Fast wie früher
Der Wecker schrillt. Verschlafen öffne ich die Augen. Es ist 9 Uhr und ich wälze mich aus meinem warmen Bett. Ich reiße das Fenster auf und atme tief ein. Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase. Mir ist klar, dass heute ein anstrengender Tag werden wird. Die Arbeit auf dem Feld tut sich nicht von allein und auch im Haushalt ist noch einiges zu erledigen. Als ich aus meinem Zimmer trete, kommt mir der frische Kaffeegeruch schon entgegen. Meine Mutter klappert mit dem Geschirr und der Teig für die erste Ladung Brötchen wartet schon darauf in den Ofen geschoben zu werden. „Der Vater ist schon draußen. Iss etwas und hilf ihm.“
Ich nicke und tue was sie von mir verlangt. „Ein Jammer ist das. Hast du´s schon gesehen? Der Nachbarsjunge ist vom Dach gestützt, er wollte den Satelliten reparieren. Oh, eine Schande.“
Sie sprach mehr mit sich selbst und in ihrer Stimme schwang die Ehrfurcht gegenüber der Vergangenheit, den Zeiten der großen Erfinder, mit. „Hat sich das Bein gebrochen, gleich zweimal. Aber der Doktor ist verreist und sein Sohn ist lange nicht so geschickt in seinem Handwerk als der Doktor selbst. Das hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben. Aber es musste ja so kommen.“
Ich trinke den Rest meiner Milch mit einem Schluck und ziehe mich um. Draußen ist es heiß. So einen Sommer hatten wir schon lange nicht mehr. Mein Vater bewässert die Felder mit einem Eimer, welcher noch dazu ein Loch hat. „Was machst du denn da?“
Erst gestern hatten wir uns einen neuen Schlauch zugelegt. „Der Schlauch wurde geklaut. Der Schuppen war nicht abgeschlossen. Irgendwelche ungebildeten Rabauken sind heute Nacht eingebrochen! Eine richtige Revolution, dass wärs. Aber das hier, dass ist mehr „Haltet das Volk dumm“. Du solltest reingehen. Ein Buch lesen, rechnen lernen. Wichtig wäre es.“
Resignation, sowohl für meine Eltern als auch für uns. Die Zukunft. „Träum nicht Papa, sag mir, was soll ich tun?“
„In die Schule gehen, was lernen, dass solltest du tun. Aber du kannst ja nichts dafür. Lassen wir das. Geh' doch bitte in die Stadt und such uns einen ganzen Schlauch.“
Und wieder tu ich was man mir sagt.
Die Stadt ist wie ausgestorben. Die meisten Leute sind schon auf den Feldern. War nicht auch noch eine Demo in der Nachbarstadt angekündigt worden? Ich fühle das Geld schwer in meiner Tasche liegen. „So ein Schlauch ist nicht billig, Kleines“, hatte der Verkäufer erst gestern zu mir gesagt und dabei frech gegrinst, sodass ich seine Zahnlücke sehen konnte. Ich öffne die schwere Ladentüre und trete gleichzeitig mit der Ladenglocke ein. „Hallo?“ rufe ich. Es steht keiner an der Theke. Langsam gehe ich durch die Regale zur Gartenabteilung. Dessen Regal ist fast leer, ein paar kleinere Utensilien liegen noch ungeordnet auf den zusammengeschusterten Brettern. „Du? Du warst doch gestern schon da!“
Mit dieser Stimme habe ich nicht gerechnet und zucke zusammen. „Ja, also. Ich... Unser Schlauch wurde geklaut und ich bräuchte einen Neuen, sofern es noch einen gibt?“
Der Verkäufer mustert mich kritisch. „Haste Geld?“ Ich greife in meine Rocktasche und hole mein Geld raus. Es ist nicht besonders viel, aber mehr hatte der Schlauch gestern auch nicht gekostet. „Dir ist hoffentlich klar, dass wir nicht mehr im Jahr 2007 leben? Seitdem hat sich hier einiges geändert! Gut, du bist zu jung, kannste nicht wissen. Zu meiner Zeit hat jeder gottverdammte Schlauch gleich viel gekostet, aber wie gesagt, die Zeiten ändern sich.“
„Mehr habe ich nicht.“
„Ist schon gut, Kleines. Du könntest mir einen Gefallen tun. Dann reicht das Geld bestimmt.“
Ich sage nichts und warte ab. „Auf einem meiner Felder sollte man mal pflügen und Brot bräuchte ich auch noch eins. Dann kannste ihn haben. Vielleicht sogar zu `nem Freundschaftspreis.“
Die Deckenlampe flackert. Unruhig schaue ich nach oben, „Wann soll ich anfangen?“
Ich stehe auf einem Feld welches nicht unseres ist und wische mir den Schweiß aus der Stirn. Mein Haargummi hatte sich schon eine Stunde zuvor verabschiedet. In meinem Kopf stelle ich mir vor, wie ich „Nein“ sage, mit einem riesigen Schild auf dem „Bildung für alle!“ geschrieben steht. Ich laufe in eine große, graue Schule, freudig erregt weil ich lernen darf. Nicht wie die Kinder in den Filmen aus Hollywood, die wir uns ab und an anschauten wenn der Fernseher funktionierte. Dort stöhnten immer alle, weil ein neuer Schultag anbrach. Gleichzeitig spüre ich auch den Blick des Verkäufers im Rücken. Schon seit zehn Minuten beobachtet er mich und langsam werde ich nervös. „In deinem Alter saß ich um diese Uhrzeit daheim und habe gelernt, Hausaufgaben erledigt. Weißt du überhaupt noch was das ist?“
„Habe davon gehört“, nuschle ich und werde rot. Vor ein paar Jahren war das noch eine Selbstverständlichkeit, hatte mein Vater mir erzählt. Kopfschüttelnd geht der Verkäufer in sein Haus zurück. Das Feld ist mächtig und leider nicht unter einer halben Stunde erledigt. Ich seufze und mache weiter.
Nach einer geschlagenen Stunde kommt er wieder aus dem Haus und meint, dass es jetzt genug sei. „Geh heim und back ein Brot. Oder stopp nein, das hat auch noch bis morgen Zeit. Bring´s mir einfach vorbei.“
Er drückt mir einen Schlauch in die Hand und gibt mir einen Klaps auf den Po. Ich schaue ihn entgeistert an und finde ihn widerlich. Auf dem Heimweg renne ich über die Wiesen, die trocken und braun sind. Die Kirchturmruhr schlägt zwölf mal und es ist jetzt schon drückend heiß. Ich nehme eine Abkürzung zu unserem Feld. Langsam beginnen auch unsere Nachbarn mit der Arbeit. „Wo warst du denn? Das hat ja ewig gedauert. Ich brauch dich hier!“
Ich erzähle meinem Vater von meiner Arbeit und frage ob ich rein könnte, Mutter helfen. „Dann schick aber deinen Bruder raus! Ich brauch hier dringend jemanden.“
Die Mutter steht am Herd und backt. „Ein Brot muss ich dem Verkäufer bringen.“
Sie schaut mich an als wäre ich eine Auserirdische. „Bitte was musst du tun?!“
„Ein Brot, also, dass muss zum Verkäufer. Wegen dem Schlauch.“ Sie prügelt auf den Teig ein. „Mieser Verräter. Früher war er ein guter Freund von deinem Vater und mir!“ Ich steige die Treppen zum Dachboden hoch und schicke meinen Bruder zu unserem Vater. „Kann ich dir irgendwie helfen, Mama?“
Sie gibt mir einen Lumpen und einen Besen. Dann mache ich mich daran das Haus zu putzen.
Nach dem Mittagessen gibt mir meine Mutter einen Laib Brot. Ich solle das gleich erledigen. Also mache ich mich, zum zweiten Mal an diesem Tag, auf den Weg in die Stadt. Diesmal ist mehr los. Ein paar kommen erschöpft und dreckig von der Demo wieder. „Sehr enttäuschend. Mein Sohn kann nicht einmal die einfachsten Rechnungen lösen. Und was Physik und Chemie ist, ach davon wollen wir mal gar nicht anfangen. Aber es fehlt ihm einfach am Interesse und ich bin nicht unbedingt der beste Lehrer den man sich wünschen kann.“
„Mir geht es mit meiner Tochter nicht anders. Sie hat sich schon so daran gewöhnt, im Haushalt mitzuhelfen, dass sie gar nicht mehr daran interessiert ist etwas neues zu entdecken.“
„Man hätte schon viel früher etwas ändern sollen. Ich habe das ja immer gesagt, aber als eine einzelne Person kann man ja nicht viel ändern. Jetzt liegt es auch an unseren Kindern, etwas zu tun. Aber dafür sind sie einfach zu dumm.“
Als ich mich ihnen nähere, verstummen die Beiden. Sie brauchen auch gar nicht weiter zu reden, ich kenne solche Gespräche zur Genüge. Ich betrete den Laden, diesmal darauf bedacht erst reinzugehen wenn die Glocke schon verstummt ist. Als ich eintrette, laufe ich fast gegen den Verkäufer. „Na sieh mal an, wer es da gar nicht mehr erwarten konnte, mich wieder zu sehen. Selber gebacken, Kleines?“
„Nein, meine Mutter...“
Weiter komme ich nicht, sein zahnlückenhaftes Maul kommt meinem Mund immer näher und in dem Moment träume ich von dieser Einrichtung, die sich Schule nannte, die es wirklich mal gegeben hat und von der Vater immer erzählt. Ich träume davon, etwas zu ändern und wieder Gerichte einzuführen die erst letzten Sommer zu Grunde gingen. Und davon, dass bei all dem Geld der Manager damals, mehr für unsere Bildung heute geblieben wäre. Aber ich kann es nicht aufhalten, es steht nicht mehr in meiner Macht...
Der Wecker schrillt. Es ist 6 Uhr morgens. Aus der Küche ruft meine Mutter, ob ich etwas zu essen möchte. Ich gehe zu ihr, esse etwas, richte meine Schulsachen und erzähle meinem Vater von einem schrecklichen Traum an den ich mich zum Glück nicht mehr genau erinnern kann.