Was ist neu

Fast dreizehn

Seniors
Beitritt
27.08.2007
Beiträge
516
Zuletzt bearbeitet:

Fast dreizehn

Dein Spiegel benimmt sich in der letzten Zeit wie einer aus dem Lachkabinett. Verzerrt siehst du aus, unproportioniert und unfertig. Es wird irgendwann einmal besser, aber erst wird es noch schlimmer. Deine beste Freundin Carolin trägt neuerdings einen BH, an dem sie dauernd herumfummelt. Sie zieht ihn straff, lässt den Träger schnipsen, beklagt sich leise und mit heimlicher Lust, dass er sie einschnürt. Du hingegen bist platt wie ein achtjähriger Junge. BMW, nennen dich die Jungs manchmal. Brett mit Warzen. Du ignorierst sie, denn was sollst du dazu auch sagen. Zumindest heißt du nicht Knochenkarussell, wie Anita. Oder Fette, wie Sabine, die sich schon so an ihren Spitznamen gewöhnt hat, dass sie damit unterschreibt.
Im Sportunterricht wackeln Carolins neue Brüste beim Rennen. Du musst sie immer anstarren, fasziniert und entsetzt. Wenn sie sich umzieht, strömt saurer Schweißgeruch von ihr aus. Ihre prallen roten Schenkel scheinen die Turnhosen zu sprengen. Sie sieht anders aus und sie benimmt sich auch anders. Sie tuschelt mit anderen. Sie sieht in deine Richtung und lacht. Von einem Tag auf den anderen geht sie mit Josephine nach Hause und nicht mehr mit dir.
Du schließt dich in deinem Zimmer ein und hörst Musik. Deine Mutter trommelt an die Tür und will wissen, was mit dir los ist, ob es Ärger in der Schule gab, ob du Hausaufgaben aufhast, ob du etwas essen willst. Sie hat Kuchen gebacken. Sie geht dir auf die Nerven. Du willst nichts anderes, als in deinem Zimmer zu liegen und an Richard Franke aus der neunten Klasse zu denken. Richard weiß nichts von deiner Existenz. Jungs wie er haben alle Hände voll mit älteren Mädchen zu tun. Einmal prallst du auf dem Schulkorridor gegen ihn. „Hoppla!“, sagt er und grinst. Du träumst wochenlang von diesem einen Wort, obwohl er auf dem Schulhof durch dich hindurch sieht.

Deine Mutter will dich aufmuntern und geht mit dir einkaufen. Bei H&M triffst du Carolin mit einem älteren Mädchen - Jennifer aus der achten Klasse. Sie kaufen Unterwäsche und kichern, als sie deine Mutter in ihrer unförmigen Hose sehen.
„Hallo, Carolin“, sagt deine Mutter höflich. Du schämst dich für sie. Sie kauft dir die teure Jacke und auf dem Heimweg noch eine Creme gegen deine Pickel. Sie meint es gut, aber als du an der Bushaltestelle Richard mit einem Mädchen im Arm siehst, könntest du heulen. Du lässt deine Wut an deiner Mutter aus. Sie nennt dich undankbar, beschwert sich bei deinem Vater. Dein Vater murmelt etwas Hilfloses. Er meidet dich in letzter Zeit, findet nicht mehr die richtigen Worte. Balgt lieber mit deinem kleinen Bruder herum.
Carolin macht eine Party. Obwohl du weißt, dass es sowieso nur Cola gibt und Carolins Mutter niemals Jungs in ihrem heiligen Heim dulden würde, benehmen sich alle, als ob sie zur Orgie des Jahrhunderts gehen werden. Du bekommst keine Einladung.

Erst glaubst du, dass Carolin es vergessen hat. Du wartest und redest dir ein, dass sie dich noch anruft. Schließlich seid ihr beste Freundinnen, da brauchst du ja nichts Schriftliches. Vielleicht kommt die Einladung ja mit der Post. Wahrscheinlich denkt sie, dass sie dich schon eingeladen hat. Du hältst es nicht mehr aus und fragst sie, obwohl du dir doch geschworen hast, es nicht zu tun. Carolin nuschelt etwas von zu vielen Gästen. Du versuchst, deinen Kopf hoch zu halten. Erzählst etwas von einem Ausflug in den Vergnügungspark. Carolin grinst.
Am Abend der Party liegst du in deinem Bett und starrst an die Decke. Draußen heult dein kleiner Bruder, weil du ihm eine geknallt hast. Er hat dich BMW genannt. Deine Mutter tobt und will wissen, warum du ihn geschlagen hast. Du drehst die Musik lauter. Hörst Sigur Ros, weil du weißt, dass Richard darauf steht, er trägt manchmal so ein T-Shirt. Sigur Ros klingt beschissen, eigentlich hörst du lieber Popmusik. Deine Mutter bettelt jetzt vor der Tür. In zehn Minuten wird sie anfangen, dir zu drohen. Sie tut dir fast Leid.
Am nächsten Tag in der Pause spricht Carolin überraschend mit dir. Die Party war ein Flop. Carolins Mutter hat alle abends um neun nach Hause geschickt und jetzt lästert Jennifer darüber in der Schule. Carolin beklagt sich bei dir. Du weißt, dass es ein Friedensangebot ist, welches du annehmen oder ausschlagen kannst. Dein Mund öffnet sich.
Du triffst eine Entscheidung.
Dein Mund klappt wieder zu und du lässt sie wortlos stehen.

 

Hallo sammamisch,

ich finde die Geschichte offenbart schon dein erzählerisches Talent - Auftakt und Ende sind gut komponiert, einige Passagen frisch erzählt, der Text erzeugt einen "Geschmack" von Jugend, da macht das Lesen Freude.

(auch wenn du manchmal innerhalb deiner Originalität zu sprachlichen Standardbausteinen greifst, da könnte noch geschliffen werden, finde ich; als Beispiel sei diese Stelle:

Dein Spiegel benimmt sich in der letzten Zeit wie einer aus dem Lachkabinett. Verzerrt siehst du aus, unproportioniert und unfertig. Es wird irgendwann einmal besser, aber erst wird es noch schlimmer. Viel schlimmer (stärkung schwächt eher, streichen). Deine beste Freundin Carolin trägt neuerdings einen BH, an dem sie dauernd herumfummelt. Sie zieht ihn straff, lässt gedankenverloren (Standardbaustein, streichen)

)

Wichtiger aber: Woran der Text noch etwas leidet, ist meines Erachtens, dass er über eine gewisse Klischeeschilderung von Pubertät nicht hinauskommt - so wirkt die Erzählperspektive insgesamt etwas nostalgisch-"pädophil" (bitte nicht missverstehen: Nicht der Autor ist gemeint, sondern die Erzähl-Perspektive!). Diesen Eindruck bestätigt nicht zuletzt, dass die Protagonistin natürlich das starke Mädchen sein muss (Carolin stehen lassen) und auch der Titel erzeugt einen süßlichen Filter. So hat man letztlich nicht das Gefühl, dass der Text Authentik erzeugt, sondern eher gewisse menschliche Seelenzustände missbraucht, um einen Geschmack von Lebendigkeit zu erzeugen.

liebe Grüße,
BlauerSalon

 

Sigur Ros klingt beschissen,
Fakt!

Hey Sammamish

Mir hat die Geschichte nicht gefallen, weil ...
- du mehr erzählst, als zeigst. (Du hast eigentlich gegen das Gebot: Show, don't tell verstoßen. Kann man als Experiment sicher machen, mehr erzählen. Jedoch eignet sich das, was du erzählst, nicht dafür. Denn was erzählt werden darf, sind interessante Gedankengänge, die man vielleicht nicht zeigen kann und erzählen musst. Aber gerade bei dieser Geschichte kommt die Dramatik mehr zu Geltung, wenn du eben alles zeigst.
- du in der Du-Perspektive erzählst, scheint die Prota. Lichtjahre von mir entfernt zu sein. Eigentlich soll die Perspektive genau das Gegenteil bewirken, hier verfehlt sie ihre Wirkung.
- du einen viel zu nüchternen, fast berichtenden Stil hast. Es ist die falsche Erzählstimme, mMn.

Du hast mE die Grundvoraussetzungen für eine Kg nicht erfüllt, und man würde meinen, die Kg wäre total misslungen.
Aber trotzdem ist da ein Reiz, vielleicht genau deswegen.
Mehr bleibt mir nicht zu sagen, denn du kannst schreiben. Vielleicht war das nur ein Experiment?

JoBlack

 

Hallo Sammamish.

Also, mich hast du mit der Geschichte vollends erreicht (mag vielleicht daran liegen, dass, wenn ich mir meine Tochter ansehe, ich merke, dass sie bald Ähnliches "durchmachen" wird). Naja, ich denke mal, wie die meisten :)

Kurzum: Ich habe nichts auszusetzen, konnte mich völlig in deine Prota hineinversetzen, auch wenn du, wie Jo schon bemerkte, mehr erzählst als zeigst.
Ich denke, es ist die Perspektive, die du gewählt hast. Sie passt hervorragend zu der Situation, in der sich die Prota befindet: sie hat das Gefühl von außen auf eine sich verändernde Welt zu schauen. Gerade zu Beginn der Pubertät hat man ja das Gefühl, die Welt um einen herum verändert sich und nicht man selbst :)

Von mir gibts n dickes Kompliment (naja nicht ganz: den Titel find ich doof :D)

Gruß! Salem

 

Hallo ihr,
ich finde es immer wieder interessant, wie viele verschiedene Lesearten es doch gibt. Ich glaube, deswegen mag ich kg.de auch so, man bekommt einen Einblick, wie unterschiedlich „die da draußen“ doch unsere Geschichten empfinden.

@ Blauer Salon – deine kleinen Textanmerkungen finde ich durchaus berechtigt, habe ich auch übernommen. Klischeehaft sollte der Text allerdings nicht sein, eigentlich wollte ich darstellen, was sich durchschnittlich so mit Beginn der Pubertät in einem abspielt. (Wer das nicht erlebt hat, kann sich wohl nur glücklich schätzen.) So stellt sich die Frage – kann man Nostalgie für etwas empfinden, das man als fürchterlich empfand? Und sind manche Klischees nicht einfach auch wahr? Beim Ende war der Wunsch Vater des Gedanken, das gebe ich zu. Im Normalfall tritt wohl eher das Gegenteil ein.
Danke fürs Lesen!

@ Jo Black – ja, mit dieser „Du-Perspektive“ habe ich versucht, mal etwas ganz anderes zu machen, insofern ist es wohl ein Experiment( für mich). Normalerweise mag ich diese Perspektive nicht einmal, aber hier erschien sie mir passend, ich weiß selber nicht warum. Vielleicht, weil man in diesem Alter so „neben sich steht“? Es ist auch hart an der Grenze zu einer echten klassischen Kurzgeschichte, da stimme ich dir zu, der nüchterne Berichtton usw.
Habe auch erst überlegt, ob ich sie einstelle – aber nun ist es geschehen!
Danke dir auch für deinen Kommentar

@salem – ist schon witzig, dass die Geschichte ausgerechnet einen erwachsenen Mann erreicht!
(Meine Tochter ist noch zu klein und doch sehe ich schon ein paar dunkle Schatten am Horizont. Vielleicht ein Versuch meinerseits, sich auf Kommendes vorzubereiten, bzw. sich Vergangenes wieder frisch ins Gedächtnis zu rufen?)
Ja, Titel ist doof.
Titel sind das Schwerste überhaupt.

Danke euch allen für eure Zeit,
Gruß, sammamish

 

Hallo Sammamish,
die dunklen Wolken, die du am Horizont siehst, mutieren noch zu starken Gewittern, die das häusliche Glück erschüttern werden:D. Aber zum Trost sei gesagt, wenn die Pupertät überstanden ist, kommen wieder richtig gute Zeiten für die Eltern und man ist überrascht, wie verständnisvoll die eigenen Kinder doch sind.
Die Schilderung der inneren Befindlichkeit des Mädchens fand ich sehr gelungen. Auch die Form, die du gewählt hast, finde ich richtig. Für mich war das Ende auch nicht vorhersehbar. Mädchen in diesem Alter wollen dazu-, einer Clique angehören und ich nahm deshalb an, dass sie ihrer Freundin verzeiht. Aber nein, du lässt sie stolz ihren Weg allein gehen, für mich der schwierigere Weg.
Sehr gerne gelesen!
Lieben Gruß,
jurewa

 

Hallo sammamish!

Da kommt gleich ein Kommentar als Revanche. "Picky" natürlich, wie immer.

Die "Du-Perspektive" kann man nur selten einsetzten, hier passt es. Der Text liest sich für mich so, als steht da die Mutter vor der Tochter und erzählt ihr, was sie gerade durchmacht (künstlerisch verzerrt natürlich, denn die Mutter kann ja die Details nicht alle kennen).
Wobei allerdings der letzte Satz heraussticht und absolut nicht passt, weil du dort eine andere Perspektive benutzt (übergeordnet, wie bei einer Kolumne in einer Frauenzeitschrift). Den würde ich streichen, oder, falls er dir gefällt, zumindest durch eine Leerzeile abtrennen.

Wie gesagt, die Perspektive passt, allerdings wäre der Text, besonders die Sache mit der Party, viel angenehmer zu lesen, interessanter, wenn der Leser aktiv am Geschehen teilhaben könnte und nicht auf diese Nacherzählung angewiesen wäre.

So, das war's schon.

Fehlerchen:
"Er vermeidet dich in letzter Zeit," => Er meidet dich oder er vermeidet etwas.
"um 21.00 " => Bitte ausschreiben.

Grüße
Chris

 

Hallo Traene,
mit diesem von dir zitierten Satz meinte ich, dass die ganzen Tragoedien der Pubertaet natuerlich irgendwann einmal besser werden, das Aussehen, die Haut usw, aber mit knapp 13 wird es eher erst mal noch schlechter. das war alles. Danke dir fuers Lesen!

Hallo Jurewa - du machst mir ja Hoffnung!
Das Ende sollte einfach ein bisschen positiv sein. Alles andere ist schon schlimm genug!
Gruss, sammamish


Hallo Chris,
den letzten Satz braucht es nicht, das stimmt.
Eine andere Perspektive wuerde es moeglich machen, mehr ins Geschehen zu tauchen, das ist auch wahr. Allerdings versuche ich so eine andere Perspektive schon sonst immer, dass es mich mal gereizt hat, diese "Du" Sache auszuprobieren. Aber es ist leicht autoritaer, das muss ich gestehen. Nicht unbedingt was, das ich immer benutzen wuerde.
Danke dir auch,


gruss, sammamiish

 

Hallo sammamish,
Die Geschichte finde ich rundherum gelungen. Hab sie in einem rutsch durchgelesen, fand keine Stelle die "hackte".
Am ehesten bekritteln könnte ich das:

Sie tut dir fast Leid.
Da glaube ich ihr das nicht, weil fast Leid tun ist schon so etwas wie mitgefühl, sie wird aber viel zu sehr mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt sein.

LG
Bernhard

 

Hallo Bernhard und Existence,

danke für euer Lob!
Freute mich immer, wenn eine Geschichte gut ankommt.

@ existence:

Deine Geschichte hinterlässt zudem ein latentes Glücksgefühl bei mir, kein Mädchen geworden zu sein.
Es gibt auch’ne Menge gute Seiten! :D

sammamish

 

Hallo rueganerin,

danke für deinen Kommentar!
Wenn ich ehrlich bin, fand ich auch, dass jeder ein bisschen Recht hatte. Es ist ein Klischee, ohne Frage. Aber doch eins, dass es nicht ohne Grund gibt, denke ich mal.
Auf jeden Fall bin ich froh, dieses Alter weit hinter mir gelassen zu haben!

Viele Grüße,
Sammamish

 

Hallo Sammamisch,
Eigentlich müsste deine Geschichte für Mütter von Teenagermädchen empfohlen werden. Besser kann “Frau” ein pubertierendes Mädchen, mit diesem Wirrwarr der Gefühle, nicht beschreiben.
Liebe Grüße

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom