- Beitritt
- 23.08.2001
- Beiträge
- 2.936
Fassade
Ich habe mir ein Modem gekauft.
Jetzt sitze ich hier und chatte durch die Welt.
Es ist ungemein angenehm, Menschen zu treffen, ohne ihnen wirklich zu begegnen. Mit ihnen sprechen zu können, ohne gesehen zu werden. Ohne, daß meine Stimme zittert. Ohne, daß sie mein Husten hören.
In dieser Welt gehe ich ganz auf. Ich bin die PrincessOfLove, wie ich mich hier nenne. Ich trage nicht nur diesen Nickname, ich bin es wirklich. Wenn ich im Net bin, bin ich nicht mehr Inge. Meine Persönlichkeit, meine Ängste und Gefühle verlieren die Bedeutung. Ich bin eine Prinzessin, eine starke Frau, die keinen Schmerz kennt.
Niemand hier kann mich verletzen. Ich bin unberührbar, unsterblich. Meine Macht besiegt alles, sogar den Hass, sogar den Tod.
Nach Stunden, wenn ich aus dem Chat auftauche, zurückgehe in meine Welt, muß ich mich erst orientieren, um zu wissen, wer ich bin.
Inge, fällt es mir langsam ein. Angestellte in einer großen Firma. Derzeit beurlaubt.
Krank. Aber das Wort lasse ich kaum heran an mich. Wehre mich gegen seine Bedeutung, summe vor mich hin, um meine Gedanken zu betrügen.
Todkrank. Murmelt es unaufhaltsam in meinem Ohr. Todgeweiht, dem Untergang verschrieben.
Nein, rufe ich. Stummer Schrei aus vertrocknenden Lippen, lautlos verhallt er, ungehört.
Ich bin nicht Inge. Nur meine Hülle ist Inge, die Sterbende. Meine Seele ist die PrincessOfLove, die Unsterbliche, die Unvergängliche.
Ich liege im Bett. Offene Augen starren an tote Wände. Um mich herum ist Nacht, doch in mir herrscht Tag. Meine Sinne sind geschärft, ich kann nicht anders, muß denken, kann und darf nicht schlafen. Der Tod ist ein langer Schlaf, heißt es. Doch der Schlaf hat sich bereits verabschiedet von mir.
Drago: PrincessOfLove, bist Du da?
PrincessOfLove: Ja, mein Getreuer.
Drago: Wie lange noch wirst Du unter uns weilen, Gebieterin?
PrincessOfLove: Auf ewig, mein Held.
Drago: Nichts ist ewig, auch die Ewigkeit nicht.
PrincessOfLove: Eines schon: Die Vergänglichkeit.
Drago: Aber auch Du mußt Dich ihr untergeben, Prinzessin.
PrincessOfLove: Nein, denn ich gehöre ihr schon.
Stimmen.
Ich kann nichts sehen, weiß nicht, warum.
Wer seid ihr, Namenlose?
Eine Frau weint. Leise und unterdrückt, als solle es vor jemandem verborgen werden.
Vor mir? Aber warum denn? Ich weiß, daß mir nicht mehr zu helfen ist.
Wenn nur euer erbarmungsloses Mitleid nicht wäre!
Vieles wäre leichter zu ertragen!
Ich habe mir ein Modem gekauft, und ich nutze es mehr, als jeden anderen Gegenstand meiner Wohnung. Es ist meine letzte Verbindung nach außen. Zu Menschen, die mir nicht mitleidig, verweint und verlogen begegnen. Zu meinem Besten!
Drago: Du warst lange nicht hier, Prinzessin.
PrincessOfLove: Ich mußte eine wichtige Reise machen. die Grenzen meines Landes sichern. Fremde Völker sorgen dort für Aufruhr.
Drago: Und jetzt ist wieder alles im Lot, werte Herrin?
PrincessOfLove: Ich hoffe doch sehr, mein Verehrtester.
Galiath: Wollt Ihr darüber sprechen, Herrin?
PrincessOfLove: Nein, erster Hofweiser. Es ist nicht nötig, Vergangenes in Worte zu fassen.
Galiath: Warum nicht, Prinzessin?
PrincessOfLove: Sie ändern den Lauf der Zeiten nicht. Sie verändern lediglich ins Negative.
Drago: Erkläre Deine Worte, o Herrin, Dein niedriger Diener versteht nur des Ungebildeten Sprache!
PrincessOfLove: Geschehenes und Gefühltes sind unveränderbar. Man muß beides nehmen, wie es ist und darüber schweigen, wo es geht. Sonst wird ein Unheil geschehen.
Meine Kräfte schwinden zusehends. Ich kann mich kaum noch zwei Stunden am Tag auf den Beinen halten, doch ich will die Zeit nutzen, solange ich kann.
Mein Aussehen wird mir gleich, solange ich meinen Kontakt ins Net nicht verliere, solange ich dort noch die Herrscherin bin.
Ich bin nicht so töricht, Diktator zu spielen, meine Untertanen lieben mich für meine Nachsicht. Und sie kommen von überall her. Schnell hatte es sich herumgesprochen, daß der Chat eine Prinzessin hat.
Ich dagegen bin dankbar, daß keiner mich sieht.
Nachts wache ich schweißgebadet auf, sitze senkrecht im Bett, bevor ich "ich" denken kann.
Der Feind drängt wieder über die Grenze, ich muß mich eilen, eine Nachfolgerin zu finden. Mein Reich darf nicht verwahrlosen, wenn ich nicht mehr bin.
PrincessOfLove: Hört ihr mich, meine Getreuen?
Drago: Ich höre.
Galiath: Ich höre, Herrin.
Nadia: Auch ich bin hier, zu hören, was Du uns zu sagen hast.
Milenia: hier bin ich, Herrin.
PrincessOfLove: Ich habe euch wichtige Mitteilungen zu machen. Der Feind wird stärker und bedroht die Grenzen.
Nicht mehr lange werde ich alleine gegen ihn ankommen. Immer häufiger muß ich fern des Hofes weilen, um ihn zu bekämpfen.
Drago: Was ist Dein Befehl, Herrin?
PrincessOfLove: Ich erteile keine Befehle. Ich erbitte nur eines: wenn ich fortbleibe, so findet eine würdige Nachfolgerin. Unterzieht sie einem gründlichen Test, bevor sie mein Erbe antritt.
Milenia: Nie wirst Du fortgehen, Prinzessin. Nie!
PrincessOfLove: Ich wünschte, es wäre so. Doch der Feind ist mächtiger, als ich es je für möglich hielt.
Nadia: du bist stark, Prinzessin! Nichts kann Dich besiegen!
PrincessOfLove: Was gäbe ich für die Wahrheit Deiner Worte! Aber er ist mächtig, mächtiger, als ich es je war und mächtiger, als ich es je sein kann.
Galiath: Wie können wir Euch helfen?
PrincessOfLove: Befolgt meine Bitte, das ist alles, was ihr für mich tun könnt.
Ich sterbe.
Ich kann meine Augen nicht länger davor verschließen. Die Wahrheit ist bitter, doch erträglicher als die Lüge.
Die Menschen um mich herum haben dies noch nicht verstanden. Sie weinen um mich, wenn sie allein sind und machen glückliche Gesichter, wenn sie mich sehen.
Alles wird gut! lautet ihre Botschaft, doch die Lüge grinst hinter ihr hervor. Ich kann nicht mehr glauben, was sie sagen und will es nicht mehr.
Was mich am Leben erhält, ist der Chat, ist mein Reich. Nicht die Medikamente, die sie mir geben.
Sie glauben an deren Macht. Ich lasse ihnen ihren Glauben.
Ach, wenn sie wüßten, wie kindlich sie sind! So unberührt von der Macht des Todes, so unschuldig in ihrer Naivität!
Ich kann kaum noch gehen, brauche eine halbe Stunde vom Bett zu meinem Rechner, aber ich halte durch.
Niemand hält mich von dort fern, auch meine Ärzte nicht.
Gerade die nicht.
PrincessOfLove: Ist jemand da, der etwas Spaß genießen will?
Twentysomething: Ja, immer! Wie alt bist Du?
PrincessOfLove: Das tut nichts zur Sache. Spaß ist altersunabhängig.
Twentysomething: Okay. Willst Du nur reden oder mehr?
PrincessOfLove: Ich will alles! Geredet habe ich genug im Leben.
Twentysomething: Gut! Aber nicht hier, laß uns ins Séparée gehen!
PrincessOfLove: Auch das ist mir gleich. Ich nehme auch mit dem Küchentisch auf einer vollen Party vorlieb!
Twentysomething: Du scheinst es ja richtig nötig zu haben! Du machst mich scharf...
Ich liege auf der Station. Nie wollte ich ins Krankenhaus, habe mich immer gewehrt. Jetzt hatte ich keine Wahl mehr. Ich bin zusammengebrochen, über dem Rechner.
Ich habe hier solange einen Aufstand inszeniert, bis ich einen Laptop mit Modem bekam. Jetzt kann ich meine letzten Besuche machen, bis ich von der Krankheit geholt werde.
Die Nächte sind noch unheilvoller geworden. Keine von ihnen schlafe ich durch, immer wache ich schweißgebadet auf, sitze senkrecht im Bett, bekomme keine Luft.
Immer zur selben Zeit.
Wann endlich wird es vorbei sein?
Nur meine Freunde im Net halten mich am Leben.
Sie sind so unwissend, halten mich immernoch für eine strahlende Schönheit, loben meinen Witz, meinen Charme, meine geistige Schärfe.
Sie wissen nicht, daß sie mit einem Wrack kommunizieren.
Mit einer Lüge.
Ja: Ich bin eine lebende Lüge! Aber wer unterhält sich schon gerne mit einer Toten?
Twentysomething: Hey, Prinzessin, Lust auf eine Nummer?
PrincessOfLove: Ja, klar!
Twentysomething: Aber nicht hier. Ich will dich sehen. Die Frau, die wirklich hinter der Prinzessin steckt, hörst Du?
PrincessOfLove schüttelt entschieden den Kopf
Twentysomething: Warum nicht? Du gefällst mir. Warum sollten wir uns nicht treffen?
PrincessOfLove: Weil ich so gut wie tot bin.
Twentysomething: Guter Trick! Muß ich mir merken!
PrincessOfLove: Ich bin im Krankenhaus. Mein Name ist Inge. Du kannst mich besuchen, wenn Du willst. Aber beeile dich. Mir bleibt nicht mehr vie Zeit.
Twentysomething verläßt den Channel
Ich werde den nächsten Morgen nicht mehr erleben.
Aber ich werde die Klingel nicht benutzen, wie stark auch immer meine Schmerzen sein werden. Ich will im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte, wie es so schön heißt, meinen Tod abwarten.
Ich kann doch das einmaligste Erlebnis meines Lebens nicht einfach verschlafen!
EPILOG:
Drago: PrincessOfLove, bist Du da?
Chatmaster: "PrincessOfLove" kenne ich nicht