Fantasie
Immer wieder hörte ich die Menschen sagen: "Nimm dir das Leben nicht so zu Herzen!" oder: "Hey, das passiert doch Tag für Tag!"
Das sagten die Menschen immer wieder zu mir, wenn ich anfing, über das Alltägliche nachzudenken. Das Alltägliche kann nämlich schmerzlich werden, wenn man beginnt, sich darüber Gedanken zu machen.
Und die Menschen mögen Schmerzen nicht. Es ist einfacher, die Augen zu zu lassen, dann erspart man sich den Wandel, der beginnen muss, wenn man sehend wird.
Doch sie ersparen sich dadurch nicht nur Schmerzen, sondern fügen mir eben solche zu. Ich kann nicht sprechen über das, was in mir diese Welt empfindet. Sensibel nennen sie mich mit einem lachhaften Unterton in der Stimme, zu sensibel- als ob das irgendeine Krankheit wäre.
Also setzte ich mich hin und schreibe. Schreibe Texte über diese Welt, in der ich lebe. Lebe mich aus beim Schreiben. Es entstehen neue Welten aus der alten Welt, Erzählungen mit Hilfe der Fantasie.
Was die Menschen bei mir sensibel nennen, ist in Wirklichkeit die Fantasie, die sie nicht mehr spüren. Die Fantasie ist es, die ich empfinde, wenn ich in die Realität der Welt da draußen blicke, meine Fühler ausfahre, die nach dem Besonderem im Alltag suchen.
Sie ist mir zum Wegbegleiter geworden, einer Freundin, mit der ich alles erleben, mit der ich herumspinnen oder mir tolle Geschichten ausdenken kann.
Mit ihr zu leben bereitet mir Freude. Sie hört mir immer zu, auch wenn es nicht um wilde Parties, Beziehungskisten, Intrigen und Erlebnisse mit Freunden, die neueste Mode oder Stefan Raab geht.
Doch der Preis, mit ihr befreundet zu sein, ist hoch.
Sie ist zu individuell, um in einer Gruppe existieren zu können, zu einzigartig, als dass sie kollektiviert werden könnte.
Sie macht einsam und vielseitig zugleich.
Durch sie wird man fühlend. Und fühlend zu werden ist schwer, wenn man sich irgendwann entschlossen hat, den Weg des Erwachsenwerdens zu gehen, seine Gefühle der Realität unterzuordnen.
Da war das Massaker von Erfurt.
Eine von vielen Nachrichten, die bald wieder vergessen sein würden. Ich sprach darüber, fragte, was wohl gewesen wäre, wenn dieses Ereignis an unserer Schule passiert wäre. Man machte sich keine Gedanken darum. Schließlich passierte es weit weg.
Doch die Fantasie ließ es lebendig werden. Ich sah jemanden durch unsere Schule gehen und Menschen fallen.
"Nimm dir nicht alles so zu Herzen" hörte ich die Menschen sagen. Jaja, gut reden habt ihr. Suche ich mir es etwa aus, dass ich anders fühle als ihr?
Man tuschelte hinter meinem Rücken.
Jetzt kommen wieder die typischen Lästereien. Ach, wie oberflächlich der Mensch doch sein kann! Immer nach den selben Mustern handelnd. Ich nehme es ihnen nicht übel, nein. Es macht mich nur oft traurig, dass sie so sind, wie sie sind.
Dann entferne ich mich von ihnen, gehe in die Natur und lasse sie auf mich wirken. SIe ist der Kraftstoff der Fantasie, hier tankt sie Energie. In der Ruhe und der Langsamkeit der Wälder. Ja, Wälder... hier sprießt sie wie eine Blume im Frühling. Sätze beginnen, sich in meinem Kopf zu bilden, mit denen ich spiele, sie umwandle, neu konstruiere. Sie verknüpfen sich zu kleinen Geschichten. Der Wald wird zum Schauplatz einer neuen Erzählung, wird belebt in meiner Fantasie. Personen bekommen ihren Platz in ihm. Ein kindliches Spiel ist es, doch so gut tuend!
Ich gehe nach Hause, setzte mich hin, schreibe auf. Kreiere eine neue Erzählung.
Das Telefon klingelt. Es ist mein Freund. Ob ich heute Abend mit ihm in die Disko fahre?
Klar, ich stimme zu. Auch in der Disko ist Platz für Erlebnisse, ist mir mittlerweile klar geworden.
Langsam beginne ich zu begreifen, dass die Fantasie nicht abgrenzt, sondern ergänzt. Hat man sie, so muss man sich nicht vor dem Leben außerhalb des Kopfes verschließen, denn gerade da werden Türen geöffnet, hinter denen sich neue Welten erschließen lassen.
Ich bin froh, dieses erkannt zu haben. Der Schmerz löst sich auf, die Welt wird offener. Wahrscheinlich machte ich mir zuvor zu viele Gedanken, was alles passieren hätte können, anstatt hinaus zu gehen und es am eigenen Leib zu erfahren. Eine gute Erfahrung war das, zu erkennen, dass Fantasie und Wirklichkeit nebeneinader existieren können.