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Fast dreizehn
Dein Spiegel benimmt sich in der letzten Zeit wie einer aus dem Lachkabinett. Verzerrt siehst du aus, unproportioniert und unfertig. Es wird irgendwann einmal besser, aber erst wird es noch schlimmer. Deine beste Freundin Carolin trägt neuerdings einen BH, an dem sie dauernd herumfummelt. Sie zieht ihn straff, lässt den Träger schnipsen, beklagt sich leise und mit heimlicher Lust, dass er sie einschnürt. Du hingegen bist platt wie ein achtjähriger Junge. BMW, nennen dich die Jungs manchmal. Brett mit Warzen. Du ignorierst sie, denn was sollst du dazu auch sagen. Zumindest heißt du nicht Knochenkarussell, wie Anita. Oder Fette, wie Sabine, die sich schon so an ihren Spitznamen gewöhnt hat, dass sie damit unterschreibt.
Im Sportunterricht wackeln Carolins neue Brüste beim Rennen. Du musst sie immer anstarren, fasziniert und entsetzt. Wenn sie sich umzieht, strömt saurer Schweißgeruch von ihr aus. Ihre prallen roten Schenkel scheinen die Turnhosen zu sprengen. Sie sieht anders aus und sie benimmt sich auch anders. Sie tuschelt mit anderen. Sie sieht in deine Richtung und lacht. Von einem Tag auf den anderen geht sie mit Josephine nach Hause und nicht mehr mit dir.
Du schließt dich in deinem Zimmer ein und hörst Musik. Deine Mutter trommelt an die Tür und will wissen, was mit dir los ist, ob es Ärger in der Schule gab, ob du Hausaufgaben aufhast, ob du etwas essen willst. Sie hat Kuchen gebacken. Sie geht dir auf die Nerven. Du willst nichts anderes, als in deinem Zimmer zu liegen und an Richard Franke aus der neunten Klasse zu denken. Richard weiß nichts von deiner Existenz. Jungs wie er haben alle Hände voll mit älteren Mädchen zu tun. Einmal prallst du auf dem Schulkorridor gegen ihn. „Hoppla!“, sagt er und grinst. Du träumst wochenlang von diesem einen Wort, obwohl er auf dem Schulhof durch dich hindurch sieht.
Deine Mutter will dich aufmuntern und geht mit dir einkaufen. Bei H&M triffst du Carolin mit einem älteren Mädchen - Jennifer aus der achten Klasse. Sie kaufen Unterwäsche und kichern, als sie deine Mutter in ihrer unförmigen Hose sehen.
„Hallo, Carolin“, sagt deine Mutter höflich. Du schämst dich für sie. Sie kauft dir die teure Jacke und auf dem Heimweg noch eine Creme gegen deine Pickel. Sie meint es gut, aber als du an der Bushaltestelle Richard mit einem Mädchen im Arm siehst, könntest du heulen. Du lässt deine Wut an deiner Mutter aus. Sie nennt dich undankbar, beschwert sich bei deinem Vater. Dein Vater murmelt etwas Hilfloses. Er meidet dich in letzter Zeit, findet nicht mehr die richtigen Worte. Balgt lieber mit deinem kleinen Bruder herum.
Carolin macht eine Party. Obwohl du weißt, dass es sowieso nur Cola gibt und Carolins Mutter niemals Jungs in ihrem heiligen Heim dulden würde, benehmen sich alle, als ob sie zur Orgie des Jahrhunderts gehen werden. Du bekommst keine Einladung.
Erst glaubst du, dass Carolin es vergessen hat. Du wartest und redest dir ein, dass sie dich noch anruft. Schließlich seid ihr beste Freundinnen, da brauchst du ja nichts Schriftliches. Vielleicht kommt die Einladung ja mit der Post. Wahrscheinlich denkt sie, dass sie dich schon eingeladen hat. Du hältst es nicht mehr aus und fragst sie, obwohl du dir doch geschworen hast, es nicht zu tun. Carolin nuschelt etwas von zu vielen Gästen. Du versuchst, deinen Kopf hoch zu halten. Erzählst etwas von einem Ausflug in den Vergnügungspark. Carolin grinst.
Am Abend der Party liegst du in deinem Bett und starrst an die Decke. Draußen heult dein kleiner Bruder, weil du ihm eine geknallt hast. Er hat dich BMW genannt. Deine Mutter tobt und will wissen, warum du ihn geschlagen hast. Du drehst die Musik lauter. Hörst Sigur Ros, weil du weißt, dass Richard darauf steht, er trägt manchmal so ein T-Shirt. Sigur Ros klingt beschissen, eigentlich hörst du lieber Popmusik. Deine Mutter bettelt jetzt vor der Tür. In zehn Minuten wird sie anfangen, dir zu drohen. Sie tut dir fast Leid.
Am nächsten Tag in der Pause spricht Carolin überraschend mit dir. Die Party war ein Flop. Carolins Mutter hat alle abends um neun nach Hause geschickt und jetzt lästert Jennifer darüber in der Schule. Carolin beklagt sich bei dir. Du weißt, dass es ein Friedensangebot ist, welches du annehmen oder ausschlagen kannst. Dein Mund öffnet sich.
Du triffst eine Entscheidung.
Dein Mund klappt wieder zu und du lässt sie wortlos stehen.