Familienbande
So unerwartet wie es kam, so unverständlich blieb es.
Dieses kleine schwarze Kästchen in meinen Händen wollte einfach keinen Sinn ergeben. Es schien förmlich zu schreien „Öffne mich!“, aber ich fand kein Schloss, keinen Deckel, ja noch nicht einmal einen Schlitz durch den ich etwas hätte erahnen können.
Aber doch wusste ich, dass sein Inhalt mein Leben verändern würde.
Ich musste einen Weg finden, diesen mir aus einem unerkenntlichen Grund so wichtigen Fund zu öffnen. Ich musste einfach!
Wie es dalag, als ich über den Friedhof spazierte und frische Blumen auf das Grab meiner Mutter legte. Das Kästchen lag mitten auf dem Weg, mitten auf dem vom Morgentau noch leicht feuchten Boden.
Ohne Namen, ohne ersichtliche Herkunft, ohne Erklärung.
Aber es war für mich bestimmt.
Im ersten Moment, als ich es berührte, kitzelte es in meinen Fingerspitzen, wie wenn man einen kleinen Schlag von einer Wolldecke bekommt. Man ist sofort aufmerksam und das war ich nun auch.
So viele Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, dass ich sie kaum ordnen konnte:
Woher kommt das Kästchen? Ist es für mich? Wenn nicht, für wen dann? Wer hat es hier platziert? Wie soll ich es öffnen? Soll ich es öffnen? Soll ich es wieder hinlegen und weitergehen? Wieso hab ich das Gefühl, dass ich es um jeden Preis öffnen muss? Und wieso passt mein rechter Zeigefinger genau in eine Mulde auf der Unterseite?
Ja, wieso tat er das?
Ich drehte das Kästchen neugierig um und erkannte bei ganz genauem Hinsehen eine kleine Einkerbung, eine Mulde die sich passgenau um meinen Finger schmiegte, als wären Kästchen und Finger füreinander geschaffen worden.
Ich drückte, rieb, drehte, aber nichts tat sich. Merkwürdig.
Ich versuchte meine Gedanken zu sortieren und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich muss demnächst das Unkraut auf dem Grab meiner Mutter entfernen, das sollte ich mir aufschreiben, bevor ich es vergaß.
Ich versuchte, vorsichtig Stift und Notizblock aus meiner Tasche zu wühlen, ohne das Kästchen loszulassen. Als ich nun anfing zu schreiben, raschelte es plötzlich im Gebüsch und ich ließ vor Schreck meine Sachen fallen. Katze.
Bloß eine Katze. Und ein klickendes Geräusch.
Moment, was war das? Woher kam dieses Geräusch?
Ich schaute auf den Boden, sah den Notizblock, auf dem ich gerade mal bis „Unkrau..“ gekommen war und das Kästchen, auf dem nun der Stift ruhte. In senkrechter Position inmitten der Mulde.
Wie war das möglich? Da war kein Loch in der Mulde gewesen, ich hatte alles ausprobiert? Wie konnte der Stift sich nun darin halten?
Langsam hob ich alles auf und zog sanft am Ende des Stiftes, woraufhin er sich mit einem leisen *Klack* löste und einen kleinen Holzstab aus dem Inneren nach oben beförderte, der sich nun vom Rest des Kästchens abhob.
Ich war vollkommen verwirrt.
Wie war das möglich und wo lag der Sinn bei der ganzen Sache? Wofür wurde dieses Kästchen entworfen und warum hatte ich mit meinem Finger nichts ertasten, aber mein Stift es öffnen können?
Nun stand ich da, das Herz klopfte wie wild in meiner Brust und ich fühlte mich auf einmal unwohl. Meine Hand zitterte, aber ich bewegte meinen rechten Zeigefinger vorsichtig auf die Mulde zu. Ich drückte den Holzstab zurück in das Kästchen und es ertönte erneut ein leises *Klack*.
Ich wartete –
Nichts passierte.
*Klack*
*Klack**Klack*
Das Kästchen teilte sich in der Mitte, sprang auf, ich sprang zurück und ließ es fallen.
Mein Puls stieg ins Unermessliche und mit zitternden Gliedmaßen näherte ich mich dem Inhalt des Kästchens. Ich betrachtete den Fund lange. Las alle Zettel doppelt und dreifach, betrachtete die Gegenstände von allen Seiten.
Und plötzlich machte alles einen Sinn.
Das Kästchen, die Mulde, der Stift.
Meine Mutter war am Leben.