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Fantasias Sterne
Während ihr Vater am Kochen ist, schleicht sich Annia ins Wohnzimmer. Die Luft ist ihr etwas zu dicht. Sie öffnet ein Fenster. Auf dem Tisch liegt in völliger Unordnung die Zeitung. Annia hat sie am Morgen durchgeblättert.
Sie wischt sich eine Träne vom Gesicht. Dann bleibt sie stehen.
Ihr Vater ist noch immer in der Küche. Er schaltet Musik ein. Traurige Musik. Es riecht nach Spaghetti.
Annia hat keinen Hunger. Sie hat bei Maj-Britt gegessen. Die Musik kennt sie auswendig. Sie geht durch die Türe ins Arbeitszimmer. Der Computer ist noch eingeschaltet. Sie klickt auf die Internet-Verbindung. Die Musik wird lauter. In diesem Moment drückt Annia auf ‚Verbinden‘.
Sie gibt die Adresse einer Suchmaschine ein, leise tippt sie die Tasten.
Ein H.
Der Vater ist am Kochen.
Ein I und ein L.
Draussen wird es dunkel. Es ist noch nicht spät, aber Nebel verschluckt das Licht. Ein F. Annia fragt sich, warum sie das tut. Geht es ihr wirklich schlecht?
Sie hat geweint.
Ein E. Sie weiss nicht warum.
Suchen. Die Musik wird wieder leiser.
„Annia!“ Sie antwortet nicht.
Zu viele Ergebnisse. Sie fügt den Namen der Stadt hinzu. Diesmal sind es weit weniger Ergebnisse. Die ersten paar interessieren sie nicht. Sie drückt zufällig auf eine der weiteren Seiten. Ein Link scheint sie zu interessieren.
„Annia! Hast du das Fenster aufgemacht?“
Jedes Wort von ihm tönt wie ein Schrei und jeder Schrei schmerzt wie Glasscherben in ihrem Ohr. Sie muss sich beeilen. Er mag es nicht, wenn sie im Internet surft.
Annia klickt auf den gewünschten Link. Sie ist sicher, dass es der richtige ist – doch in diesem Moment stürzt der Computer ab.
Das Fenster ist weg, die Hilfe ist weg, die Hoffnung mit.
In der Küche hat ihr Vater die Musik ausgeschaltet. Mit lauten Schritten läuft er ins Wohnzimmer.
„Machst du jetzt endlich das Fenster zu, Annia?“, fragt er sie. Sein Blick wandert ins Arbeitszimmer, während Annia sich vom Computer entfernt. Sie antwortet nicht. Er deutet mit dem Finger hinter Annia. „Du warst am Computer!? Hab ich dir nicht gesagt, dass du mich zuerst fragen solltest?“
Annia sieht seinen Zorn im Gesicht geschrieben. Ihr Vater hat Angst, dass sie zu viel Kontakt mit der Aussenwelt hat. Schnell eilt sie an ihm vorbei ins Wohnzimmer, um das Fenster zu schliessen. Es ist tatsächlich etwas kalt. Draussen sieht der Nebel noch dichter aus, was daran liegt, dass die Dunkelheit hereinbricht – und das Haus zu einem Gefängnis macht.
Während sie das Fenster schliesst, bilden sich Eiskristalle auf der Scheibe. Annia blinzelt. „Die waren schon vorhin da, doch nun sehe ich sie, weil das Licht anders wirkt!“, denkt sie sich.
Die Eisblumen sind wunderschön. Einen Moment lang spürt sie so etwas wie Glück. Behutsam streift sie mit dem Finger über diese natürlichen Kunstwerke. Sie hört ihren Vater nicht, der sie fragt, was los ist. Erfrischend kühle Ströme fliessen von ihrem Zeigefinger aus durch ihren Körper. Sie hält ihn an einer Stelle fest. Als sie ihn wieder zurückzieht, ist ein kleiner runder Kreis in den Blumen geschmolzen. Annia lächelt. Erneut legt sie fünf Finger auf die Scheibe. Kleine Tropfen Wasser gleiten leise die Scheibe hinunter. Der erste Tropfen teilt sich, die eine Hälfte fliesst geradeaus, die andere schlägt ihren Weg weiter rechts ein. Ähnliches geschieht mit den anderen Tropfen. Manche zeichnen ihre Spur auf der Scheibe in einem Bogen, andere in einem Zickzack-Manöver.
Fassungslos blickt Annia auf die Scheibe. Plötzlich steht ein Wort geschrieben. Ein Wort, das sie vor keinen zehn Minuten flüchtig gesehen hat, lange genug, um es in ihr passives Gedächtnis aufzunehmen.
In grossen Lettern hat sich NOVRAK in das natürliche Prachtwerk des Frostes eingeschmolzen. Annia schliesst das Fenster und wendet sich. Hinter ihr steht ihr Vater.
„Eis... Eiskristalle... wunderschön.“, stammelt sie.
„Wo zum Teufel siehst du Eiskristalle? Hast du gekifft? Ich habe dir gesagt, du sollst das Fenster zumachen und nicht herumphantasieren! Ich möchte gerne wissen, was du immer bei Maj-Britt tust! Aber jetzt wird aufgetischt!“
„Papa, Maj-Britt ist meine beste Freundin und ich war ganz einfach bei ihr zu Hause! Aber keine Angst, es wären sicher nicht ihre Eltern, die uns alles machen liessen. Sind nämlich ein kleines bisschen konservativ... Weshalb muss ich auftischen?"
"Weil ich essen will und schon gekocht habe. Deshalb."
"Ja, aber ich esse doch gar nicht mit!“
„Ja und?!“
„Okay, okay. Grosszügig, wie ich bin tische ich dir auf, aber danach gehe ich zu Maj-Britt!"
*
Maj-Britt sitzt auf einer Bank im kleinen Park. Sie bezweifelt, dass ihre beste Freundin noch wie vereinbart erscheinen wird. Bei Annia hat sich die Situation in der letzten Zeit zugespitzt. Während Maj-Britt sich wehmütig an die Zeit erinnert, als Annia humorvoll und fröhlich die Welt anstrahlte, weiss sie heute nicht mehr, wann sie ihre Freundin zum letzten Mal glücklich gesehen hat. Seit ihrer süssen Kindheit scheint sich vieles verändert zu haben. Annias Vater ist schon immer konservativ gewesen, wie Majs Eltern auch, aber irgend etwas macht ihrer Freundin in der letzten Zeit sehr zu schaffen.
Annia will oft mit ihr sprechen, doch sie weiss nie worüber. Maj-Britt liebt ihre beste Freundin noch immer und sie ist bereit alles zu tun, um ihr zu helfen.
Annia hat zu ganz anderen Zeiten ihrerseits Maj-Britt geholfen und diese Tatsache allein führt Maj dazu, sich ewig mit Annia verbunden zu fühlen, egal wie traurig ihr Gesicht ist. Selbst wenn es traurig ist, ist es irgendwie hübsch, freundlich und hat den angenehmen Nachgeschmack der Gerechtigkeit. Doch nun ist es an ihr, Annia zu trösten, wie auch immer das möglich sein würde.
Maj-Britt will gerade aufstehen und eine kleine Tour um Annias Haus machen, als die leise, wohl bekannte Stimme nach ihr ruft. So hält sie inne und dreht ihren Kopf in die Richtung, so weit, wie es geht, ohne sich gross zu bewegen. Dann blickt sie lächelnd in ein Gesicht, das voller Tränen ist. Doch anders hätte sie es gar nicht mehr zu hoffen gewagt.
„Annia, du hast es geschafft! Hat er dich gehen lassen?“ Maj-Britt dreht sich nun ganz in die Richtung der eben angekommenen Freundin und nimmt deren zitternde Hand: „Komm, setz dich neben mich, Annia.“, dann hält Maj-Britt inne. Kurze Zeit ist es still. Schliesslich fragt sie ihre Freundin: „Was ist in letzter Zeit eigentlich los mit dir? Du kannst es mir erzählen. Du musst aber nicht, wenn du nicht möchtest... oder nicht kannst.“
Zögernd setzt sich Annia neben ihre Freundin. Dann aber lässt sie sich in ihr Schoss fallen.
„Maj, du bist so lieb, Maj-Britt, was wäre ich ohne dich?“, flüstert sie.
„Annia, ich glaube diese Frage kann ich umkehren.“, sanft fährt Maj mit der Hand durch die schwarzen Haare ihrer Freundin.
„Maj, was war Novrak schon wieder? Weisst du das?“ Annias Augen sind plötzlich weit offen. Sie formt das Wort nochmals sachte mit ihren Lippen und lässt es leise entgleiten, als hätte es eine heilige Bedeutung. Gespannt blickt sie Maj-Britt ins Gesicht.
„Wie kommst du auf... das Haus? Ist es nicht abgerissen worden?“
„Kann nicht sein, das Haus muss stehen!“, erwidert Annia. Maj-Britt blickt ihrer Freundin verwirrt ins Gesicht. In letzter Zeit hat sie oft nur gejammert und plötzlich erzählt sie scheinbar begeistert etwas von einem Haus, das es nicht mehr gibt.
„Wieso muss es stehen? Das war ja noch ein Jahr bevor wir zum ersten Mal die herrliche Luft dieser bewundernswerten Stadt atmeten, dass es abgerissen werden musste. Vor mehr als siebzehn Jahren. Also du meinst schon das ehemalige Touristen- und Reisebüro?“
„Ja, das meine ich. Vielleicht.“
Es beginnt zu schneien. Dicke, leichte Flocken. Maj-Britt zieht sich ihre Kapuze über den Kopf. Sie deutet auf Annias dünne Jacke und fragt, ob sie es denn damit nicht zu kalt habe. Annia bemerkt ihre Frage gar nicht. Sie versucht sich an den Platz zu erinnern, wo mal das Novrak-Gebäude gestanden hat.
Plötzlich fasst sie ihre Freundin an der Schulter und schüttelt sie. Ihre Augen scheinen dabei vor Glück beinahe zu leuchten.
„Maj-Britt! Kommst du mit? Ich glaube es gibt auch ein neues Novrak! Du weisst, dieses kleine gelbe Haus mit dem recht grossen Garten.“
„Wenn du willst komme ich mit, aber erkläre mir bitte noch weshalb. Dort gibt es ein Gebäude, aber es ist nicht die Novrak, nicht dass du nachher enttäuscht bist.“ Annia steht auf und reicht ihrer Freundin die Hand:
„Maj, du bist so lieb, Maj-Britt, was wäre ich ohne dich? Seit heute habe ich neue Hoffnung. Es ist wirr, ich weiss, aber in meinem Kopf erzählt mir eine Stimme von Fantasia, einem Ort, an dem jeder richtig ist, der Hilfe benötigt, selbst wenn er nicht weiss warum – ich will wissen, was es damit auf sich hat und ich bin überzeugt, dass es Novrak gibt, weil ich das Fenster gesehen habe.“
„Welches Fenster?“
„Zu Hause habe ich meine Finger auf die Fensterscheibe gepresst. Und dann stand plötzlich NOVRAK drauf. Mein Vater hat aber nichts gesehen. Nicht einmal die Eiskristalle. Ich weiss aber von Fantasia. Als wäre ich schon einmal dort gewesen. Aber das alles ist krank, Maj. Wahrscheinlich träume ich. Wahrscheinlich werde ich langsam verrückt.“
Maj-Britt nimmt die gebotene Hand und lässt sich hochziehen. Auf dem Boden hat sich eine kleine Schicht Schnee angesammelt. Sogar ihr ist es ein wenig kalt, obwohl sie äusserst grosszügig eingekleidet ist. Sie wiederholt ihre Frage:
„Ist dir denn nicht kalt?“
„Nein, mir war selten so warm, aber danke!“
Verwundert blickt Maj ihre Freundin an: Annia steckt so voller Hoffnung und Glück, dass ihr selbst die Kälte nichts mehr auszumachen scheint.
Annia spürt den Blick auf sich ruhen und ihre Mundwinkel formen sich zu einem dünnen Lächeln.
Sie zittert vor Kälte.
Da begreift Maj-Britt, dass sie auf den Arm genommen wurde. Sie will die Gelegenheit fassen, Annia endlich wieder einmal zum Lachen zu bringen und lacht daher selbst. Fast gelingt es ihr, ihre beste Freundin mitzureissen, doch schliesslich weicht Annia dem Drang aus. Ihr Lächeln wird zu einem unterdrückten Lachen mit zusammengepressten Lippen. Dafür aber legt sie einen Arm um Maj-Britt, die ihrerseits Annia bei der Schulter festhält. Auf der anderen Seite des kleinen Parks winkt ihnen ein Penner mit einer leeren Flasche Bier hinüber. Maj-Britt winkt zurück.
„Maj, zu der Frage, die du mir am Anfang gestellt hast...“
„Welche Frage?“
„Ob mein Vater mich gehen lassen hat.“
„Ich glaube die erübrigt sich jetzt, wo du da bist, Liebste.“ Maj grinst. Aber ihrer Freundin scheint es Ernst zu sein:
„Er hat mich schon gehen lassen“, Annia zittert ein wenig, „aber er...“, sie kann die Worte nicht aussprechen. Aus offenem Mund entgleiten ihr knappe, zusammenhanglose Silben. Sanft legt Maj eine Hand auf die ihrer Freundin. Ruhig blickt sie Annia in die Augen, doch diese weicht aus.
„Ich will wissen, was Fantasia ist. Ich will wissen, ob es wirklich hilft, wenn...“ nach diesen Worten befreit Annia ihre linke Hand und vollführt zusammen mit der rechten eine deutliche Bewegung.
Jetzt hat Maj-Britt sie verstanden.
*
„Annia, siehst du die Sterne am Himmel? Siehst du den grossen Wagen und den Gurt des Orion?“
„Was!? – Aber es schneit, du kannst sie gar nicht sehen, heute nicht!“
„Vor fünf Jahren hast du mir geholfen wieder Sterne zu sehen. Ich war verzweifelt. Ich hatte keine Lust zu leben. Mir fehlte der Glaube an mich selbst. Dann kamst du und botest mir deine Freundschaft an. Langsam ging es mit mir wieder bergauf. Ich konnte wieder Dinge geniessen und lachen. Und jedesmal, wenn ich in den Himmel sah, erblickte ich die hellen Punkte, die gerade im Dunklen so freundlich leuchten. Und wenn der Himmel bedeckt war, brauchte ich nur die Augen zu schliessen und ich sah die Sterne nach wie vor. Im Herzen hatten sie sich verankert und egal wie das Wetter war, brachten sie mir Hoffnung. Mir hat das geholfen. Ich weiss, wie schlimm deine Situation jetzt ist, aber irgendwann wirst du sie überwinden. Da bin ich mir sicher.“
„Ach so meinst du das. Ja, ich weiss noch, wie es dir ging. Ich bin glücklich, dass es dir besser geht. Die Sterne, die du ansprichst, sehe ich in Fantasia.“
„Aber wenn du Fantasia nicht findest, versprichst du mir, dass du die Sterne trotzdem sehen wirst?“
„Ich werde es versuchen. Ich werde suchen.“
*
Ein paar Minuten später erblickt Annia durch die Dunkelheit und den unaufhaltsamen Schnee von weitem das Haus. Sie hält sich die Hand über die Augen, damit ihr der Schnee nicht ungehindert ins Gesicht wehen kann. An ihren Wimpern haben sich kleine, weisse Flocken festgesetzt. Im Haus brennt kein Licht. Nur zwei Laternen tauchen es in ein trübes Hell.
Die beiden Freundinnen nähern sich dem Grundstück. Dabei halten sie sich an der Hand. Am alten Gartenhaag lehnt ein halb verrostetes und verbeultes Plakat. Annia wischt mit ihren nackten Händen den Schnee weg und weist triumphierend auf die Inschrift. Deutlich genug lassen sich die alten Buchstaben erkennen. Lächelnd blickt Maj-Britt zum gelben Haus.
Dieses ist bei weitem nicht so alt, wie das Plakat, bemerkt Maj-Britt.
„Siehst du; das Haus, dass du suchst, gibt es nicht mehr!“
„Warte...“ Annia sieht ein, dass ihre Freundin recht hat. Dieses Plakat ist zu alt. Sie geht einige Schritte weiter, um sich den Briefkasten anzusehen. Mit einem schwachen Licht an der oberen Kannte, beleuchtet sich dieser selbst. So kann Annia den dort eingeschriebenen Namen lesen: „Onaria Aisa“. Sie findet den Namen exotisch, ähnlich speziell, wie Maj-Britt. Wieder wirft sie einen Blick auf das Haus. Doch dort fällt ihr nichts besonderes auf. Sie beginnt selbst daran zu zweifeln, dass hier Hilfe auf sie wartet, in einem leeren Haus.
„Gehen wir wieder?“, fragt Maj leise. Sie stützt ihren Kopf auf Annias Schulter. Es wäre für sie beide besser bald nach Hause zu gehen.
Doch Annia starrt auf den Briefkasten. Ihre tiefen, dunklen Augen sind weit aufgerissen. Wie im Traum bewegt sie eine Hand mit gespreizten Fingern auf das Blech des Kastens zu. Sie scheint Maj-Britt gar nicht mehr zu bemerken, die ihren Namen nennt. Im trüben Licht der Strassenlampen sieht Annia aus wie eine Fee, deren dunkle Haare sich durch die groben Schneeflocken in ein mysteriöses Blond verwandelt haben.
Fünf Fingerspitzen berühren behutsam den Briefkasten, gerade unter der Namenschrift. Während sie die fünf Finger wieder entfernt, macht sich vorerst Enttäuschung in Annias Gesicht breit. Dann drückt sie aber noch den Zeigefinger der anderen Hand auf die kalte Fläche. Gebannt starrt sie auf die Wassertropfen, die sich lösen.
„Maj-Britt! Siehst du, die kleinen Eiskristalle – Genau wie das Fenster. So wunderschön... Siehst du wie sie schmelzen?“
„Ich weiss nicht, was du meinst. Es schmilzt ja gar nichts. Also wie meinst du?“
„Aber... hier steht doch ‚Novrak‘?!“
Annia ist traurig und enttäuscht. Sie versteht nicht, warum selbst ihre beste Freundin nichts sieht.
„Nein, wirklich nicht. Aber wenn du willst können wir einmal bei dieser Frau Aisa klingeln, aber so wie es aussieht war sie schon länger nicht mehr hier.“
Frierend gehen sie die paar Schritte zur Eingangstüre. Maj mustert auf dem Weg noch einmal die Wand des Hauses ab, aber hinter keinem Fenster brennt auch nur das geringste Licht.
Annia klingelt. Der Klang dringt stark geschwächt und kläglich unterbrochen wieder nach aussen. Die beiden Jugendlichen sind still. Doch im Haus bewegt sich nichts. Kein Fenster öffnet sich, keine Schritte sind zu hören.
Annia wagt einen Blick durch das Schlüsselloch.
„Siehst du, es ist niemand da. Gehen wir nach Hause!“, Maj-Britt fasst ihre Freundin bei der Schulter und zieht sie zurück „Oder muss ich dich hier etwa alleine zurücklassen?“
Annia hebt ihren Kopf. Sie nickt. Besser Maj-Britt geht nach Hause. Sie würde es ihr ohnehin nicht glauben. Maj sah nicht die gleichen Sterne wie sie.
Annia hat einen seltsamen Duft gerochen. Etwas unbekanntes, einladendes.
Sie begleitet Maj-Britt bis zu ihrem Haus, gibt ihr dort einen freundschaftlichen Kuss auf den Mund und umschlingt sie nochmals kräftig. Dabei weint sie vor Freude jemanden zu haben, den sie lieben kann, wenigstens jemanden.
*
Das Haus sieht immer noch genau gleich aus. Der Schnee fällt zwar nur noch in seltenen Flocken vom Himmel, aber Wolken versperren nach wie vor den Blick auf die Sterne. Die Strassenlaternen geben sich weiterhin die Mühe für niemanden zu leuchten und die verschneite Strasse ist leerer als zuvor mit Maj-Britt. Aber obwohl nicht einmal der kleinste, lichtähnliche Schein nach aussen dringt, wirkt das Haus einladender denn je zuvor.
Als Annia den Briefkasten passiert erkennt sie aus den Augenwinkeln die Schrift der Wassertropfen, die das gleiche Wort malen, wie zuvor. Novrak.
Annia ergreift die Türklinke und drückt sie nach unten. Ohne Widerstand gibt diese nach. Zögerlich macht sie einen Schritt nach innen und verschliesst die Türe hinter sich. Es ist dunkel. Ein mulmiges Gefühl überkommt sie. Mit zitternder Stimme spricht sie zwei Wörter:
„Novrak... Fantasia...“
Dann ertönt eine warme Frauenstimme nicht unweit von ihr und spricht Worte, die sie ebenfalls kennt:
„Wenn du Hilfe brauchst, aber nicht weißt warum, dann bist du richtig hier.“
Eine Hand fasst Annia am Arm und führt sie durch die Dunkelheit. Der Griff ist kräftig. Annia versucht ihren Blick durch die Schwärze zu jagen, aber ihre Umgebung bleibt verhüllt. Die Frau führt sie durch das Haus, in dem ein seltsamer, süsslichscharfer Duft schwebt.
„Sind sie Onaria?“, will Annia wissen.
„Nicht unbedingt, aber du darfst mich so nennen.“ Ihre Stimme klingt nicht nur warm, sondern auch schroff, eindringlich, unverzerrt und einladend. Sie passt gut zum Duft.
„Was haben Sie jetzt mit mir vor?“
„Das hängt ganz von dir ab“, erwidert Onaria, „wenn du willst, führe ich dich nach Fantasia. – Setz dich hier hin! – In Fantasia lebst du eine kleine Zeit völlig losgelöst von allem. Fantasia kann zu deiner zweiten Heimat werden.“
Annia nimmt den Duft immer stärker wahr. Während Onaria ihr über das verborgene Reich aller Menschen und von der Freiheit erzählt, hört sie noch aktiv mit. Dann aber dringen die Worte direkt in sie ein. Durch ihre Haut, in ihr Fleisch. Mit ihrem ganzen Körper nimmt sie alles auf, was ihr zubereitet wird. Sie spürt ein Kribbeln auf der Haut, das sie weder als angenehm oder unangenehm bezeichnen kann. Ihre Hände beginnen irre Kreisbewegungen zu vollführen. Als sie die zuvor nicht gebrauchten Augen öffnet, sieht sie verschiedene kleine rote Punkte um sie herum leuchten. Ihr Strahlen genügt gerade, vage die Gestalt auszumachen, die auf sie einspricht. Mit der linken Hand hält sie sich an der Armlehne ihres Sitzes fest, um einen Bezug zur Realität zu behalten.
Die Gestalt vor ihr nimmt etwas Leuchtendes in die Hand und beginnt durch den Raum zu wandern. Sie setzt weitere rotglühende Punkte in die Welt und der Geruch wird noch intensiver. Ihre Stimme klingt weiterhin warm und eindringlich.
Annia bekommt immer mehr ein Bild von einer fremden Welt. Langsam verbannt sie ihren Vater aus den Gedanken. Dann folgt die ganze Stadt. Ihr Bewusstseinshorizont verkleinert sich. Noch sieht sie die verschneite Strasse, das Novrak-Plakat und den Briefkasten. Dann verschwinden aber auch diese aus der Welt. In Gedanken tritt sie ein zweites Mal durch die Türe, die hinter ihr verschwindet. Ein zweites Mal setzt sie sich auf den Stuhl, aber als sie versucht ihre Gedanken auf die Armlehne zu fixieren, entschwindet diese ihrem Griff.
„...das Novrak ist die Türe und Fantasia ist der Weg für alle. Du wirst das Reich mögen. Mich nimmst du nicht mehr wahr, mich nicht, nicht mehr...“
Die glühenden, roten Punkte verschwinden und mit ihnen die Gestalt, die Onaria hiess. Der intensive Geruch aber begleitet Annia weiter.
„...eine Stimme in deinem Kopf, die zu dir spricht, direkt zu dir. Fantasias Stimme. Bald erreichst du die Welt des Glückes und des Trostes. Novrak ist noch nicht ganz geschlossen. Nicht ganz. Novrak gibt es seit mehr als zwanzig Jahren... In einem Winkel deines Wahrnehmungsvermögens erkennst du plötzlich Licht. Licht in Form einer immensen Farbenpracht. Es ist nur ein kleiner Winkel, der heranwächst, grösser wird. Du sitzt nicht mehr. Du schwebst, schwebst noch an einer Stelle, weil es keine andere gibt, aber bald öffnet sich der Himmel der Möglichkeiten. Der Stuhl ist schon längstens fort... suche ihn nicht. Öffne dich dem Neuen, öffne dich dem Licht, wo auch immer du hin willst, vielleicht kommst du ja an. Was auch immer dir geschehen ist, hier wirst du damit fertig werden... Nicht rufen, Onaria gibt es hier nicht mehr. Öffne dich neuem...“
Annia konzentriert sich. Sie muss. Alles andere hat sie vergessen. Jetzt gibt es nur noch diesen Lichtspalt. Dahinter heftiges Spiel des Lichtes an der Front zur Dunkelheit. Der Spalt wird grösser. Immer grösser. Andere Lücken bilden sich im Nichts. Das Licht reisst sich seinen Weg bis zu Annia hin. In einer einwärtsdrehenden Spirale wird sie vom Wunder umspürt. Langsam erkennt sie um sich nur noch Farben, die für sie noch keine Bedeutung ergeben. Von der Existenz mancher dieser Farben, hatte sie zuvor gar nichts gewusst. Aber zuvor zählte auch nicht mehr.
Unter ihr plötzlich der klaffende Abgrund. Nichts, woran sie sich halten könnte. Unendliche Tiefe. Fantasia entreisst Annia der Realität.
„...du fällst. Die Tiefe macht dir Angst. Die Farben sind ungewohnt. Aber im Grunde genommen sind es die gleichen, die du schon kennst... nur intensiver, nur pur. Die bunten Wolken, durch die du fliegst sind angenehm warm und haben jede beliebige Form. Du wirst von ihnen leicht aufgehalten, jedoch hindern sie dich nicht am Fall. Du hast noch nie so etwas weiches, wie diesen Himmel gespürt. Weisse Schwäne fliegen an dir vorbei, ohne dich zu streifen. Der Fall entreisst dir fast das Bewusstsein. Es ist als ob eine immense Kraft dein Blut in die oberen Hohlräume deines Körpers schleudert. Du spürst nichts mehr...“
Nur noch angenehme Gefühle. Annia wagt einen Blick in die Fallrichtung. Sie sieht einen grünen Punkt. Der Punkt ist klein, aber er wird immer grösser. Sie erkennt was es ist. Ein Wald. Wird sie aufgespiesst in einer fremden Welt enden? Nein, der Fall ist zu schön. Neben dem Wald sind Seen und Wiesen. Verschiedene weisse oder bunte Vögel fliegen an ihr vorbei und streifen sie zum Teil.
Der Wald ist gigantisch. Nun kann sie die einzelnen Bäume erkennen. Baumkronen ragen in immense Höhen. Zwischen drei Riesentannen wird sie landen. Also nicht aufgespiesst. Sie erkennt ein hellblaues Etwas. Ein ungeheures Etwas. Dann erfolgt die Landung.
„...weich wie auf abertausenden von kleinen Federn. Dein Herz erholt sich von Schock. Das Gefühl ist angenehm. Halbwegs bist du noch bei dir. Ein anderer Teil scheint noch am fliegen zu sein. Du fliegst immer noch. Nur langsam wirst du zum Stillstand kommen. Unter deinem Gewicht biegt sich der angenehme Widerstand. Es erinnert dich an ein Bad, aber auch an einen Sprung auf eine grosse Matte. Auf eine enorme...“
Sie erkennt wieder ihre Umgebung. Der Wald ist von einem Grün, dessen Intensität sich nicht einmal definieren lässt. Das weiche, hellblaue Etwas, das sie an Watte erinnert ist dagegen eher trüb, aber wirkt verträumt und passt zu ihrem halb benommenen Zustand. Sie blickt zur Seite. Glück, endloses Glück. Bunte Zelte türmen sich bis fast zu den höchsten Winkeln des Waldes auf. Fröhliche Stimmen rufen nach ihr. Stimmen von Kindern und Stimmen von Erwachsenen. Freundliche Gesichter nähern sich ihr und tragen sie sorgsam von der hellblauen, wenige Meter über dem Boden verharrenden Watten-Wolke weg.
Und wieder eine Welle des Glückes, denn plötzlich riecht sie frischen Duft. Duft nach Wald und Leben. Duft nach Liebe, Freundlichkeit und Zuneigung. Vertrauen.
Doch plötzlich nimmt Annia einen anderen Geruch wahr. Den süsslich-scharfen des Novraks. Sie gleitet zurück. Sie erinnert sich an das, woran sie sich nicht erinnern sollte. Plötzlich Schmerz. Die nackte Wahrheit ist überall und scheint unvergesslich zu sein. Sie zuckt zusammen. Hässliche Liebe. Sie zuckt. Sie spürt es und schreit.
„... zurück! Du musst alles vergessen! Fantasia heisst dich willkommen, willkommen, willkommen. Geh nicht wieder! Konzentriere dich! Um dich stehen jede Menge bunte Zelte. Ein kleiner Junge stellt sich dir mit hoher Stimme vor. Er heisst Anim Seine Augen leuchten dir fröhlich entgegen, glücklich dich zu sehen. Er hält einen kleinen Regenbogen in der Hand. Du bist wieder völlig bei dir. Anim fragt dich, ob du mit ihm und dem Regenbogen spielen willst. Du willst aber vorher noch das Dorf kennenlernen. Alle heissen dich in Fantasia willkommen. Die Zelte schimmern golden im angenehmen, aber nicht blendenden Licht. Du stehst auf. Neugierig kommen immer mehr Leute zu dir...“
„Ich heisse Noa. Wie ist dein Name?“ Noa ist ein freundlicher Jugendlicher in Annias Alter. Sie begrüsst ihn lächelnd. Niemand drängt. Alle warten geduldig, bis sie die neu Angekommene begrüssen dürfen.
„...sie alle sagen dir ihre Namen. Dir fällt auf, dass du die meisten sofort auswendig weisst, wenn du dich für sie interessierst. Und das geht ohne Mühe, da auch sie sich so sorgsam für dich interessieren. Rede mit ihnen, erfahre mehr über Fantasia. Lebe mit ihnen...“
Ein älterer Mann bahnt sich seinen Weg zu Annia. Feierlich reicht er ihr die Hand und lächelt wie ein Kellner, der seine Gäste begrüssen muss. Seine Züge sind hart aber gerecht. Die Dorfbewohner nennen ihn den Fantasiafürsten, duzen ihn jedoch wie einen Bruder. Mit freundlich strahlenden Augen beginnt er zu reden:
„Solange du hier bist, darfst du machen, was du willst. Nenn uns Freunde, Brüder und Schwester, iss mit uns als wären wir deine Familie. Spiel mit den Kindern, als wären es deine und fühle dich in unserer Natur, so unermesslich weit sie ist, zu Hause. In schlechteren Zeiten müsste ich dich auch darauf hinweisen, dass es nicht nur ein Fantasia gibt, aber darüber sage ich momentan einmal nichts. Ich danke dir das du gekommen bist. Über den Grund werden wir uns sicherlich ein anderes Mal unterhalten.
Annia fühlt sich plötzlich so leicht und frei, wie seit langem nicht mehr. Sie setzt sich in Bewegung um eines der Zelte anzusehen. Vor dem Zelt grüsst eines der jüngeren Mädchen Annia und strahlt mit eisbeschmiertem Gesicht zu ihr hinüber. In der Hand hält sie etwas, dass Annia an eine Flöte erinnert. Auf die Frage Annias, ob denn das Eis der Flöte nicht schade, gibt das kleine Mädchen still lachend zurück, sie spiele selbst nur Klarinette, Violine und Cembalo und die Flöte müsse sie einem Kollegen bringen. Annia sieht sie mit grossen Augen an und lächelt schief. Da lacht die Kleine und erklärt, dass das mit den drei Instrumenten lediglich ein Witz gewesen sei.
Dann kommt Anim mit dem Regenbogen und sie überreicht ihm die Flöte, wenn auch nur im Tausch gegen den Regenbogen. Sogleich beginnt er eine fröhliche Melodie zu spielen.
Im Zelt begegnet sie einigen Jugendlichen, die sie sofort bemerken und anlächeln. Einige begrüssen sie mit einem Handschlag. Nachdem sie mit aromatischem Tee und einem Stück Kuchen bedient worden ist, setzt sie sich neben Noa und beginnt, sich mit ihm zu unterhalten. Noa ist ihr äusserst sympathisch.
Er ist Opfer einer Gesellschaft geworden, die es nicht verträgt, dass er anders aussieht. Er ist schwarz.
Als Annia mit Noa und ein paar anderen Leuten in den Wald geht, erschrickt sie plötzlich. In rasantem Tempo schiesst etwas auf sie zu. Schützend hebt sie die Arme vors Gesicht und erwartet einen Aufprall. Doch dieser bleibt aus. Vor ihr steht ein Reh. Und neben ihr lacht Noa.
Sania, eine weitere Begleiterin aber ist sich nicht ganz sicher. Sie packt das Reh am Hals und sieht dem Tier in die Augen und in den Mund.
„Sania, das ist doch eines von unseren, oder?“, erkundigt sich Noa. Er lacht nicht mehr.
„Ja, ich glaube dieses da ist okay...“, um diese Worte zu bestätigen streicht Sania dem Reh über den Rücken. Das Tier blickt Annia direkt in die Augen. Vorsichtig nähert sich diese dem Tier mit der rechten Hand. Sie erinnert sich an die Worte des Fantasiafürsten. Und daran, dass es nicht nur ein Fantasia geben soll.
„Was meinst du mit ‚einem von unseren‘?“, richtet sie sich an Noa. Dieser scheint mit der Antwort zu zögern. Offenbar vertieft er sich in Gedanken, die ihm unbehaglich sind, denn seine Gesichtszüge verhärten sich und jede Freundlichkeit weicht für einen Moment aus ihm. Kurz wirft er einen Blick zu den anderen hinüber und auf mehrheitliches Nicken beginnt er zu erklären:
„Wir wollten dem Fürsten bisher nichts erzählen, aber die Situation hier ist nicht mehr ganz so sicher. Er hat erwähnt, dass es nicht nur ein Fantasia gibt. Es gibt zwei. Unseres und unser Gegenstück; das Antifanfasia.
Dort leben Menschen, die Unruhe, Streit und Verbrechen lieben. Dort herrscht keine fröhliche Stimmung, sondern nur der fade Geschmack, der übrigbleibt, wenn du sämtliche guten Gefühle aus dem Munde spuckst und ewig verbannst.
Dorthin gehen manchmal die Leute, die unser Leben verpfuscht haben. Und manchmal kommen sie hierher. Vor ihnen meldet sich die Gefahr aber oft durch kleineres Übel. Auch bei den Tieren gibt es nämlich diese Gegenbilder, die sich kaum unterscheiden lassen. Die Menschen aus Antifantasia haben bisher noch fast nie den Weg hierher gefunden, weil er gut verborgen und sehr weit ist. Sania hat gedacht, dieses Reh sei von der schlechten Sorte. Da es aber in Ordnung zu sein scheint, können wir auch davon ausgehen, dass die nächsten, die kommen okay sind.“ Noas Gesichtsausdruck ist wieder beinahe einwandfrei. Während er Annia anlächelt, lädt er sie ein, auf ein Reh zu steigen. Annia hält dies zuerst für einen Witz und lacht. Dann aber stellt sie fest, dass es die anderen ernst meinen – selbst steigen sie auf die neu angekommene Tiere – und überwindet ihr Unbehagen, indem sie ihr Bein über das Tier schwingt. Sogleich rast das Reh los.
Unter dem bunten Licht des offenen Himmels kommt das Reh endlich zum Stehen, nachdem es eine Weile durch den Wald gelaufen ist. Annia betrachtet voller Bewunderung den Himmel und nun weiss sie, dass alles, was sie während des Fallens gesehen hat, tatsächlich existiert. Selbst die farbigsten Wolken. An die hundert Meter vor ihr erstreckt sich ein breiter, durchsichtiger See. An dessem Rand steigen rankenartige Pflanzen auf, die an Palmen, oder an Rosen erinnern. Unter ihnen verteilen sich wie unberührt die schönen Früchte, Wunder in allen Farben und Formen. Besonders in tiefen Rottönen. Zur rechten Seite liegt ein weites Feld. Es teilt einen Pfad mit dem tiefen Wald Fantasias. Das Feld ist ein Wildwuchs aller möglichen Prachtexemplare der Natur. Die goldigsten Getreidesorten vermischen sich mit reinen Blüten, mitunter Orchideen. An verschiedenen Orten ragen kleine Bäume aus dem Pflanzengemisch. Mit ihren dicken, Armen und der geringen Grösse wirken sie wie Gärtner im Paradies. In der Ferne ragt ein kleiner Hügel aus dem Feld. Die Flanken glänzen wie Kristall und aus der Mitte der Erhebung, zwischen zwei Steinbrocken, entspringt eine Quelle unvergleichlicher Klarheit.
Hinter ihr ertönt ein leises Geräusch. Kurz darauf klopft ihr Noa freundschaftlich auf den Rücken. Sie dreht sich zu ihm, lächelt ihn kurz an, um ihm anschliessend alles Mögliche zu fragen. Besonders interessiert sie, weshalb hier überall so viele der schönsten Wunder so dicht beieinander stehen.
Darauf blickt Noa sie rätselhaft an und zieht eine kleine Flasche aus seiner Tasche hervor. Mit einem eleganten Fingerspiel öffnet er den silbrig glänzenden Deckel und leert vorsichtig eine kleine Menge von einem bläulichen Pulver in seine hohle Hand. Dann taucht er Daumen und Zeigefinger in das Pulver und entzieht eine Prise. Während er diese reibt, springen Funken ab, die gelblich leuchten. Diese Funken aber verglimmen nicht, und während Noa weiteres Pulver reibt, sammeln sie sich und bilden eine schwebende, glänzende Kugel, so leicht und dünn, wie eine Seifenblase.
Diese Kugel nimmt der Junge zwischen die Hände und beginnt mit den Zeigefingern in Spiralen, Kreisen und Bögen Formen zu zeichnen. Die gelbe Kugel dreht sich und dehnt sich dabei aus. Dann wünscht Noa. Leise spricht er Worte, die sich von der Kugel aufzufangen scheinen und mit deren Wendungen immer wieder ertönen.
Dann schleudert Noa die Kugel in die Höhe. Etwa drei Meter über Annia verharrt sie schwebend – und plötzlich ist sie weg.
Annia wirft einen Blick auf Noa. Dieser deutet ihr an, die Hand auszustrecken. Gerade als Annia dem Folge leistet, spürt sie ein leises Gewicht auf ihrer Handfläche. Sie folgt mit dem Blick und entdeckt ein kleines Flugwesen ungeheurer Schönheit. Fern vergleicht sie ihn mit dem Wellensittich, den Maj-Britt im ihrem Zimmer hat.
Sie nimmt die Hand wieder nach unten. Der kleine Vogel beginnt etwas zu zwitschern.
Währenddessen fragt Noa, was sie sich wünscht.
„...Er fragt dich, was du willst. Du musst ihm antworten. Es sind dir keine Grenzen gesetzt. Du darfst nur nicht etwas wünschen, dass von der Gegenseite stammt. Es muss etwas Liebevolles oder wenigstens Nützliches sein... Wieso zögerst du? An was denkst du? An deine Freundin? Was hätte sie gewünscht? Keine schwarzen Gedanken. Nur schöne Sachen. Noa legt dir die Hand auf die Schulter und bietet dir mit der anderen das Pulver an. Nimm es! Oder wollen wir zuerst über deine Probleme sprechen...“
Noa sieht sie verwundert an: „Willst du nicht wünschen? An was denkst du? An deine Freundin? Lass dir Zeit. Das einzige, was du nicht wünschen solltest, sind Sachen aus Antifantasia. Komm schon, es ist nicht schwer. Jeder kann das. Du reibst nur das Pulver... Oder wollen wir zuerst über deine Probleme sprechen?“
Annia hat an Maj und die Welt gedacht. Jetzt kehrt sie wieder von ihren Gedanken zurück. Jedoch fühlt sie sich noch nicht bereit, etwas zu wünschen. Das, was sie haben möchte, erscheint ihr zu gross. Viel zu gross.
„Ja, mir wäre es lieber, wenn wir einfach so noch einen Moment plaudern könnten.“ Noa ist ihr in dieser kurzen Zeit bereits sehr ans Herz gewachsen. Er ist wie das männliche Äquivalent von Maj-Britt. Sie blickt ihm tief in die Augen. Sie vermag aber nichts zu erkennen. Nur eine angenehme Leere, im Kontrast zu seinem Mund. Er lächelt freundlich. Der kleine Wellensittich hat sich auf seiner Schulter niedergelassen. Kurz kämpft Annia mit dem Gedanken, ob sie nicht doch etwas mehr für Noa verspürt, als gute Freundschaft. Diesen Gedanken verdrängt sie aber schnell. Annia weiss, dass sie nichts und niemanden auf diese Art liebt. Weil sie das nicht will.
Sie lächelt zurück und fragt ihn, was ihn denn am meisten an Fantaisa fasziniere. Er zuckt mit den Achseln. Dann aber antwortet er doch:
„Was ich an Fantasia so schön finde ist die Ehrlichkeit. Hier wird nicht gelogen. Nur in Antifantasia, aber ich hoffe, dass ich die nie zu sehen bekommen werde. Ausserdem liebe ich Fantasia, weil ich hier nicht ausgestossen werde. Dort oben haben sie mich gehasst. Sie haben mich festgehalten und geschlagen. Ich bin schwarz. Manchmal ist das allein schon ein Verbrechen. Und dann... dann weiss ich nicht mehr, was ich getan habe, um ewig hier zu bleiben. Ich habe es vergessen.“
„...er weiss es nicht mehr. Frag nicht nach. Irgendwann wirst du es auch erfahren... Jetzt will er wissen, was dich hierhergeführt hat. Warum bist du hier. Weswegen? Wegen wem?...“
Noa ist direkt und ehrlich. Er sieht ihr weiterhin in die Augen und scheint sich für sie zu interessieren. Annia zögert ein wenig. Selbst Maj-Britt konnte sie nur schlecht von ihren Problemen erzählen.
Weshalb hatte sie Maj-Britt treffen dürfen? Unter welcher Bedingung.
Plötzlich hält sie sich die Hände vors Gesicht. Sie versucht ein Schluchzen zu unterdrücken. Noa legt ihr tröstend beide Hände auf die Schulter. Annia wagt einen Blick zwischen ihre Finger hindurch. Wieder erkennt sie nur die Freundlichkeit Noas. Er hat nach ihren Problemen gefragt.
„Interessiert es dich wirklich?“, fragt sie ihn.
„Ja, sehr. Es hilft dir auch. Wenn du etwas loswerden kannst, kannst du es besser verarbeiten.“, antwortet er ihr, immer noch mit direktem Blick.
Annia zögert weiterhin. Dann nimmt sie langsam die Hände vom Gesicht.
Der kleine Wellensittich wählt seinen Platz nun auf ihrer Hand. Das entlockt ihr ein scheues Lächeln. Sie entscheidet sich Noa alles zu erzählen. Und danach kann sie ja versuchen, das zu wünschen, was sie wollte.
„Mein Vater...“
*
Die dunkle Gestalt lacht leise. Überall im Raum sind diese rot glimmenden Punkte, von denen der Duft ausgeht. Annia fasst sich an den Kopf. Die Rückkehr hat ihr ein wenig Schmerzen bereitet. Aber sie ist überzeugt, wieder einmal nach Fantasia zu gehen. Wegen all den Menschen dort. Anim, das Waisenkind, Noa, der Schwarze, Sania und all die anderen Gesichter.
Und das blaue Pulver.
Diese Welt ist ihre Welt. Sie ist wunderschön.
Nur schade, dass Maj-Britt nicht dabei ist. Vor fünf Jahren hätte Maj es auch brauchen können.
Die roten Punkte erlöschen einer nach dem anderen. Sie stossen keine grossen Rauchschwaden mehr aus. Die Türen des Novraks haben sich für den Weg zurück geöffnet.
„Und wie heisst dein Vater?!“
Annia blickt überrascht auf. Onaria hat ihr eine Frage gestellt.
„Wieso?“
„Ich muss wissen, wie er heisst. Ist er gross, schlank?“
Annia nickt. Dann antwortet sie:
„Guy Haller. Haller ist unser Nachname.“
Onaria ist nach wie vor in Dunkelheit gehüllt. Es brennen beinahe keine Rauchstäbchen mehr. Bei diesem Namen scheint sie sich allerdings zu regen. Als würde sie Annias Vater kennen.
„Und die Mutter? Kennst du deine Mutter?“, will Onaria Aisa wissen.
„Nein.“
„Weshalb nicht? Gestorben?“
„Ich glaube nicht. Sie hat mich seit meinen frühesten Lebensjahren vollständig meinem Vater überlassen. Ich habe sie nie wirklich gekannt. Sozusagen gar nicht. Ich weiss nicht einmal mehr, wie sie heisst. Aber wieso?“
„Vielleicht habe ich deine Mutter gekannt. Vielleicht kenne ich sie sehr gut. – aber nun geh nach Hause mein Kind und lass dir nicht zuviel gefallen. Morgen willst du ja wiederkommen, oder?“
*
„Unerhört! Wo warst du?! Sag mir wo du warst!“, Guys Worte schiessen ihm reihenweise aus dem Halse, während er seine Tochter anbrüllt. Besonders das zweite ‚warst‘ scheint ihm wie aus der Kehle zu explodieren.
„Gestern Abend wollte ich dich sehen und du kommst heute Morgen!? Heute wirst du den ganzen Tag hierbleiben! Und das Frühstück kannst du dir selbst besorgen. Ich tische nicht auch noch für dich auf! Und um zwölf Uhr will ich zu Mittag essen. Verstanden?“, dann plötzlich lächelt er wieder, als hinge seine Laune von der Windrichtung ab. Er legt seine Hand auf Annias Schulter und sagt: „Tut mir Leid, dass ich geschimpft habe, aber ich mag es nicht, wenn man mich anlügt. Dir fehlt einfach noch ein wenig Respekt mir gegenüber. Manchmal vergisst du, dass ich dein Vater bin." Er säufzt auf und fährt leise fort: "Aber was solls. Das war jetzt nicht fair von mir, dass ich dich angeschrien habe. Verzeihst du es mir? Ich habe dich sehr lieb. Weisst du, ich mache mir immer so viele Sorgen um dich. Hast du mich auch lieb? Zeig mir, wie lieb du mich hast.“
„Nein, bitte nicht, ich...“
Sie ist schockiert. Mit weit offenen Augen fleht sie ihren Vater an, auch wenn sie weiss, dass es nichts bringen wird.
„Komm schon. Lass mich ein guter Vater sein. Lass mich dich lieb haben. Oder hasst du mich etwa?“, er drängt sie in sein Zimmer. Weinend bricht Annia hervor:
„Aber nur, wenn ich nachher zu Maj-Britt gehen darf!“
*
An manchen Stellen ist der Himmel offen und die Sonne scheint hindurch. Maj-Britt liegt auf dem Boden im alten Schnee und wartet auf Annia.
Schon seit zwanzig Minuten. Aber Annia kommt nicht.
*
„Und... ist es gegangen?“, Onaria scheint Mühe zu haben, diese Frage zu stellen. Doch im Dunkeln sieht Annia ihren Gesichtsausdruck nicht. Onaria aber hat sofort das leise Weinen bemerkt. Jetzt ist es noch ein Schluchzen. Im Raum brennen wieder die roten Stäbchen. Der Duft lässt Annia langsam schweben.
Sie nickt.
„Wieso nickst du? Es ist doch nicht gegangen oder?“
Annia schluchzt wieder mehr. Sie hebt beide Hände, wie um ihr Gesicht zu verstecken. Sie deutet ein leises ‚nein‘ an.
„Ich weiss selbst, wie es ist. Ich wurde vor längerer Zeit einmal vergewaltigt. Ich wurde schwanger und bekam ein Kind. Ein Jahr lang hielt ich es aus und pflegte es, dann aber erinnerte es mich immer mehr an ihren Vater und ich wollte es nicht mehr behalten.“, Annia nahm immer weniger von ihrer Umgebung war. Die roten Punkte verschwinden und Onarias Worte scheinen direkt aus ihrem Kopf zu stammen, „Aber nun lassen wir die Dinge hinter uns. Fantasia wartet. Konzentriere dich!“
Der Duft wird intensiver und beginnt Annia durch die Haut zu kriechen. Sie fühlt sich leicht. Den Stuhl, auf dem sie vor kurzem noch sass, gibt es nicht mehr. Irgendwo im Raum verschwindet das schwarze Nichts und macht buntem Licht Platz. In einer Spirale nähern sich die Öffnungen ihr. Plötzlich schwebt sie in ungeheurer Höhe – und fällt.
Sogleich merkt sie die Unterschiede. Die Wolken scheinen es eilig zu haben und kümmern sich nicht darum, ihren Flug zu besänftigen. Die weissen Schwäne fliegen plötzlich kreischend in der Luft umher.
Der Wald rückt immer näher. Im See herrscht rege Bewegung. Wogen türmen sich auf und prasseln gegen das Ufer. Rauch steigt in Annias Gesicht. Zwischen den drei Tannen stimmt etwas nicht.
Als sie nur noch wenige Meter oberhalb des Waldes ist, erkennt sie, dass das hellblaue Abfangmaterial brennt.
Sie wird aufgefangen. Annia lässt sich während dem Abfang seitlich abrollen, um den Flammen auszuweichen. Neben dem Feuer gleitet sie nach unten. Es gewinnt an Fläche. Annia versucht aufzustehen. Aus dem Dorf ertönen Schreie. Sie taumelt. Der Rauch bemächtigt sich ihrer. Sie erreicht den einzigen nicht brennenden Rand der ‚Watte‘. Aus den Augenwinkeln erkennt sie, wie Noa mit jemandem kämpft. Eine süsse Stimme ruft ihren Namen. Plötzlich sieht sie Anims Gesicht.
Das kleine Waisenkind zieht sie mit grösstem Kraftaufwand von der Landefläche runter und beginnt Annia wachzurütteln.
Langsam kommt sie wieder vollständig zu sich. Sie betrachtet das Dorf. Die meisten Zelte lodern. Noa kommt zu ihr. Die Hälfte seines Gesichtes ist verbrannt. In der Hand hält er ein blutiges Messer. Sein Auge ist blau geschlagen. Auf dem ganzen Platz weinen die Bewohner Fantasias. Manchen Männern sieht man es an, dass sie gekämpft haben. Einige, wie Noa, sind bewaffnet. Dieser blickt traurig auf die brennenden Zelte und dann auf sein blutiges Messer: „Ich musste es tun. Ich hatte keine Wahl.“
Sania tritt aus einer Gruppe hervor und begrüsst Annia mit einem Kopfnicken. Darauf erklärt sie: „Sie sind gekommen.“
Plötzlich stürzt aus einem der entfernteren Zelte ein dunkel gekleideter Mann hervor. Im Innern des Zeltes schreit eine Frau. Er wirft einen höhnischen Blick auf die versammelte Gesellschaft. In seinem Arm hält er ein heftig zappelndes Kind. Einige Männer wollen die Verfolgung aufnehmen, doch schon schwingt sich der Kidnapper auf ein Reh.
„...du bist schockiert. Fantasia ist überfallen worden. Der Dorffürst tritt hervor. Er geht direkt auf Noa, Sania und dich zu. Er will wissen, ob ihr bereit seid, die Verfolgung aufzunehmen... Rettet das Kind... rette das Kind... Noa ist einverstanden. Auch Sania willigt ein...“
„Ich komme auch mit!“, brüllt Annia. Anim bekundet auch Bereitschaft an der Verfolgung teilzunehmen, aber der Dorffürst erklärt ihm, dass er das nötige Alter dazu noch nicht hat.
Noa ruft Reittiere. Sania holt Waffen. Dolche und eine Axt.
Der Fürst bringt ein Tier herbei, dass grosse Ähnlichkeiten mit einem Hund aufweist. Dieser spurtet sofort in die Richtung, wo der Antifantasianer verschwunden ist.
Noa, Sania und Annia reiten hinterher.
„...du musst ihn töten, verstanden? Er darf nicht leben, dieser Schädling. Du musst das Kind retten. Rette mein Kind...“
Die Spuren sind frisch. Sie reiten so schnell sie können.
Plötzlich finden sie sich auf einem Weg wieder, den sie nie zuvor gesehen haben. Dornensträucher erschweren ihnen den Weg. Ein morscher Ast löst sich vom Baum. Krachend fällt er neben Noa auf den Boden. Der Hund rennt weiter und stosst dabei lautes Gebell aus. Sania nimmt die Axt in die Hand. Noa den Dolch. Der Weg ist viel dunkler. Annia fragt sich, ob auch mehr, als nur Tier und Mensch in zwei Fantasia eingeteilt sind.
Sie blickt in den Himmel. Erleichtert stellt sie fest, dass sie die Sterne noch sehen kann, die sie sich mit dem Pulver gewünscht hat. Solange sie die sehen kann, währt die Hoffnung.
Plötzlich stürmt etwas aus dem Unterholz auf Sania zu. Ein anderes Reh.
Getroffen von der Axt fällt es zu Boden. Annia wirft einen Blick nach hinten. Augenblicklich verfault das tote Reh. Heere von Insekten werden vom Geruch der Verwesung angezogen und scharen sich um den Kopf und die Augen des Tieres.
Angeekelt blickt Annia wieder nach vorne. Hinter sich hört sie plötzlich ein lautes Fressen, dass unmöglich von den Fliegen kommt. Sie will sich der Versuchung widersetzten, nach dem Kadaver zu sehen. Doch ihr Kopf dreht sich von alleine und ihr Blick begegnet gezwungenermassen einem Eichhörnchen, das ein Bein des Rehs in Angriff genommen hat. Angewidert treibt Annia ihr Reh schneller an.
Sania und Noa haben Halt gemacht. Noa weist mit dem Zeigefinger nach vorne. Sie steigen ab.
„...rette mein Kind, mein Kind...“
*
„Annia, was machst du da?“ Maj-Britt sieht ihre beste Freundin aus dem kleinen Haus treten. Annia hat den Kopf auf den Boden gerichtet, wie in Trance. Mit langsamen Schritten geht sie auf die Strasse.
„Hast du jemanden gesehen, war jemand im Haus?“, will Maj-Britt wissen. Aber ihre beste Freundin antwortet nicht. Sie scheint sie gar nicht erst zu bemerken. Maj-Britt läuft zu ihr und nennt dabei immer wieder ihren Namen nennt. Annia reagiert noch immer nicht.
„Hat sie etwa Drogen zu sich genommen? Wäre durchaus möglich, mit so einem Vater...“, denkt sich Maj.
„Annia!“
Nicht das geringste Zeichen der Wahrnehmung. Maj macht sich Sorgen.
Plötzlich hebt Annia den Kopf und sieht zum Himmel hinauf. Als sie ihn wieder senkt, lächelt sie. Dem Boden entgegen.
Maj entschliesst sich Annia zu begleiten. Egal wohin ihre Freundin geht. Anscheinend schlägt sie den Weg nach Hause ein.
Auf dem Weg flüstert sie etwas von einem Kind, dass sie retten muss. Und von Hoffnung für Fantasia.
Vor der Türe der Haller macht Annia Halt. Eine Hand hat sie in der Jackentasche, mit der anderen klingelt sie.
Dabei murmelt sie etwas von einem Kind, dass gerettet werden muss.
Maj-Britt macht sich Gedanken darüber, wie sie Vater Haller den Zustand ihrer Tochter erklären sollte.
Dann öffnet sich die Türe und plötzlich geht alles sehr schnell. Guy Haller hat gerade noch Zeit einen bösen Blick auf Annia zu werfen, wohl weil sie wie immer zu spät kommt und noch den Mut hat ihre Freundin mitzubringen. Dann aber zaubert Annia aus ihrer Tasche unheimlich schnell einen Dolch hervor und rammt ihn in die Kehle ihres Vaters, direkt durch den Adamsapfel.
Als er am Boden liegt, schreit Annia auf: „Gib das Kind frei!“
Dann sticht sie ihm noch vierundzwanzig Mal hintereinander in den Unterleib.
Maj-Britt steht da wie erstarrt. Sie stammelt Annias Namen. Vorsichtig berührt sie Annia an der Schulter, doch diese bemerkt sie immer noch nicht.
*
Sania und Noa klopfen Annia auf die Schulter: „Hey, gut gemacht! Du kannst stolz sein, du hast jemanden gerettet!“
*
Wie in Trance nimmt Annia den Dolch in die Hand und will mit den Fingern das Blut ihres Vaters abwischen. Als sie dies tut, erschrickt sie jedoch plötzlich. Das Blut vermischt sich auf eine seltsame Art. Und schon steht etwas auf dem Dolch geschrieben:
„Ich bin froh, dass du dich gerächt hast, Tochter.“
Sie lässt das Messer fallen.
Plötzlich fällt ihr etwas ein.
Was hat Noa gesagt?
„Ich habe es vergessen. Ich weiss es wirklich nicht mehr“
Und später dann:
„Ich musste es tun. Ich hatte keine Wahl.“
Und plötzlich begreift Annia.
Sie ist selbst das Kind, dass sie gerettet hat.
In Fantasia ist niemand nur Opfer.
Ihre Mutter am wenigsten.
„Ich bin froh, dass du mich gerächt hast, Tochter.“