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Fayence und Eiszapfen
Wolken sind Ziellose, die vom Wind angetrieben werden. Sie schweben am blauen, roten, violetten und grauen Himmel von hier nach da, als verliefe ihre Reise blind, zufällig. Am Ende lösen sich die Wasseratome in der Atmosphäre auf und es bilden sich aufgrund Kondensation des Meeres eine neue Menge Tropfen. Hinter dem Aktiengebäude erstreckt sich das längste Wolkenbaguette. Am Horizont befindet sich ein Elefant mit zwei Rüsseln, der innerhalb weniger Sekunden sein Hinterteil in den eines Pavian verwandelt. Ihr Leben könnte Wesen gleichen, die Mimese betreiben, da sie sich physiognomisch in allerlei verformen können.
So ein einfaches, unkompliziertes Leben als Wolke hat schon was.
Cassians Konzentration ist schon wieder während den Hausaufgaben an die Umwelt abgeschweift. Er sollte sich mit den mathematischen Übungen beeilen, wenn er noch den Haushalt erledigen möchte. Mit angestrengter Miene versucht er, das Blatt, auf dem Zahlen und Zeichen nur herumzuschwirren scheinen, zu lösen, das Gesang der Rauchschwalbe zu ignorieren und den Bleistift nicht zu zerkauen, der von seinen Molaren bearbeitet wird. Nach einer Weile gibt er es genervt auf, faltet das Papier, um kein Volumen zu verbrauchen, und schmeißt es in den Müllkorb. Er würde sich mit „Hausaufgaben vergessen“ ausreden.
Mit dem Stoffbeutel in der Hand tritt er hinaus und macht sich auf dem Weg, um die Lebensmittel auf der Einkaufsliste zu besorgen. Sicherheitshalber hat er die Baseball-Kappe tief in die Stirn gezogen, damit die Menschen auf der Straße ihn nicht ansehen und ihre Vorurteile über ihn machen konnten. Freilich ohne abfällige Kommentare hier und da verläuft sein Weg zum Supermarkt nicht. Er würdigt sie keines Blickes, vergräbt die Hände tief in den Hosentaschen und schließt einige Sekunden lang die Lider. Geräusche von den Verkehrsmitteln und dem Rascheln der Laubblätter in den Baumkronen dringen an sein Ohr. Eine Diskrepanz über das beste Keramikmaterial findet im Vorgarten eines älteren Ehepaares statt, das ihre giftigen Argumente und Beschimpfungen lauthals äußert. Der Yorkshire Terrier der jungen Joggerin fällt in das Gebell des Streits mit ein, übertönt die ältere Ehefrau aber nicht, die den Disput zu gewinnen scheint. Ein eiliger Mann mit Aktentasche und Handy rempelt Cassians Schulter an und gibt ein „Pass' doch auf!“ von sich, ehe er sich wieder seinem Telefonat widmet. Ein kleines Mädchen weint an der Ampel mutterseelenallein, ihr pinker Lutscher klebt am Bürgerrand und wird von einem nonchalanten Fahrradfahrer zerbröselt. Der Obdachlose am Spirituosen-Geschäft redet auf die graue Ratte an seiner Schulter ein und verkündet von der Weltherrschaft vieler weißer Hausmäuse, die mit den primitiveren Nagetieren derselben Rasse konkurrieren würden. Cassians Blick streift kurz den einer punkigen Raucherin auf ihrem Balkon, deren nackte, blasse Arme von Narben und Verbrennungen zieren.
Die Eingangstür öffnet sich automatisch. Der erste Punkt auf der Liste ist Milch. Dem Jungen wird bewusst, dass er ständig auf den letzten Drücker diejenigen Nahrungsmittel einkaufen möchte, deren Verfallsdatum mindestens drei Tage überschritten ist. Vielleicht sollte er weniger Milch, Käse und Butter verbrauchen. An den Kühlregalen lächelt ihn ein Mädchen an, vermutlich zwei, drei Jahre jünger als er, und packt Erdbeerjoghurt in ihren Korb. Cassian hebt die Mundwinkel ebenfalls an. Man kann nicht erkennen, ob es ihm pro forma dient oder aufrichtig gemeint ist. Da er schon einige Male in diesem Supermarkt war, und sich dennoch nicht den Namen dessen gemerkt hat, findet er die gesuchten Produkte hier schnell. Bevor er sich entschließt, zu der Gemüse-Abteilung zu gelangen, wendet sich das Mädchen an ihn und zögert mit ihrer Bewegung. Er schaut sie kurz an, wartet auf ihre Resonanz. Sie verharrt in ihrer verlegenen Position und streicht sich eine dunkle Strähne hinters Ohr. Er wendet sich mit dem Rücken zu ihr und geht ohne sich noch einmal umzudrehen, wie sie seufzend mit hängenden Schultern den nächsten Joghurtbecher in den Korb steckt.
Das Kind nervt mit seiner Imitation, indem es Motorlärm macht und das verdreckte Fluggerät durch die Gegend wedelt – um genauer zu sein, berührt das Spielzeug die Tomaten, den Sellerie und den Brokkoli. Beinahe will Cassian auf das Gemüse, das mit einem Flugzeug und Sabber tangiert wurde, gänzlich verzichten. Dann fällt ihm ein, dass er den Schmutz abwaschen kann. Im Prinzip kann er überhaupt nicht kochen, doch da er auf sich allein gestellt ist, bleibt ihm wohl oder übel nichts anderes übrig, als die Zubereitung von aufgebrühten Speisen zu erlernen.
In der Warteschlange kramt er die Eurostücke aus der Hosentasche und reißt eine Plastik-, nein, Papiertüte vom Ständer. Die Kassiererin ist langsam und passiv, als wäre sie eine der Kunden, die mit tickender Uhr im Kopf an die Reihe kommen wollen. Cassian dagegen geduldet sich trotz des Schweißes, der sich unangenehm in den Händen und an den Achselhöhlen bildet. Als dann endlich seine bescheidenen Lebensmittel über den piependen Scanner geschoben werden, passiert das, was er erwartet hat. Durch eine ungeschickte Bewegung seiner feuchten Finger gleiten die Münzen auf den Fließboden.
Die Kassiererin döst vor sich hin und wartet. Aus den Augenwinkeln nimmt Cassian das Gestöhne der Kunden wahr. Er fühlt sich wieder schwach und schwerfällig wie sein Großvater, der sich über seine Rückenschmerzen und Ausländer beklagt. Das Kribbeln breitet sich in seinen Fingerspitzen aus. Seine Hand zuckt kaum merklich, will die Metallstange vor dem Fließband ergreifen. Die Zehenspitzen schreien nach Schmerz.
Er schüttelt die körperlichen Anzeichen ab, hebt die Münzen auf und reicht sie der Kassiererin, die das Geld wortlos entgegennimmt.
„... gleichsam eine Fantasie.“
Die Mondscheinsonate von Ludwig van Beethoven ertönt aus den Lautsprechern, während er das Geschirr von den Soßenklecksen befreit. Die Abfolge der Sätze der Komposition gewinnen inflationär an Schnelligkeit, um schließlich den Zuhörer nachdem Höhepunkt einmal aufatmen zu lassen. Das Tempo ist analog zu seinen Herzschlägen. Die Sätze des Instrumentalstücks helfen, seine aufwallenden Gefühlsachterbahnen in Schach zu halten, damit er ruhig die Teller abwischen kann.
Das Buch, das er momentan liest, ist nichts Besonderes, ein Roman, den er ab und zu genießt, um sich die Zeit zu vertreiben. Er liegt auf der Couch, die Beine übereinander geschlagen, die Literatur ruht mit dem Buchcover auf seiner Brust. Seine Augen sind an die Decke gerichtet und scheinen einen unsichtbaren Punkt zu fixieren, statt den Schriftzeilen zu folgen.
Sonderlich viel Staub hat sich seit gestern nicht gebildet, als er mit dem Sauger über den Teppich fährt. Das Brummen hat eine beruhigende Wirkung auf Cassian, der nun noch einmal kehrte und die Regale und Tische putzt. Die Stille, die sich jeden Tag um diese morgendliche Uhrzeit senkt, stört ihn nicht im Geringsten.
Die Fayence zerschellt mit einem ohrenbetäubenden Klang in Zeitlupe.
Cassian stützt sich an der Tischkante ab, um nicht zu schwanken, und wandert mit den Augen über die Scherben, die auf den Dielen verstreut liegen. Es hat keinen Zweck. Die nächste Tasse wird er bestimmt ebenfalls fallen lassen. Er kann es sich nicht leisten, seinen wertvollsten materiellen Besitz, das teure Porzellan, aufgrund Missgeschicke einzubüßen. Der Schwarze Tee nach dem Mittagessen wird anscheinend ausbleiben.
Als er über die scharfen Bruchstücke hinwegzugehen probiert, sticht ein Splitter in seinen nackten Fuß. Er sieht sich die rechte Sohle an. Ein bisschen Blut fließt aus der kleinen Wunde – wie ärgerlich.
Er hopst plump in die Küche und rafft Besen, Schippe und altes Zeitungspapier zusammen. Ein wenig schmerzt die Verletzung am Fuß, doch darum wird er sich später kümmern. Nachdem die größeren Scherben in das Zeitungspapier eingewickelt und die Splitter in den Mülleimer entsorgt sind, sinkt er auf einen Stuhl und stiert auf den Tisch aus Palisanderholz. Die ausgestreckten Hände können die glatte Oberfläche ertasten. Es fühlt sich an wie der fragile Schutz aus Glas, in das die Welt eingeschlagen ist. Ich streife lediglich die Oberfläche, entsinnt er sich und fährt mit dem Finger über das blanke Holz, anstatt an ihr zu kratzen, weil ich mich vor dem Abgrund fürchte, der darunter lauern könnte.
Obschon es ihm gut tun würde, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, weint er nicht. Cassian starrt ausschließlich stumm auf die Tischplatte ohne seine Miene zu verziehen. Die Wunde hat er immer noch nicht versorgt. Rote Tropfen perlen auf den Boden.
„Und wie geht es dir?“
„Gut.“
„Schön. Kommst du zurecht oder brauchst du etwas? Du weißt, wenn du Hilfe benötigst, bin ich für dich da.“
„Es ist alles in Ordnung. Was machen die Kleinen?“
„Sie bauen vor dem Haus Schneemänner mit Zylinderhut und Karotten. Es wurde auch Zeit, dass der Schnee fällt. Die Kleinen haben oft nach dir gefragt, was du tust, ob sie nicht einmal zu dir kommen und übernachten könnten. Na ja, es war schwierig, ihnen das zu erklären.“
„Es ist schwierig. Ich verstehe es selbst nicht.“
„Wir sind eine Familie, da dürfen sie dich dennoch mal sehen, oder?“
„Sicher. Momentan ist es aber ungünstig.“
„Schon wieder die...?“
„Hmm, du, ich sollte jetzt auflegen. Ich habe noch etwas zu erledigen.“
„Sei vorsichtig. In deinem Zustand darfst du es dir nicht erlauben, Hals über Kopf irrationale Aktionen zu starten.“
„Keine Sorge. Ich denke nur nach.“
„Du denkst nach.“
„Bis dann.“
„Ich liebe dich.“
Klick.
Mittlerweile fällt der Schnee massenweise auf Dächer, Rasen, Straßen, Gartenzwerge und vor die Garageneinfahrt des Nachbarn, der sich mühevoll den Weg zu seinem Auto erkämpfen muss, wenn er rechtzeitig in der Firma erscheinen möchte. Cassian hat kein Auto, obwohl er alt genug dafür ist. In geschlossenen Verkehrsmitteln wird ihm regelrecht übel und er droht, sich jede halbe Stunde übergeben zu müssen.
Mit einem Schal und einem gefütterten Mantel geschützt, steht er im Garten seines Hauses und beobachtet die Spatzen, wie sie ihr Nest herrichten. Er will seinen Kopf frei kriegen – und seinen Körper.
Sorgfältig faltet er die entledigten Kleidungsstücke zusammen. Hier und da Geheimnisse, Probleme und Ängste. Wie soll er ihnen je für einen einzigen Moment entfliehen können? Er hat ausgiebig nach einer Stütze gesucht, die Licht in die Dunkelheit, in der er tagtäglich tappte, bringen könnte – und er hat sie gefunden.
Cassian zittert am Leib, doch das macht ihm wie immer nichts aus. Der Schnee ist kühl und bohrt mit seinen latenten Eiszapfen in seine Haut. Der Schmerz ist angenehm, durchzuckt seinen Körper mit Blitzschlägen. Kleine Schneeflocken hauchen ihre Masse zart auf sein Gesicht.
Seit langem fühlt er sich wieder frei. Lebendig.