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Fehltritt in die Wirklichkeit

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29.01.2010
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Fehltritt in die Wirklichkeit

Zielstrebig schritt Konstantin H. auf dem Wanderweg aus. Gehen verband er stets mit intensivem Nachdenken. Zu beiden Seiten des Tals erhoben sich die Bergrücken der Voralpen, in diesem Gebiet hatte er schon viele Wege begangen.

Sein Leben verlief in klar geordneten Bahnen, strukturiert durch den Beruf als Lehrer, den er seit drei Jahren ausübte. Die Lehrstoffvermittlung war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn Konstantin nicht unterrichtete, trieb er Sport und las viel, nebst Fachbüchern und solchen zu aktuellem Zeitgeschehen, ausgewählte Literatur sowie auch philosophische Werke.

Das Waldgebiet zog sich über die Hälfte des Berghanges hinauf. In der Natur registrierte er nicht nur das Wachsen und Blühen, sondern ebenso das Welken und Sterben. Manchmal drehte er verfaulendes Laub oder Gehölz um, wie sich überzeugend, dass andere Lebewesen sich darunter gütlich taten, dem Ende eines Kreislaufes von Lebensformen so abschliessenden Sinn verleihend.

Öfters kreisten seine Gedanken um die Eltern. Sein Vater war an einer Leberzirrhose gestorben, übermässiger Alkoholgenuss liess das Organ erst wie ein Schwamm anwachsen, um dann zu schrumpfen. Seine Mutter nahm den doch überraschenden Tod ihres Mannes nicht leicht, ein Transplantat war nicht rechtzeitig verfügbar. Nur ein Jahr später erlag seine Mutter dann einem Verkehrsunfall. Sie war unvermittelt auf die Strasse getreten, direkt vor einen herannahenden Lastwagen, ein Suizid wurde nicht ausgeschlossen.

Über dem gelichteten Wald breitete sich der blaue Himmel aus. Ein Witterungsumschwung, der im Berggebiet schnell unangenehme Überraschungen bringen kann, war nicht angesagt.

Sein Weltbild, das er sich nach dem Tod der Eltern konstruierte, entsprach einer untergründigen Skepsis. An das Leben stellte er keine ausgeprägten Erwartungen, es war ihm ein Zeitrahmen, den es bestmöglich zu füllen galt. Den Tod deutete er pragmatisch als einen endgültigen Rückzug aus dem Dasein, dies unterlegte er mit seiner Kenntnis über die Naturwissenschaften. Dass eine latente Todessehnsucht durch die einseitige Beschäftigung mit dieser Materie ihn vereinnahmte, war ihm nicht bewusst. In den letzten zwei Jahren las er bevorzugt Werke von Kurt Tucholsky, Paul Celan, Arthur Koestler, Robert Neumann, Sandra Paretti sowie Jean Amery. Eine Spurensuche in den Werken von Menschen, die später Hand an sich legten. In stiller Zwiesprache mit seiner Mutter begann er seine Zweifel, Fragen und Überlegungen auszutauschen. Biografen stellten in neuerer Zeit infrage, ob Tucholsky Tod nicht ein Unfall war. Wäre dem so, warum kommt diese Erkenntnis erst jetzt? Ist es denn entscheidend, genügt es nicht einfach zu akzeptieren, dass er tot ist? Paretti bekundete in ihrer selbst verfassten Todesanzeige in der NZZ ihre Einstellung zur Sterbehilfe und Amery schrieb vorab ein Buch zum Suizid. Ihre Bücher waren sehr verschieden, doch ihre Leben in der letzten Entscheidung identisch. Ist dies denn nicht ein genügender Hinweis, dass des Lebens Finale naturgemäss auch beim Menschen liegt? Wie ist es mit jenen Alten, deren Herz einfach aufhört zu schlagen, wenn sie des Lebens Last nicht mehr tragen wollen. Sie geben es ab, zurück bleiben die, welche sich vor dem Tod fürchten. Ich werde keinen Widerstand leisten, wenn der Tod einmal an meiner Daseinstür klopft.

Es standen nur noch vereinzelt Bäume, die Grasbüschel gingen zunehmend in Wiesen über, durch die ein Trampelpfad führte. Wanderer kamen ihm entgegen, manche von ihnen wohl solche, die die Seilbahn benutzten, deren Bergstation unterhalb des höchsten Punktes lag. Ältere Leute bevorzugten diese Möglichkeit, wenn ihnen der Auf- oder Abstieg zu strapaziös war.

Auf dem Grat führte der Weg abwechselnd leicht auf und ab, dafür die beidseitig zunehmend kargen Wiesen stark abfallend, um weiter unten in eigentliche Steilwände überzugehen. Knapp vierhundert Meter von der Bergstation entfernt, wich er entgegenkommenden Wanderern nach rechts aus. Da er mit einem Fuss auf einen losen Stein trat, verlor er das Gleichgewicht und stürzte hangabwärts, mit Händen und Füssen Halt suchend. Eine Bodenunebenheit gab einem Fuss endlich Widerstand, sodass er das Abrutschen abbremsen und seine Hände in Erde mit Grasbüschel krallen konnte.

Nach einem Moment der Benommenheit hörte er vom Weg oben Rufe. Er sah auf und versuchte sich aufwärtszuschieben, aufkommende Schmerzen von Prellungen ignorierend, doch sogleich rutschte er ein Stück weiter ab. Mit einem seitlichen Blick konnte er das Ende des Abhangs ahnen, das etwa zwei Meter unter ihm in eine Steilwand überging. Der Griff seiner Finger war nun noch fester. Da er mit der Gegend vertraut war, wusste er, dass die Steilwand hier weit über hundert Meter abfiel.

Obwohl die Luft in dieser Höhe von angenehmer Frische war, rann ihm Schweiss über sein Gesicht, ohne Möglichkeit ihn wegzuwischen. Seine Finger verkrampften, doch wagte er nicht, sie zu entspannen. Auch seine Füsse presste er fest in die kleinen Unebenheiten am Boden, welche sie leicht abstützten. Wenn nicht rechtzeitig Hilfe käme, wird er gnadenlos abstürzen. Der Rektor müsste am Montag seinen Schülern mitteilen, ihr Lehrer Herr H. sei am Wochenende bei einer Wanderung zu Tode gestürzt.

Mit der Atmung bemühte er sich seine körperlichen Kräfte kontrollierend zu regulieren, wie er es vom Sport her kannte, die Gedanken einzig darauf fokussiert. Zunehmend verselbstständigte sich sein Denken jedoch, vergegenwärtigte ihm seine Mutter, die Vorstellung, wie sie vom Lastwagen erfasst wurde und der heftige Aufprall. Er würde ein ähnliches Schicksal erleiden, sobald er sich nicht mehr halten konnte, abrutschen und nach langem Fall hart aufschlagen, die Haut zerplatzend, die Knochen brechend, eine blutige Masse auf Felsgestein. Panische Angst breitete sich in ihm aus. Er versuchte dieser Emotion Herr zu werden, indem er zu sich selbst sagte: Ich habe keine Angst vor dem Tod. Doch die keimende Todesfurcht schien seine Worte zu verhöhnen und intensivierte sich noch. Ihn, der dem Tod in verschiedenen Schicksalen nachgegangen war. Er, der darüber gelesen hatte, wie Schriftsteller ihre Welt deuteten, ehe sie Hand an sich legten. Die Abstraktion des Todes war ihm in den letzten Jahren immer gegenwärtig und die Kausalität klar gewesen. Doch war es stets in distanzierter Form als Denkbares, ja annähernd sogar Ästhetisches. Nichts Makabres, das sich damit verband. Es war die Erhabenheit, die er darin erblickte, die unendliche Ruhe, welche dieser Zustand zu vermitteln schien. Ein sanftes Einschlafen hatte er sich dabei vorgestellt, ein traumlos auslöschendes Sein. Der Fall in den Abgrund wäre ein krasser Gegensatz, ein Höllenschlund, der sich öffnet. Er war nie religiös und konnte sich dies auch jetzt nicht vorstellen. Solch magischem Denken hatte er sich entzogen, der Realität verpflichtet, die nicht Wahrheiten verkündete, sondern die Wirklichkeit aufzeigte. Er hatte die Natur beobachtet, ihr das Verständnis abgewonnen, den der natürliche Kreislauf des Lebens bedingt.

Der Kreislauf des Lebens. Sein Denken klammerte sich an diesen Satz, als ob er ihm Rettung bringen könnte. Er wollte den Tod verstehen, hatte aber das Leben in all seiner Vielfältigkeit noch nicht begriffen, wie er nun erkannte. Der natürliche Kreislauf des Lebens beinhaltete die verschiedenen Stadien von Wachsen, Blühen und Verwelken. Er war aber nicht verwelkt, er hatte die Blüte seines Lebens bis anhin ja noch nicht mal richtig erschlossen. Wie sollte er loslassen, wie sich von etwas trennen, wenn er noch kaum Bindungen eingegangen war. Er war damit beschäftigt gewesen, den Gedanken an den Tod den ihm seine Eltern aufwarfen, zu akzeptieren, aber sein Leben deshalb zu negieren, das wollte er doch eigentlich nicht. Seine Lippen formten einen Wehlaut, doch seine Stimme blieb stumm.

Ich schwöre, wenn ich diese Situation überleben sollte, werde ich mich mit dem Leben beschäftigen, es sinnvoll füllen. Ich werde mich um Reife bemühen und ein Leben führen, an dessen Ende ich sagen kann, es hat sich vollendet und erfüllt. Er ahnte nun, dass nur wer das Leben in all seinen Facetten kennt und liebt, auch die Fähigkeit erlangen kann, die Natürlichkeit des Todes wirklich zu begreifen und zu akzeptieren.

Doch da war wieder die Angst, die seine Gedanken an den Abgrund des Erträglichen führte. Der Krampf zerrte an seinem Körper. Er wusste, dass im Tränenfluss seine Kraft nun zu Ende ging, die gewonnene Erkenntnis ihm wahrscheinlich nichts mehr nutzte.

Etliche Meter neben Konstantin H., damit der Luftzug der Rotorenblätter nicht zu viel Turbulenzen verursacht, positionierte sich ein Helikopter der Rettungsflugwacht. Ein Bergführer seilte sich dicht am Abgrund ab.

 
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Jetzt hab ich doch wahrhaftig meine Arbeitsweise verraten: Text hier reinkopiert & abgearbeitet.

'tschuldigung für die Verdoppelung,

Friedel

 

>Zielstrebig schritt Konstantin H. auf dem Wanderweg aus. Gehen verband er stets mit intensivem Nachdenken< beginnt,

lieber Anakreon,

Deine kleine Skizze, was eine Antithese zu dem Aufsatz "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" von Kleist bildet. Folgerichtig fehlt denn auch Heinrich von Kleist in dem kleinen und durchaus sonderbaren Literaturkanon des Konstantin H., selbst wenn er schon >viele Wege begangen< hat. Ein Grund könnte sein, dass Kleists Leben eben nicht >in klar geordneten Bahnen, strukturiert durch den Beruf< verlief. Gleichwohl: die Bergwanderung als Sinnbild des Lebensweges mit der Todesangst und der Rückkehr des Religiösen im Anruf nach Hilfe, obwohl der Prot vordem "aufgeklärt" die Angst leugnete und sich als nicht-religiös einschätzte. Das ist - wie üblich - souverän erzählt. Gleichwohl einige Anmerkungen:

>Das Waldgebiet zog sich über die Hälfte des Berghanges hinauf, mit der Höhe sich auflockernd.< Ist das nicht ab einer bestimmten Höhe - da reicht der Oberharz schon - nicht der normale Fall? Aber für Falchlandtiroler durchaus auch ein informativer Satz.

>Bei Tucholsky hatten Biografen zwar in neuerer Zeit infrage gestellt, ob sein Tod nicht ein Unfall war?< Besser den Nebensatz im Konjunktiv und in jedem Fall ohne Fragezeichen. Indirekte Rede ist es auf jeden Fall.

>Für Konstantin stand fest, er würde keinen Widerstand leisten, ...< Hier ließe sich statt der würde-Konstruktion ein triviales futuristisches "wird" nehmen und dass der Tod irgendwann ihn heimsucht steht doch auch fest (es muss ja nicht hinter der eigenen Tür sein). Also warum nicht "wenn der Tod an seiner Daseinstür klopfte"? - Etwas Ähnliches geschieht weiter unten beim Absturz. Da könnte der Konj II konsequent durchgeführt werden ("Wenn nicht rechtzeitig Hilfe käme, ..." usw.)

>Er war aber nicht am Verwelken, ...< Ein Stilbruch, wenn man auch hier orts das german gerund (paar Beispiele: ich bin am Laufen/er tut laufen ...). Warum nicht: "Er war aber nicht verwelkt" oder "Er welkte (noch) nicht"?

>er hatte die Blüte seines Lebens bis anhin ja noch nicht Mal richtig erschlossen.< Hier kann das Mal auf kleingeschrieben werden, da es "einmal" nur verkürzt.

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel

Meine Gedanken waren nicht bei Kleist, als ich dieses kleine Bergweltdrama inszenierte, bemüht mit Werken von Ganghofer und anderen Heimatdichtern in keinen Konflikt zu geraten. Naheliegend von Dir es zu erwähnen, an sich hätte Kleist in den sonderbaren Literaturkanon von Konstantin H. gepasst. Doch zweierlei Gründe verwehrten mir möglicherweise unbewusst diese Überlegung. Heinrich von Kleist nahm mit Henriette Vogel eine Begleiterin mit in den Tod, was beinah vertiefte Überlegungen bedingt hätte. Zudem, nach dem Narziss wollte ich den Familienverband derer von Kleist nicht weiter strapazieren und wiederum einer der ihren anführen. Die von Dir gezogenen Rückschlüsse zum Inhalt der Geschichte fand ich recht interessant und das Lob als ein Balsam für meine scheue Autorenseele.

Du hast absolut recht, ab einer bestimmten Höhe verändert sich die Bewaldung natürlich. Ich liess die beschreibenden Gedanken einfliessen, da ich mir einen realen Berg vorstellte, wie er sich präsentiert. Ich werde wohl den zweiten Teil des Satzes streichen.

Mit Deinem geübten Kritikerblick hast Du meine neuerlichen Schnitzer sofort erfasst. Mir bleibt da nur demutsvoll zu ändern, obwohl ich mir einbildete, bei diesem Stück auch mal ein wenig kläffen zu können.

Danke fürs Lesen und Kommentieren.

Gruss

Anakreon

 

Hallo Anakreon,
die Geschichte finde ich in ihrem Gehalt gut; der Unterschied zwischen dem theoretischen Suizid als philosophische Spielerei und dem realen Tod ist dramatisch - das kommt gut heraus. Wir erkennen den Wert dessen, was wir (bald) nicht mehr haben.

Zur Form: ich will nicht in die Fehler mancher Kritiker verfallen und Dir raten, eine andere Geschichte zu schreiben. Aber hier steht vieles, was ich gern in der Form der Kurzgeschichte gelesen hätte. Die Gedanken, die der Prot. während seiner Wanderung hat, werden ja auch nicht als seine Gedanken präsentiert, sondern mit großem Abstand beschrieben und, was den Abstand noch vergrößert, auch aus der Perspektive des Autors bewertet. Beispiel:

Sein Weltbild, das er sich nach dem Tod der Eltern konstruierte, entsprach einer untergründigen Skepsis.

Hier könnte ein innerer Dialog stehen, der dann zum Schluß konterkariert wird durch die Erfahrung. Es könnte auch ein Dialog mit einem zweiten Wanderer diese Gedanken darstellen. Ich möchte miterleben, was in ihm vorgeht, nicht beschrieben bekommen.

Ich weiß, ich mache das auch nicht besser.

Gruß Set

 

Hallo Set

Danke für Deine Einschätzung und Kritik, die ich mit Interesse las.

Ich verstehe, wenn Dir das gefühlsmässige Erleben von Konstantin H. zu kurz kommt, da es nur erläuternd aufscheint. Dies hatte mich bei der Abfassung auch stark beschäftigt und verschiedene Versionen entstehen lassen. Das Thema erwies sich als schwierig zu raffen, sollte da nicht nur der Schlussakt stehen, sondern auch die dahinführende Entwicklung. An sich wäre mir ein innerer Dialog etwa zu seiner Mutter sympathisch gewesen, doch erwies sich ein solcher in dieser kurzen Form nicht präsentierbar. Den Kompromiss suchte ich dann in annähernder Erzählform altgriechischer Gleichnisse, und ergänzend in der Schlussphase das Erleben des Protagonisten direkt einfliessend. Ein direkt beteiligter Gesprächspartner fand ich in diesem Thema weniger passend, wenngleich nicht unmöglich. In einer der verworfenen Versionen hatte ich denn auch die Geschichte rückblickend in eine psychoanalytische Praxis verlegt, doch befriedigte das Szenario mich nicht, es verlor seine philosophische Komponente.

Dein Hinweis, z. B. bei seinem Weltbild einen inneren Dialog (oder Monolog) fliessen zu lassen, spricht mich an. Ich werde mir noch vertiefte Gedanken darüber machen. Ob und wie schnell mir dies gelingt, wage ich jedoch nicht zu benennen. In der ersten Septemberhälfte ziehe ich mich mal wieder ans Mittelmeer zurück, aber vielleicht danach.

Gruss

Anakreon

 

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