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Fantastisch
Der Mensch ist schwach und klein, nun sieh das doch ein. Allein die Empfindung macht alles groß.
Ich weiß, Menschenkinder, ich weiß, der erste Satz muss ein langer sein, und sprachlich am besten wie aus einem Sachbuch genommen. Will man an die Gefühle des Lesers, so muss man sachlich schreiben, rein und klar. Ganz ohne eigene Empfindug. Bei diesem Papierchen verhält es sich anders: hier empfindet der Schreiber und dem Leser bleibt die sachliche Betrachtung.
Wenn ich leben könnt, Leute, ich tät´s. Ich würd euch nicht unterhalten mit Berichten über bereits Erlebtes. Nein, ich schriebe nicht, ich lebte weiter.
Aber meine Erinnerung lässt mich wissen, dass ich niemals erlebte, alles immer nur erträumte oder wenn nicht im Halbschlaf erträumte, so doch nur erahnte. Ich spürte nie Begierde, erahnte nur, was es wohl sei. Wäre ich ein Mann geworden, wäre das wohl anders. Männer müssen leben und erahnen es nicht, sie erahnen ihre Erregung nicht, sie wird handfest. Anders funktioniert es bei ihnen nicht.
In meinem Leben war nie etwas handfest. Und ich rede nicht von Erotik. Ich rede vom Ganzen und von jeder Kleinigkeit, ich rede von allem. Keine Situation, die ich erinnere, in der ich nicht zu mir selbst hätte sagen können, warum siehst du das alles jetzt so und so, du könntest es doch auch ganz anders sehen. Und zu oft machte ich Gebrauch davon. So log ich als Kind schon bei jeder Kleinigkeit ohne rot zu werden, fühlte mich dabei vielmehr wie ein artiges Mädchen, wenn ich das so wollte. Ich dachte damals, wenn das geht, wenn das funktioniert, dass ich mich bei eigentlich schlimmen Dingen wie ein braves Kind fühle, dann bin ich es auch, dann werde nicht ich als Mensch schlecht, sondern das Vergehen wird dadurch gut, sozusagen gereinigt und ist kein Vergehen mehr. Ich begann zu stehlen überall, das heißt überall dort, wo eine Vielzahl an Tätern in Frage kam - und ich stahl mit dem lieblichsten Lächeln um den Mund. Bis heute kam man nie auf mich.
Hatte ich in der Schule keine Hausaufgaben, so hatte ich kein schlechtes Gewissen, sondern fühlte mich wie ein Star. Freute mich schon vorher auf den Moment, an dem der Lehrer die Aufgaben überprüfen und bei mir auf ein leeres Blatt stoßen würde. Ich entschuldige mich dann nie oder rechtfertigte mich etwa, ich sagte im schönsten Gefühl des Star-Seins irgendeinen Nonsense wie, "Sie verstehen" oder etwa "Herr Paluscke hat Ihnen sicher Bescheid gesagt". Und immer, wirklich immer kam man mit so etwas durch. Bedauerlicherweise. Hätte gern eine Rückmeldung gehabt, um weiter an mir zu proben, wie weit man seine Empfindungen in Situationen verdrehen kann. Aber es kam nichts. Als ich eines Tages mir im Deutschunterricht eine Zigarette ansteckte und genüßlich quatzte und in dem Moment als es dem Lehrer auffiel, mich meldete, um ein Statement zum Unterricht abzugeben, tat er aus irgendeinem Grunde so als ob nichts sei, führte seinen Unterricht weiter und ließ mich zu Ende qualmen.
Gut, es ging mir nie um die Provokation an sich, nie um die äußere Situation, sondern darum, was ich dachte, was mich normalerweise an Gefühlen erwarten würde und wie ich das am besten in der Empfindung umkehren könnte. Rückblickend frage ich mich, warum ich nie was Großes tat, was Politisches, etwas Bleibendes, etwas, was der Welt oder meinem eigenen Leben nützte. Der Grund dafür ist ganz einfach: Ich kam nicht drauf. Ich kam ganz einfach nicht drauf. Und ich kam nicht drauf, weil mich die äußeren Dinge nie interessierten, sie interessierten mich immer nur für meine Empfindung und da ausschließlich unter besonderer Berücksichtigung einer Verdrehung. So hatte ich bis heute keinen Orgasmus oder ein erotisches Gefühl beim Sex mit einem Manne. Ich werde nicht mal feucht. Lasse mich mit Gewalt nehmen und mein Genuss daran ist, dass in einer Situation, wo man Leid und Angst und Schmerz empfinden müsste, ich nur Langeweile fühle und zur Verwunderung der Männer auch einen ebensolchen Gesichtsausdruck habe. Sicher könnte ich auch Lust dabei empfinden, wenn ich wollte, doch pervers wollte ich nie gelten. Außerdem könnte ich mich dann auch an normalem Sex erfreuen, ginge es mir darum. Aber wie gesagt, darum geht es mir ja gerade nicht.
Ich erwarte nicht, dass ihr mich verstehen werdet. Wie auch. Es ist das erste Mal, dass ich mich offen darüber äußere. Ich habe es verlernt, etwas so zu sagen, wie man es meint, weil es einem ein bestimmtes Bedürfnis ist. Ich habe ja immer alles verdreht. Und nun, wo ich eigentlich zum Schluss kommen wollte, weiß ich schon nicht mehr, welche Empfindung mich am Anfang dazu trieb, dies zu schreiben. Ich spüre nur, welche Freude es mir bereitet, zum ersten Mal davon zu erzählen. Und schon zwinge ich mich wieder zu einem Dreher, zwinge mich zur Freude darüber, abzubrechen, was ich doch eigentlich fortsetzen möchte. Vielleicht ist es auch nur der unbedingte Wille unabhängig von allem zu sein. Was soll´s: Es funktioniert. Empfindung gut, alles gut.