Straßenwalze von ihm übriggeblieben war. Irgendwie seltsam ihn zu tragen, aber eben ein Andenken an die wichtigste Person meines Lebens.
„Auf Vadda!“, sagte ich. Er nahm auch einen Schluck und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.
„Und du, als sein Sohn, biste wie mein Neffe, richtig?“
„Mhm.“ Auf was wollte er bloß hinaus? Brauchte er etwa Kohle? Von mir?
„Dann kann ich dir jetzt was anvertrauen und du verrätst es auch keinem, ja?“
„Schieß los!“ Er hatte definitiv Dreck am Stecken.
„Also“, flüsterte er und schaute sich um, als könnten wir belauscht werden. „Ich hab' n Monster im Bauch.“
Die 22 Uhr-S-Bahn ratterte am Fernster vorbei. Ich spürte ihre Vibrationen und eine Tasse schepperte einsam im Schrank. Seit gefühlten drei Stunden lauschte ich den Ausführungen Manfreds. Ich dachte mir: 'Der arme Mann' und 'Wie krieg ich den bloß wieder vor die Tür?'
„Manfred“, unterbrach ich ihn schließlich, „was kommste damit eigentlich zu mir?“
„Ich hab ja keinen mehr“, murmelte er.
„Ganz ehrlich, Manfred, das wundert mich auch nicht, wenn du solche Geschichten erzählst. Das will doch keiner hören.“ Jemand musste ihm ja die Wahrheit sagen.
„Das isses nich.“
„Ach nee!“
Ich stand auf, um zwei neue Dosen aus dem Kühlschrank zu holen.
„Sie ist weg“, raunte er. „Berta. Unsere Ehe – ach, lass mich erst gar nicht anfangen. Das Geschnatter jeden Abend! Ich hätt sie umbringen können …“
Ich schmunzelte.
„… aber als sie dann so vor mir lag, ich meine, was von ihr übrig geblieben war …“
Langsam wurde es mir zu viel. Ich setzte mich wieder an den Tisch und musterte ihn.
Manfred saß da, wie ein Häufchen Elend. Ich musste an früher denken, als er Vadda seine Geschichtchen erzählt hat. War schon ein witziger Kerl gewesen. Was war nur aus ihm geworden?
„Ich fasse zusammen: Du willst mir also allen Ernstes weiß machen, dass ein Parasit in deine Bauchhöhle gezogen ist, der Thorsten heißt und dass er deine Frau verputzt hat?“
Manfred riss die Augen auf und schrie: „Aber ich hab das doch gar nicht gewollt!“ Dann wurde er wieder lethargisch. „Weiß ja nicht mal, wie viele er schon gefressen hat. Manchmal wach ich blutverschmiert auf und kann mich an nichts erinnern.“
Ich musste ihm einfach helfen. Vadda hätt ihm auch geholfen. Doch was tun, bei so nem Verrückten? Vielleicht war es am besten, erst mal mitzuspielen.
„Kannst du ihn nicht davon abhalten? Fütter ihn doch mit Hundefutter oder … mit nem Meerschweinchen oder so was.“
„Das Problem ist“, erklärte Manfred, „wenn er wach ist, dann penne ich. Und anders herum. Wie soll ich ihn dann füttern, oder es verhindern, dass er die Leute frisst?“
Ich nickte. „Und wie soll ich dir dann helfen?“
Manfred rülpste. „Du könntest mal mit ihm reden. Sag ihm, er soll damit aufhören. Wenn es mir nicht gut geht, geht' s auch ihm nicht gut. Das muss er wissen.“
„In Ordnung“, sagte ich ruhig. „Hol halt deinen Thorsten mal raus.“
Manfred linste aus dem Augenwinkel. „Haste auch keine Angst?“
Ich blickte ihn unbeeindruckt an. „Lass sehen!“
Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Ich hatte vermutet, Manfred zeigte mir seinen nackten Bierkessel, seinen Schniedel oder vielleicht eine mit Edding aufgemalte Monsterfratze. Nach dem er das karierte Hemd aufgeknöpft und seltsam stöhnend ausgeatmet hatte, war er schlagartig eingenickt und schnarchte nun seelenruhig auf dem Stuhl.
Ich blickte in die zwei roten Äuglein von Thorsten, der mich seinerseits mit einem süffisanten Lächeln einige Zeit musterte.
Fuck! Manfred hatte nicht gelogen.
„Na?“, fing Thorsten an.
„Gut.“
„Hättste nich gedacht, dass der Suffkopp die Wahrheit sagt.“
„Och“, versuchte ich meine Nervosität zu überspielen, „hat sich doch alles ganz schlüssig angehört.“
Thorsten sah aus wie ein kleiner Mann, der bis zur Taille in Manfreds Bauch steckte. Sein Kopf war teilweise mit dunklen Haarbüscheln bedeckt. Er war irgendwie niedlich anzusehen. Zumindest hätte ihm niemand zugetraut, Menschen zu fressen.
Grinsend schaute er umher.
„Tolle Küche!“
„Geht so“, stimmte ich ihm kopfnickend zu. „Ich koch ganz gerne. Ist so' n Hobby von mir.“
„Lebst du allein?“
„Ja, jetzt wieder ...“
„Gut!“ Seine Augen blitzten auf. „Also, ich bin Thorsten.“
„Jörg.“
"Also, Jörg, was machen wir jetzt mit dem angefangenen Abend?“
„Eigentlich wollte ich 'Herr der Ringe' gucken.“
„Herr der was?“ Er verzog sein Gesicht, wodurch er ganz schön abscheulich aussah.
„Ist wohl nicht dein Ding. Wie wär' s dann mit nem Bierchen?“, versuchte ich die Stimmung zu retten.
„Ich hab solchen Hunger!“, raunte er auf einmal. Seine Augen starrten mich an. Ich bemerkte, wie ihm Speichel das Kinn hinunter lief.
„Brauchst du ein Tempo?“, wollte ich helfen.
Thorsten bleckte die Zähne, kleine, scharfe Beißerchen. Er fing an zu knurren und bewegte dabei die Fingerchen, als seien sie Klauen. Langsam wurde es eklig.
„Soll ich dir was aufwärmen? Ich hab noch Abendessen übrig. Von mir aus koch ich dir auch was.“
Manfreds Körper erhob sich schwerfällig und stapfte in Zombiemanier auf mich zu. Gierig fauchte der kleine Parasit mich an:
„Ich brauch Menschenfleisch!“
Das war zu viel des Guten. Aus mir platze es schallend heraus. Thorsten starrte mich irritiert an und ich sagte:
„Na gut, mein Junge. Kannste haben.“
Manfreds Körper saß wieder auf dem Stuhl am Esstisch. Sein Thorsten verfolgte jede meiner Bewegungen, als ich die Tupperschüssel aus dem Kühlschrank holte.
„Willste was vom Bauch?“
„Okay“, sagte Thorsten und lächelte bemüht
Ich stellte den vollen Kochtopf auf den Herd und machte das Radio an.
„Ich wusste ja nicht, dass du auf Menschenfleisch stehst“, meldete er sich.
„Ist klar. Das war übrigens Karin, meine Ex. Ich vernasch halt gern Mädels, die wehren sich nicht so, riechen besser und vom Geschmack her …“
„Verstehe.“
Ich holte Zwiebeln, Petersilie und Kartoffeln aus dem Schrank. Jetzt wollte ich zeigen, was ich drauf habe. Thorsten schaute mir interessiert zu. In seinem Köpfchen schien es zu rattern.
„Wie bist du eigentlich auf so etwas gekommen?“, wollte er nach einer Weile wissen.
„Auf die Kocherei?“
„Nein, auf Menschen fressen und so.“
Fein säuberlich hackte ich die Zwiebeln klein.
„Ach, das ist schnell erzählt. Alles fing mit Vaddas Tod an. Mir hat er echt gefehlt, ich hatte ja keine Mutter, die ist damals gestorben, als ich fünf war. Krebs.“
„Armer!“
„War ne schlimme Zeit für mich, so mit siebzehn ganz alleine, erwachsen ist man ja da noch nicht.“ Ich putzte die Hände am Geschirrtuch ab. „Naja, dann kam Sabine in mein Leben. Hab sie geliebt, mich an sie geklammert. Ich wollte sie einfach nicht wieder verlieren.“
„Ah!“
„Irgendwann haben wir rumgemacht, ich knabbere an ihrem Ohrläppchen und dann isses halt passiert.“
„Wie du über alles so offen reden kannst“, fand Thorsten nach einer Weile.
„Das ist meine Masche, bei den Mädels. Ich mach auf die Mitleidstour.“
„Verstehe, so bist du also zum Kannibalen geworden.“
„Kannibale würd ich mich nicht nennen“, sagte ich.
Das Wasser sprudelte und ich rührte das Fleisch mit dem Kochlöffel um.
„Aber, wie dann?“, fragte er.
Ich leerte die Bierdose und knallte sie auf den Tisch. „Feinschmecker!“
Das Menü schmeckte ausgezeichnet. Wir saßen auf der Couch und ich erklärte Thorsten die Zusammenhänge von Mittelerde. Er war wirklich interessiert, fast ein angenehmer Zeitgenosse.
„Mensch, das müssen wir öfters machen“, lallte er. „Zusammen Bier trinken, Filme gucken, Menschen fressen ...“
„Mhm.“
Wir schwiegen eine Weile, dann blickte Thorsten mich ernst an. „Endlich hab ich jemanden getroffen, der nicht nur blöd rumschreit, wenn er mich sieht. An so nen Kumpel könnt ich mich gewöhnen.“
Ich lächelte.
„Sag mal, Thorsten“, fing ich an, „weißt du eigentlich, dass du Manfred mit deinem Morden ganz schön fertig machst? Ich meine, nicht nur, dass ihn das ziemlich mitnimmt, den Tod seiner Frau und so. Er wird auch früher oder später im Knast landen, wenn das so weitergeht. Und das bedeutet, du mit ihm.“
Thorsten grinste und drehte langsam den Kopf zu mir. Scheiße, für eine Gänsehaut war der immer gut! Er zuckte mit seinen winzigen Schultern. Schließlich raunte er:
„Du hast recht, Kumpel. Manfred ist nicht der Hellste, was die Jagd angeht. Aber du scheinst mehr auf dem Kasten zu haben.“ Er puhlte etwas aus den Zähnen hervor und schnipste es weg. „Also, wie wär‘ s, wenn ich in Zukunft bei dir esse. Ich brauch nicht unbedingt den Thrill und die Sauerei, Hauptsache mein Magen wird voll.“ Er rieb sich den verkümmerten Ansatz. Ich dachte nach.
„Okay, aber nur einmal pro Woche.“
Wieder schmunzelte er und nickte langsam dazu.
Das gute Essen hatte ihn müde gemacht. Irgendwann war er eingenickt und zog sich schneckengleich in die Bauchhöhle zurück. Kurze Zeit später erwachte auch Manfred.
„Guten Morgen!“, grüßte ich ihn.
„Ah, du lebst noch! Hab doch gewusst, dass du was drauf hast!“, sagte er erfreut und klopfte mir auf die Schulter. Er knöpfte schnell das Hemd zu und fragte:
„Und, hast du mit ihm geredet?“
„Jop!“
„Und? Hört er auf, damit?“
„Wenn er einmal die Woche zum Essen kommen kann, wird er es sein lassen.“
„Ich wusste ja gar nicht, dass du so gut kochen kannst.“
„Willste mal probieren?“
„Jetzt nicht, mein Magen ist randvoll.“ Er atmete erleichtert durch. „Wusste, dass ich auf dich zählen kann!“
Ich wischte den Teller mit Brot aus und sagte: „200 Flocken pro Dinner.“
…
Wir standen auf der Brücke im Park und schauten den Enten nach. Die Abendsonne tauchte alles in dieses besondere Licht. Annita fröstelte und ich legte meinen Arm um sie.
„Komm, lass uns zu mir gehen, es wird langsam kalt“, sagte ich.
„Ich weiß nicht, ein andermal.“
Schnell nahm ich ihre Hände und stellte mich demonstrativ vor sie. „Weißt du was, ich hab ne Idee: Ich werde heut noch was Leckeres kochen. Ich hab dir doch erzählt, wie gut ich das kann. Ein besonderes Dinner für einen besonderen Menschen.“
Sie lächelte verlegen und schaute zu Boden. „Hab aber gar nicht richtig Hunger.“
„Du wirst sehen, der Appetit kommt von alleine.“
„Mhm, was willst du denn kochen?“
„Weiß noch nicht“, ich blickte an ihr herunter. „Wie wär’ s mit Lende?“
Sie zog das Näschen hoch. „Och nee - Aber vielleicht ein Salat?“, fragte sie mit erhobenen Brauen.
„Was immer du möchtest“, sicherte ich ihr mit einem breiten Grinsen zu.
Hand in Hand machten wir uns auf den Nachhauseweg. Annita entging nicht, dass ich dabei die Umgebung absuchte. Hatte sich dort im Gebüsch nicht ein Schatten bewegt?
„Warum blickst du dich immer um“, wollte sie wissen, „bist du vor jemanden auf der Flucht?“
„Ach, iwo! Alles in Ordnung.“
In meiner Bude angekommen, warf ich die Jacke in die Ecke, steuerte die Küche an und inspizierte den Kühlschrank. Annita setzte sich an den Tisch.
„Wie wär‘ s mit Baguette und nem Krautsalat?“, fragte ich. „Ist nichts Besonderes …“
„Oh, das wird peinlich“, fiel sie mir ins Wort. "Nach dem Zeug muss ich immer so pupsen.“
„Kein Problem, dann machen wir beide ein kleines Konzert, heute Abend.“
Sie kicherte und holte Zigaretten aus der Handtasche.
Zehn Minuten später stocherte ich in dem Salat herum. Annita leerte ihr Glas Cola und musterte mich. Sie unterdrückte einen Rülpser und fragte:
„Was‘ n los? Hat‘ s dir die Sprache verschlagen?“
„Wie, was? Ach nee, ich hab nur nachgedacht.“
„Über uns?“
Ich legte die Gabel hin und fuhr mir übers Gesicht. „Du bist halt das erste Mädchen, das ich seit Karin nach Hause mitgenommen hab.“
„Oh Mann - Karin. Seit wann haste mit der Schluss gemacht?“
„Ist über ein Jahr her.“
„Ich hab sie noch nie richtig leiden können. Die kannte ich von der Arbeit. War ne echte Zicke, bist du etwa noch nicht drüber weg?“
„Doch, es ist mir nur grad aufgefallen.“ Nicht nur, dass Karin eine Lücke hinterlassen hatte. Auch die Tatsache, dass ich einen Schweinebauch in einem Anflug von Selbsterhaltung fälschlicherweise als ihre Überreste bezeichnet hatte, um es einen menschfressenden Parasiten als Candel-light-dinner zu verkaufen, machte mir noch immer schwer zu schaffen.
Ich nahm ihre Hand. „Ich bin echt froh, dass du heut mitgekommen bist. Ist nicht leicht in letzter Zeit.“
„Wegen was, wegen der Einsamkeit?“
„Nein, ich hab da so ne Sache laufen und die ist mir total über den Kopf gewachsen.“ Jetzt brach es aus mir heraus, mir kamen fast die Tränen. „Es ist alles so, so abartig.“
Sie streichelte meine Hand, schaute mir tief in die Augen. „Erzähl doch endlich!“
„Vor nem Jahr klingelte es an der Tür. Es war Manfred, so ein alter Kollege von Vadda. Er war echt fertig und ich, ich hab das voll ausgenutzt. Ich steck nämlich bis über den Hals in Schulden. Hab ihn abgezockt. Anfang lief‘ s ganz gut. Aber dann wurde es immer abgefahrener.“
„Ich verstehe nicht. Sprich doch endlich Klartext!“
„Also gut, er kam jede Woche und ich hab ihm für viel Geld was gekocht und er hat geglaubt, dass es Menschenfleisch wäre.“
„Hä?“ Sie riss die Augen auf. „Du hast für einen Kannibalen gekocht?“
„Nee, ich hab ihm weißgemacht, dass ich einer wär. Und eigentlich auch nicht ihm. Sondern, ach … er hat da so‘ n Monster im Bauch, so einen kleinen, ekligen Parasit namens Thorsten. Und der, der frisst Menschen.“
Annita ließ meine Hand los und sah mich enttäuscht an.
Dann sagte ich: „Ich weiß, dass sich das verrückt anhört, aber …“
„Nein“, fiel sie mir ins Wort. „Ist schon in Ordnung.“ Sie steckte Zigaretten und Handy in die Tasche und fügte verbittert hinzu: „Und ich hab schon geglaubt, es wäre was Ernstes.“
Da schellte es an der Haustür.
„Jetzt warte doch“, bat ich Annita, als ich zur Fernsprechanlage ging. Irgendwie war ich sogar froh, dass ich so dieser komplizierten Szene entkommen konnte.
„Hallo?“
„Ja, ich bin‘ s, Manfred.“
„Oh, das pass mir jetzt aber gar nicht!“
„Mein Bauch sagt mir, du hast grad was am Laufen. Komm, mach auf, ich hab so’ n Druck.“
„Manfred, jetzt nicht, hab ich gesagt.“
„Gut, dann geh ich jetzt zu den Bullen und stell mich, scheiß drauf, ich halt das nicht aus. Er übernimmt immer mehr die Kontrolle!“
„Moment, wart doch mal!“ In meinem Kopf ging alles durcheinander. Manfred hatte mir erzählt, dass es mit Thorsten in letzter Zeit immer unberechenbarer wurde. Aber die Bullen waren keine Option. Schließlich wollte ich doch nicht wegen Mitwissens einfahren. Was sollte ich also tun?
„Komm halt hoch.“
Da es keinen Aufzug gab, dauerte es immerhin eine Minute, bis man durchs Treppenhaus in den vierten Stock kam. Zeit, die für Annita lebenswichtig sein konnte.
„Also, tschüß dann“, sagte sie.
„Halt warte, du kannst jetzt nicht da runter“, flüsterte ich und stellte mich ihr in den Weg.
„Wieso nicht? Lass mich gehen!“
„Hörst du die Schritte? Das ist Manfred und der tickt nicht mehr richtig in letzter Zeit. Er fällt wieder Leute an. Kann sein, dass er sich auch auf dich stürzt!“
„Der Kannibale?“
„Ja, der menschenfressende Drecksack!“ Es war besser, den Parasiten erst mal auszuklammern.
Annita lauschte den stöhnenden Mann sich die Treppe raufschleppen. Ihre Augen spiegelten Angst wieder. Vielleicht ahnte sie jetzt, dass ich die Wahrheit sagte.
„Was soll ich tun?“, flüsterte sie.
„Komm rein!“ Ich schloss die Tür. „Geh ins Schlafzimmer!“
„Was?“
„Tu einfach was ich sage, ich hab so was wie nen Plan.“
Annita setzte sich auf‘ s Bett.
„Wir werden so tun, als ob ich dich getötet hab. Dann werde ich ihn auf morgen hinhalten und er lässt dich in Ruhe.“
Sie zog die Brauen hoch. „Vergiss es!“
„Glaub mir, es wird klappen.“
Jetzt klopfte es an der Tür. Annita erschrak, hüpfte vollständig ins Bett und zog die Decke über den Kopf.
„Gut, warum nicht gleich so?“, sagte ich ruhig. „Und keinen Mucks! Vergiss nicht: du bist tot.“
Dann atmete ich durch, ging zur Tür und öffnete sie.
Draußen stand – Thorsten. Manfreds Kopf schlummerte mit heraushängender Zunge auf den Schultern.
„Hallo, Jörg, war gerade in der Gegend und hab dich mit so ´ner Schnitte gesehen.“
„Bist du verrückt geworden, dich so in der Öffentlichkeit zu zeigen? Schnell komm rein!“ Ich blickte mich kurz im Treppenhaus um und folgte ihm in die Küche.
„Wo isse denn?“, fragte Thorsten erwartungsvoll.
„Hab sie grade im Schlafzimmer kalt gemacht. War ein ganz schönes Biest.“
„Na dann, ich hab echt Kohldampf!“ Er stapfte Richtung Schlafzimmer.
Natürlich stellte ich mich ihm in den Weg.
„Was, jetzt?“, fragte er empört. „Lass mich doch reinbeißen!“
Langsam schüttelte ich den Kopf. „Thorsten, Thorsten! Ich habe gedacht wir wären schon weiter. Gutes will gut zubereitet werden, oder nicht?“
Er rümpfte genervt das Näschen. „Zeig sie mir wenigstens!“
„Also gut.“ Ich ging mit ihm zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Er linste hinein und schnupperte.
„Morgen zur gewohnten Zeit“, fuhr ich fort, „werde ich diesen geschmacklosen Körper in einen Gaumenschmaus verwandeln, den du so schnell nicht vergessen wirst.“
„In Ordnung, Vorfreude ist die schönste Freude.“
„Aber denk an die Kohle!“
In diesem Moment geschah es: Ein zierlicher aber unleugbarer Frauenpups war zu hören.
„Was war das?“, fragte Thorsten misstrauisch.
Mir fiel einfach nichts ein. Ich wollte die Tür schließen, doch ein Bodycheck von Manfreds Körper, warf mich einfach um. Thorsten ging zum Bett und riss die Decke weg. Annita begann wie am Spieß zu schreien.
„Die ist ja noch gar nicht tot“, schrie er, „komm her, ich beiß‘ dir die Kehle durch!“
Er stieg aufs Bett. Einen Moment war ich wie gelähmt. Dann sprang ich hinterher und zog ihn an den Schultern. Er fiel rücklings auf mich. Mitten auf den Magen. Ich stöhnte. Dann hörte ich Thorsten, wie einen giftigen Köter kläffen und schnappen. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch die Hand. Ich hielt sie vor mein Gesicht und musste feststellen, dass Mittel- und Ringfinger fehlten. Es sah gleichzeitig bescheuert und fürchterlich aus. Ich musste wegen des Schocks kurz lächeln, dann wurde mir schwindlig.
„Du Arsch, meine Finger!“, lallte ich.
Jetzt ging alles wie von selbst. Ich kämpfte mich unter ihm hervor und kroch rückwärts zur Tür heraus.
Irgendwie musste ich Thorsten von Annita weglocken. Also stand ich auf, ging zur Kommode und warf das Telefon an Manfreds Schädel. Es zerbrach.
Thorsten hatte einige Mühe, den schweren und schlaffen Körper unter Kontrolle zu bringen, doch jetzt war er wieder auf den Beinen. Ich war mittlerweile durch den Gang zur Küche gelangt und sah, wie er sich die Lippen leckte und mich mit irren Blick fixierte. Er begann, auf mich loszustapfen, wobei Manfreds Arme schlaff hin- und her schaukelten. Hätte nicht gedacht, dass er so flink sein konnte. Ich war in Kampfstellung und machte mich bereit. Jetzt kam er herein und ich verpasste ihm einen ordentlichen Tritt in die Eier.
Er blieb stehen und Manfred stöhnte leise im Schlaf.
„Nichts gespürt!“ murmelte Thorsten mit süffisantem Lächeln.
Ich tappte ein paar Schritte rückwärts, bis ich an die Arbeitsplatte stieß. Panisch suchte ich hinter meinem Rücken nach irgendeiner Waffe, während Thorsten langsam näher kam. Er sah verändert aus, hatte fast eine lila Farbe angenommen und schien wie von Sinnen.
Endlich fühlte meine Hand etwas metallisches, ich zog es vor und betrachtete es: die Reibe, mit der ich zuvor Zwiebeln geraspelt hatte. Thorsten machte einen Satz, ich holte aus, schaffte es sein Gesicht zu erwischen und rieb schnell rauf und runter. Er kreischte schrill. Es hatte Teile seiner Kopfhaut und die Wange erwischt.
„Was soll der Scheiß?“, rief er die Wunden haltend. Die Zwiebeln schienen zu brennen. Zeit genug sich umzusehen. Da, der Pürierstab lag beim Fenster. Ich hatte mit ihm Frischkäse und Paprika zu einem Dipp für die Baguettes zubereitet.
Er erkannte, was ich vorhatte, stürzte sich auf mich, sodass ich ihn mit der verstümmelten Hand von mir wegdrücken musste. Mit der Linken wollte ich den Stab erreichen, es fehlten nur noch wenige Zentimeter und, endlich, hatte ich ihn in der Hand. Ich drückte den Knopf, Thorsten knurrte und meine Hand schnellte zu seinem Gesicht. Dummerweise war das Kabel zu kurz, der Stecker flutschte aus der Dose und das Messer hörte kurz vor seinem Auge auf, sich zu drehen.
Wir guckten etwas belämmert aus der Wäsche, dann schlug ich den Stab eben so in sein Gesicht, was aber keine große Wirkung zeigte.
Er schüttelte sich, begann über beide Bäckchen zu grinsen und raunte: „So, Bürschchen, jetzt mach dich bereit, deinem Vadda zu begegnen“. Dann riss er sein Maul auf, bereit mir den Todesbiss zu verpassen.
„Da“, rief ich, „guck mal lieber, was von hinten kommt!“
„Ach komm schon …“
Weiter kam er nicht, denn Annita erwischte ihn mit ihrer Handtasche, was ihn augenblicklich ausknockte - keine Ahnung, was die da drin hatte.
Als Manfreds Körper nach hinten umfiel, nutzte ich meine Chance, sprang auf ihn drauf und versenkte eine Gabel in Thorstens Hals. Annita kam auch und hieb mit dem Fleischermesser zu. Das Blut spritze mir ins Gesicht, sodass ich vor lauter Ekel aufstand und in die Spüle kotzte. Annita schrie wie am Spieß und stach noch drei, vier Mal auf Thorsten ein. Ich konnte gar nicht hinsehen. Endlich ließ sie total zitternd das Messer fallen. Er röchelte noch eine Weile, seine kleinen Lungen füllten sich mit Blut und aus war‘ s mit ihm. Annita kroch in eine Ecke und begann zu flennen, aber ich ging nicht zu ihr, hatte ja mit mir selbst zu tun.
Manfred erwachte nach einer Weile. Er blickte an sich runter und sah den toten Parasit. Er stupste ihn an und als der sich nicht rührte, begann er zu lächeln.
„Danke, mein Junge!“
Ich nickte, mit meiner Kraft am Ende.
Dann hielt er sich zwischen den Beinen. „Aber was brennen meine Eier so?“
…
Einige Wochen später klingelte es wieder an meiner Tür. Ich öffnete einen Spalt, war ja aufgrund schlechter Erfahrung vorsichtiger geworden. Draußen stand Manfred. Er war deutlich schlanker und sah gar nicht so schlecht aus.
„Was willst du hier?“, zischte ich.
„Ach, Junge, ich hab mich noch gar nicht richtig bedankt bei dir.“
„Wer ist es denn, Schatz?“, rief Annita aus der Küche. Ich blickte nach hinten und antwortete:
„Niemand, Pupsi!“
Dann sagte ich leise zu Manfred: „Alter, ich freu mich ja, dass es dir gut geht, aber es ist besser, wenn du wieder verschwindest!“
„Ja, in Ordnung, Junge. Verstehe, dass du nach dem ganzen Scheiß deine Ruhe willst. Aber ich hab da was für dich.“
Er kramte aus seiner Hosentasche Vaddas Ring hervor und hielt ihn mir unter die Nase. „Da, den hab ich ausgekackt. Hab ihn natürlich abgewaschen.“
Ich nahm ihn entgegen, drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. War er nicht wunderschön, so gleichmäßig und golden?
"Mein Schatz!“, hörte ich Annita wie von weitem.
"Ja, ich komm ja gleich, Mann!" Dann fragte ich ihn: "Was ist eigentlich aus Thorstens Leiche geworden?"
"Er ist nach ein paar Tagen abgefallen, wie so ne vertrocknete Nabelschnur", antwortete Manfred. In seiner Stimme klang ein kleiner, wehmütiger Unterton mit.
Ich nickte, betrachtete mir diesen einsamen Mann. Wieder musste ich an Vadda denken. Schließlich fragte ich: "Was machste eigentlich morgen? Haste nicht Lust auf ein feines Abendessen?