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Fasching im Heim
Fasching im Heim
Anlässlich der Rosenmontagsfeier im Altenstift zu Borsdorf war die Hölle los. Einige der alten Zausel kamen als Piraten, Cowboys oder Prinzessinnen verkleidet, und denen, die nicht mehr so mobil waren, wurden von den Pflegern liebevoll eigenhändig hergestellte Papphütchen auf den Kopf gesetzt oder mit Papierschlangen die Rollstühle verschönert. Alle freuten sich auf den Rosenmontagsumzug durch die Gänge des Altenstifts, der dann in einem gepflegten Faschingstänzchen im Speisesaal seinen Ausklang finden sollte.
Als sich der Festzug im Speisesaal einfand, waren die meisten schon etwas malad, was sie aber nicht davon abhielt, zu Humppa und Täterä das Tanzbein zu schwingen.
„Wie wär’s mit einem Bier?“, fragte Frau Meier, 95, ihren Sitznachbarn.
„Aber Sie wissen doch, dass uns das gleich wieder abgenommen wird.“
Ein Pfleger lauschte der Unterhaltung und mischte sich sofort ein.
„Na, Oma Lise, wir werden doch heute wohl nicht schon wieder zur Flasche greifen, oder?“ Er tätschelte Frau Meiers Wange mit dem Fingerrücken und grinste ihr ins Gesicht.
„Leck mich!“
„Oh, oh, oh, wir möchten wohl heute wieder fixiert werden?“
Frau Meier zeigte dem Pfleger den Mittelfinger und wurde auch prompt abgeführt.
Die Pfleger führten ein strenges Regime, denn es galt den letzten Platz auf der Liste der nicht altersbedingten Todesfälle zu verteidigen. Deswegen mussten die Heimbewohner auch manchmal mit Gewalt davon abgehalten werden, sich legale oder illegale Substanzen einzuverleiben. Dazu hatte man extra beim Land Fördermittel zur Installation eines lückenlosen Überwachungsapparates beantragt, welche dann auch unter Berücksichtigung der Mentalität und Disziplin der Insassen sofort genehmigt wurden.
Der Pfleger am allwissenden Auge saß gelangweilt vor seinen Monitoren, als sich die Zwillinge Erwin und Heinz Sielke, 87, unerlaubt vom Rosenmontagstanz entfernten. Dank des lückenlosen Überwachungssystems konnte man den Weg der beiden verfolgen, der direkt auf das Klo führte. Als der Pfleger beobachtete, wie einer der beiden an einem jointähnlichen Gebilde zog und Rauch ausatmete, schlug er Alarm. Die Musik stoppte. Sofort wurden die Ein- und Ausgangtüren automatisch verriegelt, sämtliche Gänge beleuchtet und die außen gelegenen Suchscheinwerfer eingeschaltet. Von draußen hörten man Hundegebell und einen herannahenden Helikopter. Sie wurden im Speisesaal der Oberschwester vorgeführt. Eine kurze Handbewegung von Oberschwester Gertrud und für die Herren Sielke war die Party vorbei.
„Fixierbett, alle beide!“
Und so traten Erwin und Heinz Sielke ihre Fixierhaft an. Die Heimbewohner sahen stumm auf die Oberschwester. Mit einem Fingerschnipsen deutete sie einem der Pfleger, er solle die Musik wieder anstellen. Die Hunde und der Helikopter zogen ab, das Humppa und das Täterä wurden wieder auf maximale Lautstärke gestellt, einige Paare tanzten weiter, andere begaben sich aus Protest wieder auf ihre Plätze. Die Stimmung war aufgeheizt, und die Pflegschaft bemerkte nicht, dass sie die Lunte des Pulverfasses, auf dem sie saßen bereits angezündet hatten.
Auf der Tanzfläche war die Stimmung hoch erotisch. Der doppelt beinamputierte Ewald Kralitschek, 93, dirigierte seinen Rollsstuhl kunstvoll durch die tanzenden Pärchen und verteilte Klapse auf die Hinterteile der weiblichen Insassen. Den Pflegern ging das offenbar zu weit, man wollte ja nicht, dass eine Erektion Herrn Kralitscheks angeblich so gestörten Blutkreislauf durcheinander bringt.
Herr Kralitschek bemerkte bei seinem Rollstuhlkorso nicht, dass zwei Pfleger dabei waren, ihn in die Zange zu nehmen.
„Sieh mal, Opi Ewald konnte mal wieder seinen Stuhl nicht zurückhalten“, feixte der eine Pfleger zum anderen.
„Aber ich hab’ doch gar nicht … " Herr Kralitschek konnte seinen Satz nicht beenden. Schnurstracks wurde er aus dem Saal buchsiert. Die Stimmung war nun endgültig im Eimer. Kein Humppa und kein Täterä konnte mehr ein Lächeln auf die Gesichter der Heimbewohner bringen.
Die Musik wurde gestoppt. Totenstille im Saal, nur im Hintergrund konnte man noch Herrn Kralitscheks wimmernde Rufe vernehmen. Verhasste Blicke trafen die Pflegschaft wie Messerstiche. Oberschwester Gertrud übernahm das Wort.
„So, nun wollen wir uns aufs Abendessen vorbereiten, geht jetzt auf Eure Zimmer und wartet, bis die Abendglocke läutet.“
Keiner leistete den Anweisungen Folge.
„Habt Ihr nicht gehört? Wir werden Euch den Nachtisch streichen!“
Herr Wittkowski, 82, erhob sich langsam.
„Ich glaube, ich spreche im Namen aller Bewohner, wenn ich sage, wir hören ab jetzt anständige Musik, und das bis zum Ende, und zwar mit Frau Meier, Herrn Kralitschek und den Zwillingen.“
Herr Wittkowski erntete frenetischen Applaus. Doch mit einem schrillen Pfiff aus der Trillerpfeife brach der Applaus abrupt ab.
Eine kurze Handbewegung von Oberschwester Gertrud, und zwei stämmige Pfleger bewegten sich auf Herrn Wittkowski zu, um ihn in Fixierhaft zu nehmen. Von rechts und links stürmten sie auf ihn zu und hatten die Arme bereits ausgestreckt, da wurde dem einen unvermittelt ein Bein gestellt. Einer der Pfleger fiel direkt aufs Gesicht. Während der andere verdutzt stehen blieb, kam mit hoher Geschwindigkeit ein Rollstuhl von hinten angesaust und brachte auch den zweiten Pfleger zu Fall. Oberschwester Gertrud stand mit offenem Mund da.
„REVOLUTIOOOON!“, brüllte jemand, und noch bevor die Oberschwester oder einer der Pfleger reagieren konnte, sprangen die Rüstigsten unter den Alten auf und stürzten sich auf die Pflegschaft. Zwei steuerten mit ihren elektrisch angetriebenen Rollstühlen direkt auf die Oberschwester zu. Sie wollte noch fliehen, wurde aber unter jämmerlichem Geschrei niedergerissen und gerädert. Es wurde mit Krücken geprügelt, mit Kathetern gepeitscht und mit Rollstühlen gejagt.
Nach einem halbstündigen Scharmützel war die Pflegschaft überwältigt, gefesselt und geknebelt. Der Pfleger im Überwachungsraum starrte angstvoll auf seine Monitore, von denen einer nach dem anderen ausfiel. Gerade sah er auf dem letzten noch funktionierenden Monitor eine Gestalt auf die Kamera zu kommen und den Stinkefinger zeigen, da fiel auch dieser aus.
Der greise Mob randalierte weiter durch die Gänge des Altenstifts, überwältigte noch übrig gebliebene Pfleger und befreite die Frau Meier, Herrn Kralitschek und die Zwillinge aus der Fixierhaft. Die Eingangstür wurde verrammelt und der Speisesaal zum Hauptquartier umfunktioniert.
Nachdem etwas Ruhe eingekehrt war, traute sich der Überwachungspfleger vor die Tür. Niemand war zu sehen. Die Gänge waren leer, nur aus dem Speisesaal konnte man Siegesgeschrei vernehmen. Der Überwachungspfleger tastete sich vorsichtig in Richtung Ausgang. Ein paar Meter davor spurtete der Pfleger los, riss die Eingangstür auf und rannte ins Freie. Er rannte, als ob der Gehörnte persönlich hinter ihm her wäre.
Währenddessen tobte im Speisesaal eine Siegesfeier. Das Humppa und das Täterä wurden durch beinharten Rock’n Roll ersetzt, der Fusel aus dem Geheimfach der Oberschwester floss in Strömen.
Eine halbe Stunde später bemerkte einer der Feiernden, dass sich ein Streifenwagen dem Gebäude näherte. Die Musik stoppte, und man beobachtete durch die Fenster gespannt das Treiben draußen vor dem Heim. Zwei Polizisten stiegen aus dem Streifenwagen und gingen auf die Eingangstür zu. Die Zwillinge wurden mit Verstärkung zur Eingangshalle geschickt, um die Polizisten zu begrüßen. Mit freundlichem Lächeln wurden sie von Erwin und Heinz Sielke, 87, empfangen. Die Polizisten hatten kaum die Eingangshalle betreten, da stürmten sechs weitere Rentner auf die beiden Polizisten zu und rissen sie zu Boden. Sie wurden gefesselt, geknebelt und zu den Pflegern gesteckt. Die Siegesparty ging weiter.
Eine weitere halbe Stunde später bewegten sich eine Hundertschaft Polizei, jede Menge Journalisten und Schaulustige auf den Altenstift zu.
„Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei! Sie sind umstellt. Wenn sie freiwillig Ihre Geiseln freilassen, wird Ihnen Strafmilderung zugesichert!“
Einige Minuten lang war alles still. Als Herr Wittkowski am Fenster erschien, brachten sich die Scharfschützen in Stellung.
„Wir werden nur mit einem Journalisten verhandeln!“, rief Herr Wittkowski aus dem Fenster und schloss es dann gleich wieder.
Im Krisenstab einigte man sich schließlich einen Journalisten rein zu schicken, um über Forderungen zu verhandeln.
Als der auserwählte Journalist die Vorhalle betrat, bot sich ihm ein Bild des Schreckens. Tische und Stühle lagen um, überall Glasscherben, und auf dem weg zum Speisesaal lagen geknebelte Pfleger mit ihren Bewachern. Am Eingang des Speisesaals deutet man ihm, dass er jetzt zum Anführer vor gelassen wird. Er bewegte sich durch einen Pulk verwegen aussehender, bis an die Zähne bewaffneter Kämpfer mit Stirnbändern und bemalten Gesichtern, denen Wut und Verbitterung ins Gesicht geschrieben standen. Langsam öffnete sich der Pulk vor ihm wie ein Vorhang. Schließlich stand er vor einem Rollstuhl, der von zwei Männern mit Gartenäxten bewacht wurde. Auf dem Rollsstuhl saß der Anführer der Randale, der doppelt beinamputierte Ewald Kralitschek. Die blau-weiße Kriegsbemalung erinnerte an die legendären Kelten, die einst dem großen Julius Caesar in Britannien das Fürchten lehrten.
Gerade wollte der Journalist in die Jackentasche greifen und Block und Bleistift herausholen, da verspürte er einen festen Griff um den Brustkorb und ein zerschlagenes, zur Waffe umfunktioniertes Glasurinal an seiner Halsschlagader.
Der alte Kralitschek fing mit düsterer Stimme langsam an zu sprechen.
„Ich habe das Grauen gesehen, und ihr sitzt draußen in euren BMWs und schaukelt euch die Eier. Ihr habt den Respekt vor dem Alter verloren. Wo ist Euer Respekt geblieben? Frag’ das die Leute da draußen und schreibe im nächsten Borsdorfer Anzeiger einen Artikel darüber.“
„Aber ich bin doch beim Spiegel!“
Der Griff um den Brustkorb des Journalisten wurde fester, und einige der Guerilleros hielt ihm scharf geschliffenen Bettpfannen und angespitzte Besenstiele unter die Nase.
„Schweig! Wir wollen besseres Essen, menschenwürdige Behandlung, Aufhebung des Alkoholverbots, Kabelfernsehen, und wenn jemand von uns in Würde abtreten will, dann soll man ihn verdammt noch mal lassen. Kein Humppa mehr, und vor allem kein Täterä. Wir wollen anständige Musik. Und wir fordern Respekt! … Und jetzt gibt es hier kein Geschäft mehr für dich zu erledigen, Schreiber.“
Mit diesen Worten löste sich der Griff um den Journalisten und er wurde nach draußen geführt.
Als der Journalist die rettende Polizeisperre erreichte, brach er weinend zusammen. Die Sanitäter und ein Polizeiseelsorger nahmen sich sofort des völlig verstörten Schreiberlings an. Es bedurfte einiger Mühe, ihn ruhig zu stellen. Der Journalist konnte dennoch die Forderung übermitteln.
Der Krisenstab kam zu dem Entschluss, das Gebäude zu stürmen. Die Forderungen durften auf keinen Fall erfüllt werden, schließlich darf der Staat nicht erpressbar sein. Zehn Stunden und einige harte Gefechte später war das Gebäude von Spezialeinheiten der GSG 9 eingenommen und die Rädelsführer festgenommen. Viele GSG-9-Beamte erlitten Verletzungen. Die Geiseln kamen mit vollen Hosen und dem Schrecken davon.
Tage später veröffentlichte der Spiegel einen Artikel über die Zustände in deutschen Altersheimen. Ein Aufschrei der Empörung ging durch die Republik. Es wurde sofort eine Bundestagssitzung zur Erhöhung der Renten einberufen, welche aber bis zum heutigen Tage noch keine nennenswerten Veränderungen gebracht hat. Auf Grund des Alters der Aufständischen fielen die Strafen recht milde aus. Ewald Kralitschek, Herr Wittkowski und die Zwillinge bekamen zwei Jahre auf Bewährung. Die Pflegschaft samt Oberschwester Gertrud wurden als Wachpersonal dem ersten deutschen Bootcamp in Magdeburg-Olvenstedt zugeteilt. Ein einflussreicher und finanziell gut bemittelter Industrieller finanzierte den Ausbau des Altenstiftes zu Borsdorf und sorgte für eine angenehme Atmosphäre. Seit dem versammelt sich jedes Jahr die komplette Dorfgemeinschaft im Altenstift und feiert die bis über die Landesgrenzen hinaus berühmt-berüchtigten Faschingumzüge durch den Speisesaal.