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Feierabend
Endlich war es soweit! Fritz Seiler packte den orangefarbenen Brotbehälter und die leere Flasche Wasser in seinen alten braunen Aktenkoffer ein, schloss die Tür seines Büros ab und schlenderte zum Ausgang, wo er seine Stempelkarte in die dafür vorgesehene Zeitstempelmaschine steckte. Mit einem Gefühl der Erleichterung schritt er hinaus und atmete auf, das war nämlich ein scheußlicher Tag für ihn gewesen, sein Chef hatte sich wieder mal über seine laxe Arbeitsmoral beklagt und ihm klar gemacht, dass er mehr Einsatz zeigen müsse. Als ob dies nicht genug gewesen wäre, hatte sich eine der Sekretärinnen über sein Alter lustig gemacht, als er ihr einen pikanten Witz erzählte, dabei wollte er ihr nur mitteilen, dass er sie attraktiv fand. Dieses junge Ding, sie war siebenundzwanzig, hatte ihm schon einige schlaflose Nächte bereitet. Immer wenn er sie sah, musste er unentwegt auf ihren Busen starren. Als er dann Richtung U-Bahn Station lief, dachte er daran, wie gern er doch wieder jung wäre... er blickte zurück und vor seinem geistigen Auge ließ er seine Abenteuer Revue passieren. Leider war er mit seinen Zweiundsechzig von den Frauen schon längst abgeschrieben, zumal er sehr dick war und ein von regelmäßigem Alkoholkonsum aufgedunsenes Gesicht hatte. Seine hellblauen Augen, die früher schon manche Frau hatten dahin schmelzen lassen, hatten mit der Zeit eine glasige Färbung bekommen und schienen zwischen den aufgeblasenen Tränensäcken und den herunter hängenden Augenlider wie eingequetscht. Er tröstete sich damit, dass er noch einen prächtigen Haarschopf hatte, allerdings war die Frisur furchtbar, seine Frau meinte es nämlich immer gut mit ihm und jeden letzten Samstag im Monat, schnitt sie ihm die Haare. Bei dem Gedanken, dass sie ihm jedes Mal die Haare verhunzte, holte er den Flachmann aus der Brusttasche seines Jacketts, trank einen Schluck Cognac und steckte sich sofort ein Pfefferminzbonbon in den Mund. Er lief schweren Ganges die Treppe zum Bahnsteig hinauf und seine müde, wippende Aktentasche kam ihm so schwer vor wie ein voller Zementsack, dabei war sie fast leer. Auf dem Bahnsteig ließ er sich auf einer Bank nieder und beobachtete, die an ihm vorbei laufenden Frauen. Wie gern wäre er mit irgend einer von ihnen ins Gespräch gekommen, aber er wusste, dass daraus nichts werden würde. Zu Hause wartete seine Frau auf ihn, sie war Krankenschwester. Er fragte sich plötzlich wieso er eigentlich eine Krankenschwester geheiratet hatte... darauf fand er keine Antwort. Dann dachte er, dass sie doch eine nette Frau war, sie kümmerte sich immer so rührend um ihn, und tagein tagaus überraschte sie ihn mit seinen Lieblingsgerichten, sei es Schweinebraten, Bratkartoffeln und Fleischkäse oder Bratwürste und Pommes, insgesamt war sie eine wunderbare Frau. Doch irgendwann hatte er sie satt, genauso wie ihr Essen. Er fragte sich, ob er - hätte das Schicksal ihn mit einer anderen Frau bekannt gemacht -, eventuell dünn und sportlich geblieben wäre. Ein Blick auf die Tafel auf dem Bahnsteig verriet ihm, dass seine S-Bahn bald eintreffen würde. Er stand auf. Nach etwa sechzig Sekunden hielt die Bahn, er stieg ein und ergatterte einen Platz am Fenster, in Fahrtrichtung. Erst nach ein paar Haltestellen bemerkte er, dass ihm gegenüber eine wunderschöne Frau um die Vierzig saß, die ihn vertraut anlächelte. Fritz Seiler dachte zunächst, sie meine jemand anderen und drehte sich kurz um, aber hinter ihm entdeckte er keinen Mann, dem dieses Lächeln hätte gelten können. Als er erneut in ihre Richtung schaute, waren ihre hell leuchtenden blauen Augen immer noch auf ihn gerichtet und ihr Blick bohrte sich in den seinen. Fritz Seiler fühlte sich unwohl und sagte: „Entschuldigen Sie bitte, kennen wir uns?“ Die schöne Frau mit den langen blonden Haaren und den engelhaften Augen sagte mit samtweicher Stimme: „Sie sind ein sehr attraktiver Mann und ich bin eine einsame Frau, was halten Sie davon, wenn wir zu mir gehen?“ Fritz Seiler wirkte geschockt, die schöne Unbekannte – das war seine erste Befürchtung – musste wohl Drogen genommen haben.
„Ich kenne Sie doch gar nicht!“ antwortete er verlegen.„Das ist doch wunderbar! Sie haben jetzt Feierabend und wir haben die Möglichkeit uns kennen zu lernen!“ Sie spreizte ein wenig ihre Beine und Fritz Seiler bemerkte, dass nur ein Fetzen Stoff ihre intimste Stelle bedeckte. Er fing an zu schwitzen, sein Gesicht flammte auf. Sie lachte, beugte sich vor, nahm seine dicke, klobige Hand und sagte sanft: „Du bist ein wunderschöner Mann!“ Fritz Seiler hatte nicht die Kraft etwas zu sagen, zu schön waren die Worte, die aus ihrem Mund heraus sprudelten und wie ein Schwall heiterer Musiknoten seine Ohren erreichten. Ihre Worte - sie redete weiter -, hatten die Kraft eines unbändigen Stroms, der ihn erbarmungslos mitriss. Sie sagte, er sei der Mann ihres Lebens, seine Fettleibigkeit interessiere sie nicht, und dass er Alkohol trinke, mache ihr nichts aus, sie sehe seine Verletzlichkeit, sie verstehe, dass er so dick geworden sei, weil er in einer unglücklichen Beziehung lebe, aber nun sei es an der Zeit sein Leben zu ändern, denn sie spüre, dass er sie auch liebe. Ihre Worte berauschten und verzauberten ihn zugleich! Nur zu gerne hätte er ihr sagen wollen, wie sehr er sie liebe, und dass er seine Frau verlassen wolle, um für immer mit ihr zusammen zu sein. Die Emotionen waren aber so überwältigend, dass er kein Wort aus sich heraus brachte. Die wunderschöne Frau verstand ihn, beugte sich vor und fing an, sein Gesicht sanft an zu streicheln. Plötzlich machte die Schnellbahn eine Vollbremsung und Fritz Seiler knallte auf den Boden. Als er aufstand sah er wie die Sitznachbarin sagte: „Und?- Ist was passiert?“ Er fühlte sich von der Frau belästigt und erwiderte barsch: „Nichts ist passiert - keine Sorge!“ Die Frau, eine ältere Dame mit rotem Hut und weißem Pudel, schaute verdutzt und sagte: „Wie – nichts passiert?“
„Sie sehen doch, mir geht es gut!“ entgegnete er diesmal böse.
„Nein - ich meine - haben Sie sie zumindest geküsst?“
„Wie? - Wen, geküsst?“
„Na ja, Sie haben die ganze Zeit geträumt und das war spannend! Sie haben mit dieser Frau gesprochen, Sie haben sie geliebt, nicht wahr?“ Fritz Seiler schaute betreten und sagte: „Von welcher Frau sprechen Sie?“ Die alte Dame sagte heiter: „Von der Frau im Traum. Sie haben im Traum mit ihr geredet und wir haben alle gehofft, dass Sie ihr Ihre Liebe gestehen. Ganz ehrlich, haben Sie sie geliebt?“ Fritz Seiler verstand plötzlich, dass die Femme Fatale nur in seinem Traum existiert hatte. Er antwortete der alten Dame nicht, im Gegenteil, er schaute finster, nahm seine braune Aktentasche und an der nächsten S-Bahn Station stieg er aus, wechselte den Wagon und fuhr brav nach Hause. Dort wartete seine Frau auf ihn, mit einem Teller warmer Salzkartoffeln, Rippchen und Sauerkraut.