Familienbande
Ich bin das übliche schwarze Schaf, das wohl in jeder Familie vorkommt. Obwohl ich vermutlich eher das graue Schaf bin. Grau mein Alltag, durchschnittlich meine Intelligenz. Kurz und gut, in einer Familie mit lauter Genies, ein durchsichtiges Nichts. Da ich nicht oder nur kaum wahrgenommen werde, kann ich die Genies sezieren, kritisieren und verunsichern, ohne dass es auf mich als Person zurückfällt. Verunsichern bereitet mir wohl die meiste Freude. Ein Beispiel: Da wäre mein Bruder Alfredo, Musiker, Pianist, sie werden schon von ihm gehört haben -Alfredo Carasso-. Richtig vermutet, meine Familie hat ihre Wurzeln in Italien, genauer in Mailand. Wir sind weit verzweigt und über ganz Europa verteilt. Ich fühle mich als Europäer. Sie merken ein schwarzes Schaf eben. Kommen wir auf Alfredo zurück. Sein wunder Punkt, sie werden es kaum glauben, sein Haar. Es ist erstaunlich, Männer die ihre Haare verlieren sollen doch besonderst Potent sein, ja förmlich überquellen von männlichen Hormonen. Sicherlich ist diese These übertrieben, da die meisten Männer meiner Bekanntschaft, deren Kopf durch Kahlheit glänzt, über siebzig Jahre alt sind. Alfredo jedoch ist 43 Jahre alt und sie werden zugeben, sein Haar ist wundervoll. Schwarze Locken, die während des Klavierspiels auf und niederwogen wie das Gras auf den Weiden an stürmischen Tagen. Aber ich muss ihnen hier leider die Augen öffnen, alles Illusion. Zwar nichts aufregenderes als Silikonbrüste oder Jacketkronen aber eben auch nicht echt. Nicht einmal unsere Mutter weiß davon. Ich habe mich hilfsbereit gezeigt als mein Bruder anfing seine Haare so zu frisieren, dass die kahle Stelle in der Mitte möglichst verschwand. Der Figaro, ein Meister seines Faches, fertigte diese wunderbare Lockenkreation. Wenn ich mit Alfredo zusammen bin schaue ich unentwegt auf seinen Kopf, ich friere meinen Blick ein. Er sieht mir in die Augen und ich stiere auf sein Haar. Ich labe mich an seiner Reaktion, seiner Unsicherheit. Mein normalerweise schwermütiges Wesen fällt von mir ab, ich blühe auf. Gut, sie werden denken, dieser Mann ist ein Fall für den Psychiater. Sie haben die Freiheit zu denken was sie möchten. Aber steckt nicht in jedem von uns der Wunsch zu triumphieren. Selbst bei so banalen Dingen wie Auto fahren. Es ist doch maßlos ungerecht auf der Autobahn von einem anderen Auto überholt zu werden. Spüren sie nicht auch diesen kleinen Stachel der Wut darüber, dass diese Frau oder dieser Mann sich ein PS-stärkeres Auto leisten kann, oder den Mut und die Verrücktheit besitzt sich über Geschwindigkeitsbegrenzungen hinwegzusetzen, die sie aus Angst vor den Folgen immer einhalten. Es ist ihnen doch eine tiefe Genugtuung, wenn die Polizei diese Zeitgenossen erwischt. Denken sie daran, bevor sie über mich urteilen und vergessen sie nicht, dass meine Familie mit großen Männern reich gesegnet ist, wie soll ich als einfacher Verkäufer da mithalten. Was zählen schon die Freuden eines durch und durch durchschnittlichen Menschens. Ja sie werden einwenden, dass die meisten von uns durchschnittlich sind und sehr gut damit zurechtkommen. Ich vertrete eher die Meinung, dass die Meisten von uns durchschnittlich gemacht werden, damit es Verkäufer, Büroangestellte und die freundliche Müllabfuhr gibt. Aber ich möchte mich nicht beschweren, mir standen alle Türen offen, doch ich war schon als Kind durchschnittlich. Vielleicht war der Genpool meiner Familie erschöpft. Sechs Söhne hat meine Mutter geboren und fünf davon haben es, so sagt man, zu etwas gebracht. Die Lehrer unserer Schule konnten gar nicht glauben, dass bei einem Carasso durchschnittliche Intelligenz überhaupt möglich ist. Sie verzweifelten an mir, man warf mir vor faul zu sein oder durch falsche Freunde beeinflusst. Ich ließ sie in diesem Glauben und bin froh ihnen entronnen zu sein. Langweile ich sie, geben sie es ruhig zu, aber aufgepasst ich komme zu meinem nächsten Trumpf, meinem Bruder Lucio, ja genau jener der mit seinen Forschungen im Bereich der künstlichen Intelligenz knapp am Nobelpreis vorbeigeschramt ist. Sein wunder Punkt liegt tiefer, er tritt nicht so deutlich zu Tage wie bei Alfredo. Lucio hat schreckliche Angst vor dem, was er eines Tages erfinden könnte. Visionen von menschenbeherrschenden Maschinen quälen ihn, aber gleichzeitig forscht er wie besessen an der Verwirklichung seiner quälenden Visionen. Ich liebe es ihm die Literatur zu schenken, in der seine schlimmsten Albträume Wirklichkeit werden. Letzte Woche war ich mit ihm im Kino, (der Film hieß Matrix) so schön hat bisher noch kein Regisseur Lucios Angstvorstellungen umgesetzt, er war an diesem Abend völlig durcheinander. Er beschimpfte seine Freundin, die ich liebevoll tröstete und betrank sich sinnlos. Es war der schönste Abend seit langem. Nun zu meinem wohl interessantesten Bruder Guido. Geht es ihnen zu schnell, tut mir leid, aber meine Zeit ist begrenzt. Guido lebt in der Schweiz, verheiratet mit einer der letzten Prinzessinnen dieser Welt. Prinzessinnen gibt es viele werden sie einwenden, aber die von Geld und Adel sind selten, ja fast ausgestorben. Nein, sein wunder Punkt ist nicht, dass seine Frau mehr Geld besitzt als man in einer Generation ausgeben kann, dass wäre aber auch zu einfach. Guido ist im Gegensatz zu mir doch nicht Durchschnitt. Guidos wunder Punkt liegt in der Vergangenheit. Entschuldigen sie bitte, wenn ich hier ein wenig aushole: Wir wuchsen in einer großzügigen, von einem wunderbar wilden Garten umgebenen Villa in einem Mailänder Vorort auf. Unser Haus war das was man gastfrei nennt. Ich lernte schon in frühester Jugend die Berühmtheiten meines Heimatlandes kennen ohne je so etwas wie Ehrfurcht zu empfinden. Meine Eltern platzten vor Stolz, wenn sie verkündeten, heute haben wir den Bürgermeister oder Herrn Abanti, einen zu jener Zeit außergewöhlichen Maler, zu Gast. Ich beachtete unsere Gäste nicht und sie vergolten es mir ebenso. Wenn ich auf einer Fotografie auftauchte dachten sie sicher ich sei der Sohn der Köchin. Mir lag nichts daran ihren klugen Gesprächen, ihren Theorien und Thesen zu lauschen, wobei ich zugeben muss, wenn ich es versuchte verstand ich kein Wort. Als ich einmal darüber aufgebracht war, dass unsere Gäste sich in einer derart unverständlichen Sprache ausdrückten, nahm meine Mutter mich in den Arm und meinte nur, du bist zu jung mein Sohn. Ich war damals fast zwölf und Guido der nur ein Jahr älter war als ich, verstand alles. Seine klugen Zwischenfragen wurden beachtet und wohlwollend beantwortet. Ich hingegen war in meinem Elternhaus ein Fremdkörper. Ich isolierte mich mehr und mehr und gewann den Abstand den ein Beobachter braucht um das zu tun was er am besten kann, beobachten. Als ich dreizehn Jahre alt war, verlor ich den einzigen Menschen der mich ab und zu bemerkte, meinen Großvater. Es ist nicht so, dass ich in Liebe an ihm hing aber er zwang mich gelegentlich meinen Beobachtungsposten zu verlassen. Er war nicht dieser gütige Großvatertyp der wahrscheinlich auch nur im Märchen vorkommt. Er war weder gütig noch großzügig. Knochenhart und geizig war er. Sein Geiz ging so weit, dass er den unverbrannten Tabak aus der Pfeife meines Vaters kratzte und in die seine stopfte. Er schollt den ganzen Tag über die schreckliche Verschwendung in unserem Haus. Er war der Albtraum der Köchin, die seiner Meinung nach viel zu großzügig mit den Lebensmitteln umging. Auch unsere Gäste hatten einiges unter ihm zu leiden. Aus dieser Sparsamkeit heraus, hatte er hinter dem Haus einen kleinen Garten angelegt, in dem allerlei Gemüse, Obst und Salat wuchs. Je älter er wurde, je mehr überließ er es mir, selbstverständlich unter seiner Anleitung, den Garten zu pflegen. Ich hasste das Gebuddel, Gejäte und Geschufte aber es hielt mich von meiner Schwermütigkeit ab und sorgte dafür, dass mein Körper kräftiger wurde. Ich konnte es körperlich wenigstens mit zweien meiner älteren Brüder aufnehmen, so etwas gibt Sicherheit. Dieser Großvater starb also und wurde wie es bei uns damals Sitte war in einem Zimmer unseres Hauses zwei Tage lang aufgebart. Kerzen und Blumen gaben dem Raum etwas Schauerliches. Für Guido und mich war er der erste Tote den wir sahen. Guido war neugierig aber feige. So kam er in der Nacht, bevor mein Großvater endgültig beerdigt werden sollte zu mir und bat mich mit in das Totenzimmer. Es stank fürchterlich in diesem Raum. Desinfektionsmittel, Blumen und Weihrauch konnten diesem Gestank nichts anhaben, der Verwesungsprozess schritt unaufhaltsam fort. Mein Großvater hatte seine Schrullen, er wollte im Nachthemd, mit Schlafmütze und Bettschuhen beerdigt werden. Ihm wurde diese Bitte erfüllt, ein Umstand der für das Vorhaben meines Bruders geradezu ideal war. Guido war 14 und der neugierigste Mensch der mir je begegnet ist. Er hatte einen kleinen Lederbeutel dabei. Ich tat was ich immer tat, ich beobachtete. In diesem Lederbeutel bewahrte mein Bruder Lucio, der zu diesem Zeitpunkt ein Medizinstudium absolvierte, sein Sezierbesteck auf. Guido hatte es geklaut, daran bestand kein Zweifel. Niemals rückte der eingebildete Affe Lucio freiwillig einen seiner Schätze heraus. Vor allem hätte er Fragen gestellt, und Guido war ein verdammt schlechter Lügner. Vorsichtig zog er Großvater einen seiner Bettschuhe aus und betrachtete den Fuß neugierig von allen Seiten, dann nahm er ein scharfes Skalpell und entfernte vorsichtig die oberste Hautschicht bis hinauf zum Knöchel, geradeso wie man einem Kaninchen das Fell abzieht. Er arbeitete konzentriert und vorsichtig. Stück für Stück arbeitete er sich vor. Stunde um Stunde verging, der Gestank wurde immer unerträglicher doch das Schauspiel, das sich mir bot, ließ ihn mich vergessen. Ich war erstarrt und angeekelt aber gleichzeitig unglaublich fasziniert. Als er die Fußknöchelchen freigelegt hatte wurde es draußen schon hell. Völlig ruhig klebte er alles mit Leukoplast feinsäuberlich wieder an, wickelte eine Bandage darum und zog meinem toten Großvater den Bettschuh liebevoll wieder an. Dann trat er ans Fenster, öffnete es und kotzte zum Fenster heraus. Er keuchte, würgte und spukte als wolle er niemehr damit aufhören. Es war schwierig ihn unbemerkt auf sein Zimmer zu bringen aber es gelang schließlich doch. Seit dieser Zeit rührt Guido kein Stück Fleisch mehr an, er ernährt sich rein vegetarisch. Wobei er auch hier leicht angefaulte Stücke meidet. Es ist ein großer Spaß vor seinen Augen ein englisch gebratenes Steak zu verzehren. Guido ist sensibel, man sieht ihm sein Leiden an, er wird bleich und ich bin sicher, dass es ihm nur mit größter Beherrschung gelingt sich nicht zu übergeben. Triumph über Triumph. Sie werden sich fragen warum ich ihnen das eigentlich alles erzähle. Also kommen wir dazu, wie könnte es anders sein, ein großes Familienfest steht bevor. Meine Eltern feiern ihre goldene Hochzeit und von nah und fern werden all meine lieben Geschwister, mich eingeschlossen, zum Haus meiner Eltern pilgern um dieses Fest zu begehen, davon später. Meine Eltern: Oberflächlich betrachtet ein ganz normales Ehepaar, aber mit den Augen eines Beobachters, Kriegsgeneräle, deren Leben aus tausend und einer Schlacht gegeneinander besteht. Früher trugen sie ihre Wortschlachten lautstark aus, wobei auch Teller und kleinere Möbelstücke flogen. Die Siege hielten sich die Waage. Mein Vater ist etwas älter als meine Mutter und schon ein wenig vergesslich, meine Mutter genießt es, ihm leise und still seine Dummheit unter die Nase zu reiben, ihr Sieg. Wenn sie es zu arg treibt, pinkelt er ins Bett, das sie dann wieder säubert, sein Sieg. Haben sie jetzt eine Art Aha-Erlebnis. Nein meine Eltern haben mit meiner Durchschnittlichkeit nichts zu tun, ihre Siege sind offen und für den Gegner klar ersichtlich. Ich bin so grau, dass meine Siege nicht auffallen. Meine Geschwister halten mich für den verständlichsten ihrer Brüder, jemand dem sie ihre Sorgen erzählen, nicht um einen Ratschlag zu bekommen, mehr so als wenn man sie in ein Tagebuch schreibt, abgelegt und vergessen. Ich bin der Archivar, wer würde von einem Archivar Ratschläge über das Leben verlangen. Es wird das letzte derartige Fest sein an dem ich teilnehmen kann, denn ich werde an einer durchschnittlichen Krebserkrankung, die etwas zu spät entdeckt wurde, weil mein Arzt meine Beschwerden nicht ganz so ernst nahm wie er es hätte tun sollen, sterben. Nehmen sie es dem Arzt nicht übel, er hat so viele interessante Patienten, wenn er bei so einem langweiligen Alltagsmenschen wie ich es bin etwas übersieht, mein Gott, er ist auch nur ein Mensch. Und sterben müssen wir letztendlich alle. Der einzige Unterschied ist, dass ich im Gegensatz zu ihnen den Zeitpunkt kenne. Bitte kein Mitleid und trauriges Schluchzen, bedenken sie das ich ein von Natur aus schwermütiger Mensch bin, der nicht sehr am Leben hängt. Wobei ich gestehen muss, dass mir Schmerzen und Siechtum sehr wohl Angst machen. Deshalb werde ich mein Leben just am Tage der goldenen Hochzeit meiner Eltern beenden. Nicht theatralisch, keine Angst, ich werde mir treu bleiben und unauffällig verschwinden, natürlich erst, nachdem ich noch einmal all meine kleinen Hochs ausgekostet habe, am Abend, in meiner kleinen Wohnung, allein. Man wird mich erst finden, wenn die Gläubiger der Elektrizitätsfirma oder meines Vermieters die Türe aufbrechen, so etwa in einem Jahr. Solange wird der Vorrat an Geld, den ich auf dem Konto habe reichen. Arbeitskollegen und Freunde? Nein, meine Arbeitsstelle ist gekündigt und meine Kollegen, sie waren nicht unfreundlich zu mir, ja auch sie respektierten mich als Beobachter und Archivar ihrer Träume und Untaten. Freunde? Ich muss sie enttäuschen, es wird so kommen wie ich es sage. Doch ich bin vom Thema abgekommen verzeihen sie bitte. Ich habe ihnen erst drei meiner Geschwister vorgestellt: 1. Alfredo den Musiker, 2. Lucio den Wissenschaftler, 3. Guido den Prinzgemahl. Entschuldigung, ich bin müde, für heute mache ich Schluss. Ich muss gestehen, dass mich das Schreiben, seit meine Krankheit sich Stück für Stück durch meinen Körper frisst, sehr ermüdet. Aber auch hier ist kein Mitleid angebracht, ich spüre nichts davon, die Pharmaindustrie macht dies möglich. Nur gegen die bleierne Müdigkeit die mich von Zeit zu Zeit befällt gibt es kein Mittel. Ich werde mich also ein wenig schlafen legen.
Es ist vier Uhr morgens und ich werde nun meinen Bericht fortsetzten, damit sie richtig vorbereitet sind und den großen Tag mit mir genießen können. Nummer 4, Marco, ein durchtriebener Geschäftsmann der sehr nach meinem Großvater schlägt. Marco ist krankhaft geizig, erträgt es jedoch, im Gegensatz zu seinem Großvater, wenn andere Geld ausgeben, vorzugsweise für ihn. Jeder Pfennig den Jemand ausgibt macht diesen Jemand ein bischen ärmer und dieses Gefühl ist eine tiefe Befriedigung für meinen Bruder Marco. Es wäre nun einfach Geld für seinen schwachen Punkt zu halten, viel zu oberflächlich für einen gründlichen Beobachter, der ich, wie ich glaube, bin. Marco ist eine Größe im Wirtschaftsleben und eine Größe in der Finanzwelt. Nur an körperlicher Größe fehlt es ihm. Viele Männer meines Landes sind keine Riesen aber Marco ist auch mit den gutmütigsten Augen betrachtet mit 1,45 Metern ein Zwerg. Wir hätten jetzt Geld und Körpergröße, aber es ist etwas ganz anderes. Marco wird mit allem Fertig und am Meisten Angst hat er davor mit etwas nicht fertig zu werden. Sein Fall war und ist für mich nicht ganz einfach, ich muss ihn vor Situationen stellen mit denen er nicht fertig wird, die er nicht lösen kann. Dies erfordert immer längere Überlegungen. Als wir Kinder waren, da habe ich einfach den Mantel meines Bruders an den obersten Haken der Garderobe gehängt. Ich wusste genau, dass es nicht seine Größe war die ihm zu schaffen machte sondern die Tatsache das er das Problem nicht ohne fremde Hilfe oder durch das Benutzen von Hilfsmitteln, wie Leitern oder Stühle, lösen konnte. Er war ein Pedant in diesen Dingen. Er ist jedoch reifer geworden und hat inzwischen Hilfsmittel in Problemlösungen einbezogen. Da ich im Geschäfts- und Finanzleben eher ein Laie bin verlege ich mich auf das Feld Familie. Marco hat eine große Familie, er ist stolzer Vater von vier Kindern. Jetzt kommt meine ganze Freude, mein kleiner Neffe Tonio, inzwischen 6 Jahre alt. Tonio isst seit drei Jahren nichts anderes als trockenes Brot. Er weigert sich standhaft. Alle Mineralstoffe und Vitamine müssen ihm in Form von Flüssigkeiten mühsam eingeflößt werden und das in einer italienischen Familie. Das Essen zur Feier der goldenen Hochzeit meiner Eltern wird mindestens aus elf Gängen bestehen. Für Tonio elf Gänge trockenes Brot. Psychiater und Ärzte haben ihn untersucht und behandelt, nichts zu machen, das Kind hat Charakter. Sie können sich denken, dass es mir große Freude macht mich mit meinem Bruder Marco über Tonio und seine Gesundheit zu unterhalten. Es bringt ihn an den Rand des Wahnsinns. Meinen kleinen Tonio werde ich vermissen, er sieht seiner Familie zu, grenzt sich aus, ist schwermütig und malt seine Bilder in schwarz oder grau. Im Unterschied zu mir ist er jedoch nicht durchschnittlich, er hat künstlerisches Talent, seine Bilder sind nicht die eines Sechsjährigen, er ist erschreckend reif.
Die Stunden die ich mit Schlaf vertrödele werden immer mehr, ich habe gestern keine einzige Seite geschrieben. Es gibt noch so viel zu erzählen und vorzubereiten. Immerhin habe ich schon eine Fahrkarte gekauft und meinen Anzug aus der Reinigung geholt. Als ich die Treppe zu meiner Wohnung hinauf stieg, hatte ich auf einmal Angst, dass ich es nicht mehr schaffen werde meiner Familie die Krankheit zu verheimlichen. Ich habe das Gefühl alle sehen meine Schwäche. Die Frau in der Reinigung bot mir einen Stuhl an, weil ich ein wenig warten musste. Derartiges ist mir früher nie passiert. Seltsam, ich bin nicht mehr grau, unauffällig und durchschnittlich kurz bevor ich überhaupt nicht mehr da bin, welch eine Ironie. Die Nachbarskinder wollten mir die Einkaufstasche herauftragen, ich habe sie jedoch böse verscheucht. Ich möchte meine Pläne nicht mehr ändern. Ich will Beobachter bleiben und nicht zum Gegenstand der Beobachtung werden. Ich fahre nun fort in meiner Erzählung. Sebastiano mein lieber Bruder ist, wie sollte es anders sein - Kunst ist vertreten, Wissenschaft, Geldadel, Wirtschaftsmacht- Geistlicher, ja laut Gerüchten gar im Gespräch als Nachfolger des amtierenden Papstes. Meiner Meinung nach ist er für dieses Amt mit fünfzig noch etwas zu jung. Man bedenke wie lange sein Nachfolger dann auf diese Position warten müsste, die Herren die in Frage kommen sind ja alle nicht mehr so sehr jung. Hier ist die Sachlage ganz banal, er hat eine Sünde begangen und ich weiß davon. Sebastiano wird im Haus meiner Eltern stets an diese Sünde erinnert, ich sorge dafür. Seien sie nicht so spießig, sie werden doch nicht glauben, dass es einen Menschen gibt der noch nie etwas getan hat was sündig war. Mein Bruder, da bin ich sicher, hat nur dieses eine Mal gesündigt und büßt schon seit fünfunddreißig Jahren dafür. Haben sie Mitleid, ja erteilen sie ihm die Absolution hier und jetzt. Gut das Ganze wird gotteslästerlich, da er, also ich mein Gott, Jahwe oder wie immer sie ihn nennen möchten, der einzige ist, der Absolution erteilen kann. Sie werden schon bemerkt haben, dass meine Einstellung unabhängig meiner Herkunft eher atheistisch geprägt ist und ich nicht an einer Auferstehung im Paradies interessiert bin. Meine Füße sind während ich dies hier schreibe eiskalt geworden, ich werde mir lieber eine Decke holen, schließlich muss ich auf meine Gesundheit achten. So also Sebastiano der Gute, ich möchte sie nicht länger auf die Folter spannen, hat einen kleinen Diebstahl begangen. Allerdings einen Diebstahl für einen guten Zweck, den Geburtstag meiner Mutter. Er stahl das Geld meinem Vater, der Geld immer unachtsam umherliegen ließ. Wir bedienten uns alle manchmal, meinem Vater ist nie etwas aufgefallen. Sebastiano war schon immer, wie soll ich es ausdrücken, gläubig umfasst das Ganze nicht so richtig. Er war wie ein Pharisäer und behauptete, alles zu befolgen, was in den biblischen Geboten stand. Er beharrte stur darauf, dass das der einzige Weg in eine glückliche und zufriedene Zukunft sei. Nun ja, er war nach seiner Tat so verwirrt, dass er mit jemandem darüber sprechen musste. Voil´a. Er hat meiner Mutter damals ein kleines Hündchen aus Bronze geschenkt, es hat einen Ehrenplatz zwischen den Bildern ihrer Lieben auf der Kommode im Wohnzimmer. Entschuldigen sie bitte das ich unterbreche, es klingelt ungewöhnlicher Weise an meiner Türe. Nicht meine Müdigkeit, sondern Etwas ganz Erstaunliches hat mich davon abgehalten gestern weiterzuschreiben. Als ich die Tür öffnete, stand mein kleiner Neffe Tonio mit einem kleinen Koffer davor. Sie können sich vorstellen, dass ich die Türe am liebsten wieder zugeworfen hätte und meine Neugier verfluchte. Tonio sah mich stumm an und wartete. Ich öffnete also ganz und ließ ihn herein. Tonio ist zwar erst 6 Jahre alt, wirkt aber völlig erwachsen. Er telefonierte sofort mit seiner Mutter und teilte ihr mit, wo er sich befand. Sonst sprach er erst einmal nichts. Er setzte sich und sah sich um. Ich setzte mich wieder und wollte weiterschreiben aber irgendwie hatte ich den Faden verloren. Das Telefon klingelte, mein Bruder. Er wollte Tonio sprechen. Tonio sagte seinem Vater ganz klar, dass er von jetzt an bei mir wohne und seine Entscheidung nicht mehr abänderbar sei. Er legte auf, es klingelte erneut. Tonio gab mir wortlos den Hörer. Mein Bruder sprach leise, als habe er Angst, sein Sohn könne mitanhören, was er mir zu sagen hatte. „Lass ihn ein paar Tage bei dir wohnen, er macht keinen Ärger und bring ihn zur Hochzeitsfeier der Eltern mit, bitte.“ Ich gab Tonio den Hörer und nickte. Tonio legte ihn wieder säuberlich auf die Gabel. Als ich Tonio nach dem Warum fragte, sagte er nur, dass er sich wünschte sein Vater wäre wie ich. Dieser eine kleine Satz stürzte mich in tiefe Verzweiflung, ich brauchte bis zum nächsten Morgen um meine Gedanken wieder in die richtige Ordnung zu bringen. Tonio ist meine Durchschnittlichkeit einfach noch nicht bewusst, er weiß nichts von meinen heimlichen Freuden, die ihm sicherlich niederträchtig vorkommen, er ist trotz allem ein Kind. Es geht mir nicht gut, Tonio sah wortlos zu, wie ich meine Medikamente schluckte. Als ich mich zum schreiben hinsetzte brachte er mir eine Decke. Wir sind zusammen einkaufen gegangen. Wir brauchen nicht viel, ein paar Scheiben Brot und ein bischen Obst für mich. Ist ihnen schon einmal der Gedanke gekommen das ihre Inkarnation schon lebt. Aber das ist zu verrückt, außerdem ist Tonio nicht grau und durchschnittlich. Andererseits ist er mein vollkommenes Gegenüber. Wenn ich ihn ansehe ist es, als sähe ich in einen Spiegel. Seine kleine Gestalt spielt keine Rolle, seine Gesten, seine Haltung. Meine Seele spielt mir Streiche, sie gaukelt mir in Tonio ein Leben nach dem Tot vor. Ich werde nicht zulassen, dass ich ausgerechnet jetzt sentimental werde. Die Intervalle in denen ich nicht zu müde zum schreiben bin werden kürzer und kürzer. Ich hasse mich für meine Kraftlosigkeit.
Der kleine Tonio ist mir jetzt eine richtig Hilfe geworden, ich wüsste nicht was ich ohne ihn anfangen sollte. Es ist depremierent, dass er mich so sieht. Wir haben über den Tot gesprochen. Ich habe diesem kleinen Jungen erzählt, dass ich sterben werde. Er hat keine Angst, er ist nicht davongelaufen. Er hat gefragt wann und woran. Wir haben über die Krankheit gesprochen, viele Stunden. Tonio hat mich heute in die Arme genommen und mir mit feierlicher Stimme erklärt, dass er bis zu meinem Tot bei mir bleiben würde und da er wisse, das ich den Tot begrüße, er auch keine Furcht habe. Ich bin erschüttert, ich bin der erste Mensch den Tonio seit 3 Jahren in den Arm genommen hat.
Welch ein eingebildeter Unsinn von mir, mich mit diesem Kind zu vergleichen, ja von meiner Wiedergeburt zu sprechen. Er ist größer als ich und alle meine Brüder zusammen. Man hat den Fehler begangen, ihn wegen seines Alters für ein Kind zu halten, er verstummte und sonderte sich ab. Würden sie sich in einem Kindergarten wohlfühlen und wären sie bereit dort Freundschaften zu schließen? Selbst wenn sie einen Freund fänden, er hätte niemals dieselben Träume und Gedanken wie sie. Das erstemal in meinem Leben scheint sich ein Mensch für mich und meine Empfindungen zu interessieren, es ist eine ganz außergewöhnliche Erfahrung für mich, der nur beobachtete aber niemals beobachtet wurde. Tonios Augen sind freundlich, dass ist das Kind in ihm, oder die mangelnde Erfahrung mit anderen Menschen, die meist nicht ein Gramm Freundlichkeit wert sind. Ja, ich kenne das Gleichniss, wer ohne Sünde sei werfe den ersten Stein. Ich bin nicht freundlich, war es nie. Ich kann diese Welt und die Menschen in ihr, nichts als beobachten, verstehen kann ich sie nicht. Als Junge habe ich viel darüber nachgedacht, was man verändern könnte. Meine Eltern und Lehrer haben mir schnell jegliche Illusionen genommen, sie haben mich wie man so schön sagt auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ich war wohl auch zu anpassungsfähig um mich groß dagegen aufzulehnen.
Ich fühle mich heute etwas wohler und gehe nachher mit Tonio in den Zoo, ich glaube er mag Tiere. Unser Besuch im Zoo war anstrengend, nicht so sehr körperlich, sondern geistig. Tonio war zornig auf seine Rasse, die Menschen. Die sich einbilden etwas ganz Besonderes zu sein, etwas Gottartiges, dass anderen Lebewesen die Freiheit nimmt und dann noch sagt, dass ist das Beste für die fast ausgestorbenen Nashörner, wir erhalten ihre Art. Zu welchem Preis erhalten wir die Art. Dieser Preis ist zu hoch, viel zu hoch. Mein Argument, dass die Tiere im Zoo länger leben als in freier Natur und man sich bemüht sie Artgerecht zu halten und dass manch ein Mensch zwischen Arbeit und Alltag auch nicht freier ist als sie, ließ er nicht gelten. Ich wollte gehen, doch er wollte den Zoo erst verlassen, wenn er sich ein komplettes Bild gemacht und jedes Tier gesehen hatte. Ich war erregt und konnte es fast nicht ertragen, wie traurig es diesen kleinen Jungen machte von Käfig zu Käfig zu laufen und in jedem nur noch den Schatten des Wesens wahrzunehmen welches das Tier einstmals war. Mir wurde, als ich dies alles aufschrieb klar, dass ich viel gemeinsames mit diesen Tieren habe. Ich bin das Produkt eines Käfigs. Tonio schläft jetzt. Es wird sie überraschen, dass ich ein neues Ziel habe. Ich möchte erreichen, dass Tonio nicht in einen Käfig gesperrt wird. Es muss ihm ermöglicht werden ein freier Geist zu bleiben. Sonst wird er wie ich, ein zynischer, depressiver und abweisender Mensch, der nur schwer von seiner Umwelt ertragen und deshalb möglichst gemieden und nicht beachtet wird. Mein Leben geht zu ende und sein Sinn war vielleicht die Erkenntnis, dass ich es vergeudet habe. Ich bin müde, meine Beine zittern wie die eines alten Mannes, ob ich will oder nicht, ich muss dem nachgeben und mich ausruhen.
Heute morgen habe ich mich fast nicht im Spiegel erkannt, eine ausgezehrte Fratze lächelte mir entgegen. Nie habe ich bemerkt, dass sich meine Ohren beim Lächeln nach hinten enger an den Kopf schmiegen, wie bei einem ängstlichen Kaninchen, das man gleich am Nackenfell aus dem Käfig zieht. Habe ich Angst meinen Käfig zu verlassen. Er ist gewohnt und mein Leben bald zu Ende. Es ist für mich einfacher die letzten Wochen im Käfig zu verbleiben. Heute werde ich mit Tonio ins Rathaus gehen und an einer öffentlichen Sitzung teilnehmen. Ich muss ihm etwas beweisen an das ich selbst nicht mehr glaube, nämlich das man etwas verändern kann. Es ist ein Spagat für mich, denn ich möchte aufgeräumt sterben. Tonio hat Feuer gefangen, ein junger Mann, hat so überzeugend seinen Standpunkt vertreten, das viele der Älteren ihm zustimmten und in die Planung eines neuen Wohngebietes wurde eine große unbebaute Fläche aufgenommen, die als Park genutzt werden kann. Ich bin glücklich, Tonio fängt an mir zu glauben, dass man für seine Wünsche kämpfen muss und nicht passiv auf deren Erfüllung warten darf. Er hat seinen Vater angerufen und ihm von meiner Krankheit und seinem Wunsch bis zu meinem Tot bei mir zu bleiben erzählt. Mein Bruder machte ein mächtiges Gezeter und Tonio übergab mir den Telefonhörer. Es kostete mich mehr Kraft als man erahnen kann mit meinem Bruder über meine Gefühle und meinen bevorstehenden Tod zu sprechen. Ihm zu erklären, dass mir der Tod keine Angst macht, weil täglich in unserem Körper Zellen sterben und weil ich gemessen an der Größe des Universums nur eine Zelle bin. Er versprach mir den Mund zu halten und den restlichen Verwandten nichts zu sagen, wenn ich ihm verspreche anzurufen wenn ich merke, dass es soweit ist. damit er bei mir und Tonio sein kann, wenn es zu Ende geht. Eine Ausrede für meine und Tonios Abwesenheit beim großen Fest übermorgen wird ihm schon einfallen. Mein Programm für die nächsten Tage ist anstrengend, morgen gehen wir in eine Galerie. Ich möchte Tonio zeigen, was den Menschen von seinen Mitgeschöpfen auf dieser Erde unterscheidet. Es ist mir egal, wenn sie vergeblich den bösartigen Zyniker suchen und befriedigt sind, das es auch in mir gute Seiten gibt. Wir Menschen lieben das Gute und das Happy End. Es war mir schon immer egal was über mich gedacht wurde aber nie in einem solchen Ausmaß wie jetzt. Ich habe Angst, meine Käfigtür steht offen und ich habe schon hinaus geblinzelt. Seit unserem Besuch in der Galerie schmiert Tonio Papier und Wände mit Farbe zu. Wir mussten schon zweimal neue Farbe nachkaufen. Er benutzt keinen Pinsel er nimmt seine Hände, taucht sie tief in die Farbe ein und malt mit der ganzen Hand über die Fläche, er ist wie im Rausch. Um herauszufinden was für ein Gefühl es ist, ich meine, wie sich die Farbe anfüllt, habe ich gerade meinen Finger in einen der Töpfe gesteckt. Erschreckt lief ich ins Badezimmer und wusch meine Hände. Ich lese Tonio vor, nein keine Märchen, ich lese ihm von Pythagoras oder von Leonardo da Vinci, von Sokrates und Edison, von Marie Curie und Einstein. Ich lese ihm Gedichte von Oscar Wilde und Geschichten von Heinrich Böll und Jules Vernes. Er spricht mehr und mehr, er lacht und er hat angefangen ruhiger und besonnener zu malen. Morgen werde ich für ihn die Musik neu Entdecken wir gehen ins Konzert.
Es war ein wunderbarer Abend, der Konzertsaal war ausverkauft, wir saßen in der ersten Reihe und Tonio konnte den Musikern genau auf die Finger schauen. Er war fasziniert von dieser Perfektion, besonderst der Querflötist hatte es ihm und auch mir angetan. Dieser Mann spielte mit einer solchen Leichtigkeit, als sei er mit diesem Instrument in den Händen geboren. Bei den tieferen Tönen kam ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit in mir auf. Während die hohen Töne Lebensfreude und das Gefühl von Frühling und Neuanfang auslösten. Tonio ging es ähnlich, wir legten uns an diesem Abend tief befriedigt schlafen.
Nach dem Hochgefühl der vergangenen Tage bin ich heute tief betrübt, mir geht es körperlich so schlecht, dass ich meine ganze Willenskraft aufbringen musste um aufzustehen. Ich sitze jetzt, mit einer Decke über den Schultern am Tisch und schreibe. Heute werde ich meinen Bruder anrufen. Ich kann nicht warten bis mein Körper sich langsam zerstört und mir Tonio dabei zusieht. Er ist noch so klein und ich möchte nicht, dass er mich abwesen und von Morphium umnebelt in Erinnerung behält. In zwei Tagen werde ich an einer Überdosis Morphium sterben. Es wird ein Montag sein, ich habe mit bedacht gewählt. Montag ist der Tag an dem sich die Tretmühle für die meisten Menschen bis Freitag zu drehen beginnt. Montag, den 25. September. Ich möchte nicht in unserer Familiengruft beerdigt werden, man soll mich verbrennen und anonym beerdigen. Die Vorstellung, dass ich meinen Ahnen Rede und Antwort stehen muss graust mich. Vielleicht finden sie mich auf diese Weise ja nicht. Was rede ich da für einen Blödsinn, ich sage es hier nochmals unter Zeugen, ich glaube an die Naturgesetze. Mein Körper wird die Erde düngen und aus dieser wächst neues Leben. Nichts auf dieser Welt geht verloren aber alles verändert sich. Mein Menschliches Dasein hat keine Zukunft es ist endlich und es ist richtig und gut so. Es ist für mich eine großes Geschenk die letzen Tage mit Tonio zu verbringen und zu sehen wie er Stück für Stück sein Leben lieb gewinnt. Für das Große Ganze ist es egal wie wir hier leben, also ob glücklich oder unglücklich. Unsere einzige Aufgabe ist es meiner Meinung nach zu leben. Das Universum ist riesig und wir sind eine Tierart, die sich sehr, sehr wichtig nimmt. Zu meiner Freude habe ich entdeckt, dass Tonio schon lesen kann. Ich lese ihm nun nicht mehr vor, es strengt mich auch zu sehr an. Seinen Lesestoff holt er sich selbst aus den Regalen, sein Tempo ist atemberaubend. Ich bin lahm, matt und ich mache für heute Schluss.
Mein Körper trotzt offensichtlich gegen meinen Entschluss, ich fühle mich heute sehr wohl. Heute morgen habe ich Tonio eine kleine Flöte gekauft, sie ist aus Bambusrohr. Meine Wohnung ist jetzt nicht mehr nur Farbe, sie ist auch Lärm und ein wenig schon Musik. Tonio pfeift, schrillt und quietscht mit seiner Flöte das es eine Lust ist. Es sind die Geräusche des Lebens, des lebhaften und der Freude. Ich muss noch einiges vorbereiten, wir feiern heute Abschied. Entschuldigen sie die kürzer werdenden Berichte, aber meine Zeit rinnt immer schneller im Stundenglas davon.
Nun komme ich zu meinem letzten Eintrag in dieses Buch oder zum letzten Gespräch mit ihnen. Am Ende meiner Tage durfte ich, durch einen kleinen Jungen, das ganze Wunder unserer Menschlichkeit, an die ich nie geglaubt habe, erleben. Ich bin mir nun sicher, dass mein Leben einen Sinn hatte und ich freue mich darauf meine Zellen und Atome dieser Welt zurückzugeben. Eine Sache hätte ich gerne noch erlebt, die Erde vom Weltraum her betrachten, dass muss ein wunderbar erhabenes Erlebnis sein. Man sieht nur eine wunderschöne blaue Murmel, keine Kriege, keine ausgebeutete Natur, nur Friede strahlt mir entgegen und eine tiefe Ruhe. Wenn es Gott gibt und er uns aus dieser Entfernung heraus betrachtet wird er zufrieden sein mit seinem Werk. Ich habe mich in meinem Leben viel zu viel mit dem Warum beschäftigt und viel zu wenig dass Darum genossen. Das ist kein Bedauern, oh nein, nur eine Feststellung. Leben sie wohl.