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Fehltritt in die Wirklichkeit
Zielstrebig schritt Konstantin H. auf dem Wanderweg aus. Gehen verband er stets mit intensivem Nachdenken. Zu beiden Seiten des Tals erhoben sich die Bergrücken der Voralpen, in diesem Gebiet hatte er schon viele Wege begangen.
Sein Leben verlief in klar geordneten Bahnen, strukturiert durch den Beruf als Lehrer, den er seit drei Jahren ausübte. Die Lehrstoffvermittlung war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn Konstantin nicht unterrichtete, trieb er Sport und las viel, nebst Fachbüchern und solchen zu aktuellem Zeitgeschehen, ausgewählte Literatur sowie auch philosophische Werke.
Das Waldgebiet zog sich über die Hälfte des Berghanges hinauf. In der Natur registrierte er nicht nur das Wachsen und Blühen, sondern ebenso das Welken und Sterben. Manchmal drehte er verfaulendes Laub oder Gehölz um, wie sich überzeugend, dass andere Lebewesen sich darunter gütlich taten, dem Ende eines Kreislaufes von Lebensformen so abschliessenden Sinn verleihend.
Öfters kreisten seine Gedanken um die Eltern. Sein Vater war an einer Leberzirrhose gestorben, übermässiger Alkoholgenuss liess das Organ erst wie ein Schwamm anwachsen, um dann zu schrumpfen. Seine Mutter nahm den doch überraschenden Tod ihres Mannes nicht leicht, ein Transplantat war nicht rechtzeitig verfügbar. Nur ein Jahr später erlag seine Mutter dann einem Verkehrsunfall. Sie war unvermittelt auf die Strasse getreten, direkt vor einen herannahenden Lastwagen, ein Suizid wurde nicht ausgeschlossen.
Über dem gelichteten Wald breitete sich der blaue Himmel aus. Ein Witterungsumschwung, der im Berggebiet schnell unangenehme Überraschungen bringen kann, war nicht angesagt.
Sein Weltbild, das er sich nach dem Tod der Eltern konstruierte, entsprach einer untergründigen Skepsis. An das Leben stellte er keine ausgeprägten Erwartungen, es war ihm ein Zeitrahmen, den es bestmöglich zu füllen galt. Den Tod deutete er pragmatisch als einen endgültigen Rückzug aus dem Dasein, dies unterlegte er mit seiner Kenntnis über die Naturwissenschaften. Dass eine latente Todessehnsucht durch die einseitige Beschäftigung mit dieser Materie ihn vereinnahmte, war ihm nicht bewusst. In den letzten zwei Jahren las er bevorzugt Werke von Kurt Tucholsky, Paul Celan, Arthur Koestler, Robert Neumann, Sandra Paretti sowie Jean Amery. Eine Spurensuche in den Werken von Menschen, die später Hand an sich legten. In stiller Zwiesprache mit seiner Mutter begann er seine Zweifel, Fragen und Überlegungen auszutauschen. Biografen stellten in neuerer Zeit infrage, ob Tucholsky Tod nicht ein Unfall war. Wäre dem so, warum kommt diese Erkenntnis erst jetzt? Ist es denn entscheidend, genügt es nicht einfach zu akzeptieren, dass er tot ist? Paretti bekundete in ihrer selbst verfassten Todesanzeige in der NZZ ihre Einstellung zur Sterbehilfe und Amery schrieb vorab ein Buch zum Suizid. Ihre Bücher waren sehr verschieden, doch ihre Leben in der letzten Entscheidung identisch. Ist dies denn nicht ein genügender Hinweis, dass des Lebens Finale naturgemäss auch beim Menschen liegt? Wie ist es mit jenen Alten, deren Herz einfach aufhört zu schlagen, wenn sie des Lebens Last nicht mehr tragen wollen. Sie geben es ab, zurück bleiben die, welche sich vor dem Tod fürchten. Ich werde keinen Widerstand leisten, wenn der Tod einmal an meiner Daseinstür klopft.
Es standen nur noch vereinzelt Bäume, die Grasbüschel gingen zunehmend in Wiesen über, durch die ein Trampelpfad führte. Wanderer kamen ihm entgegen, manche von ihnen wohl solche, die die Seilbahn benutzten, deren Bergstation unterhalb des höchsten Punktes lag. Ältere Leute bevorzugten diese Möglichkeit, wenn ihnen der Auf- oder Abstieg zu strapaziös war.
Auf dem Grat führte der Weg abwechselnd leicht auf und ab, dafür die beidseitig zunehmend kargen Wiesen stark abfallend, um weiter unten in eigentliche Steilwände überzugehen. Knapp vierhundert Meter von der Bergstation entfernt, wich er entgegenkommenden Wanderern nach rechts aus. Da er mit einem Fuss auf einen losen Stein trat, verlor er das Gleichgewicht und stürzte hangabwärts, mit Händen und Füssen Halt suchend. Eine Bodenunebenheit gab einem Fuss endlich Widerstand, sodass er das Abrutschen abbremsen und seine Hände in Erde mit Grasbüschel krallen konnte.
Nach einem Moment der Benommenheit hörte er vom Weg oben Rufe. Er sah auf und versuchte sich aufwärtszuschieben, aufkommende Schmerzen von Prellungen ignorierend, doch sogleich rutschte er ein Stück weiter ab. Mit einem seitlichen Blick konnte er das Ende des Abhangs ahnen, das etwa zwei Meter unter ihm in eine Steilwand überging. Der Griff seiner Finger war nun noch fester. Da er mit der Gegend vertraut war, wusste er, dass die Steilwand hier weit über hundert Meter abfiel.
Obwohl die Luft in dieser Höhe von angenehmer Frische war, rann ihm Schweiss über sein Gesicht, ohne Möglichkeit ihn wegzuwischen. Seine Finger verkrampften, doch wagte er nicht, sie zu entspannen. Auch seine Füsse presste er fest in die kleinen Unebenheiten am Boden, welche sie leicht abstützten. Wenn nicht rechtzeitig Hilfe käme, wird er gnadenlos abstürzen. Der Rektor müsste am Montag seinen Schülern mitteilen, ihr Lehrer Herr H. sei am Wochenende bei einer Wanderung zu Tode gestürzt.
Mit der Atmung bemühte er sich seine körperlichen Kräfte kontrollierend zu regulieren, wie er es vom Sport her kannte, die Gedanken einzig darauf fokussiert. Zunehmend verselbstständigte sich sein Denken jedoch, vergegenwärtigte ihm seine Mutter, die Vorstellung, wie sie vom Lastwagen erfasst wurde und der heftige Aufprall. Er würde ein ähnliches Schicksal erleiden, sobald er sich nicht mehr halten konnte, abrutschen und nach langem Fall hart aufschlagen, die Haut zerplatzend, die Knochen brechend, eine blutige Masse auf Felsgestein. Panische Angst breitete sich in ihm aus. Er versuchte dieser Emotion Herr zu werden, indem er zu sich selbst sagte: Ich habe keine Angst vor dem Tod. Doch die keimende Todesfurcht schien seine Worte zu verhöhnen und intensivierte sich noch. Ihn, der dem Tod in verschiedenen Schicksalen nachgegangen war. Er, der darüber gelesen hatte, wie Schriftsteller ihre Welt deuteten, ehe sie Hand an sich legten. Die Abstraktion des Todes war ihm in den letzten Jahren immer gegenwärtig und die Kausalität klar gewesen. Doch war es stets in distanzierter Form als Denkbares, ja annähernd sogar Ästhetisches. Nichts Makabres, das sich damit verband. Es war die Erhabenheit, die er darin erblickte, die unendliche Ruhe, welche dieser Zustand zu vermitteln schien. Ein sanftes Einschlafen hatte er sich dabei vorgestellt, ein traumlos auslöschendes Sein. Der Fall in den Abgrund wäre ein krasser Gegensatz, ein Höllenschlund, der sich öffnet. Er war nie religiös und konnte sich dies auch jetzt nicht vorstellen. Solch magischem Denken hatte er sich entzogen, der Realität verpflichtet, die nicht Wahrheiten verkündete, sondern die Wirklichkeit aufzeigte. Er hatte die Natur beobachtet, ihr das Verständnis abgewonnen, den der natürliche Kreislauf des Lebens bedingt.
Der Kreislauf des Lebens. Sein Denken klammerte sich an diesen Satz, als ob er ihm Rettung bringen könnte. Er wollte den Tod verstehen, hatte aber das Leben in all seiner Vielfältigkeit noch nicht begriffen, wie er nun erkannte. Der natürliche Kreislauf des Lebens beinhaltete die verschiedenen Stadien von Wachsen, Blühen und Verwelken. Er war aber nicht verwelkt, er hatte die Blüte seines Lebens bis anhin ja noch nicht mal richtig erschlossen. Wie sollte er loslassen, wie sich von etwas trennen, wenn er noch kaum Bindungen eingegangen war. Er war damit beschäftigt gewesen, den Gedanken an den Tod den ihm seine Eltern aufwarfen, zu akzeptieren, aber sein Leben deshalb zu negieren, das wollte er doch eigentlich nicht. Seine Lippen formten einen Wehlaut, doch seine Stimme blieb stumm.
Ich schwöre, wenn ich diese Situation überleben sollte, werde ich mich mit dem Leben beschäftigen, es sinnvoll füllen. Ich werde mich um Reife bemühen und ein Leben führen, an dessen Ende ich sagen kann, es hat sich vollendet und erfüllt. Er ahnte nun, dass nur wer das Leben in all seinen Facetten kennt und liebt, auch die Fähigkeit erlangen kann, die Natürlichkeit des Todes wirklich zu begreifen und zu akzeptieren.
Doch da war wieder die Angst, die seine Gedanken an den Abgrund des Erträglichen führte. Der Krampf zerrte an seinem Körper. Er wusste, dass im Tränenfluss seine Kraft nun zu Ende ging, die gewonnene Erkenntnis ihm wahrscheinlich nichts mehr nutzte.
Etliche Meter neben Konstantin H., damit der Luftzug der Rotorenblätter nicht zu viel Turbulenzen verursacht, positionierte sich ein Helikopter der Rettungsflugwacht. Ein Bergführer seilte sich dicht am Abgrund ab.