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Familienabend

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13.08.2001
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Familienabend

Das Zimmer war voller Pappkartons mit Erinnerungen, es roch nach Farbe und die Wände waren kahl und leer. Die letzten Strahlen der Aprilsonne schienen in den Raum, in dem nichts mehr an die Vergangenheit erinnerte.
Verloren stand ein schmächtiger Junge am Fenster und blickte hinaus auf den Garten, wo die Schaukel und die beiden Tannen sich im Wind wiegten und die Birken das erste Grün trugen. Das Leben kehrte zurück in eine Welt, über der das dämmerige Rot eines Frühlingsabends lag.
Es war still in seinem Zimmer. Seit Wochen war es zum ersten Mal still. So zumindest kam es dem Jungen vor, denn es war diese Stille, die ihm Angst machte. In ihr kehrten die Erinnerungen zurück.
Ein ganzes Leben schienen die Szenen eines kleinen Glücks her zu sein. Er in dem Garten, in den er jetzt schaute, mit seinem Vater, Tischtennis und Fußball spielend, die Mutter zusehend, lachend, anfeuernd. Alle drei dort auf der Terrasse mit den Nachbarn, lachend, vor dem Grill sitzend und Karten spielend. Dabei war es im letzten Sommer gewesen. Jetzt saßen seine Eltern am Küchentisch, lachten nicht mehr, schwiegen sich nur noch an und warteten auf ihn. Zweimal hatte sein Vater bereits seinen Namen gerufen, zweimal hatte er sich nicht gerührt. Er wollte nicht dorthin.
Die schweren Schritte des Vaters, die mit jeder Stufe zu kämpfen schienen, waren bereits auf der Treppe zu hören. Er würde nachsehen wollen, wo sein Sohn blieb. Früher hatte der Junge jeden Abend auf diese Geräusche gewartet, denn dann wußte er, dass der Vater kam, um ihm vorzulesen. Aus Karl May Büchern, von Winnetou und Old Shatterhand, vielleicht auch von Kapitän Ahab auf seiner Suche nach dem Wal oder König Artus und seinen Rittern. Die tiefe, etwas brummige Stimme seines Vaters hatte im Kopf des kleinen Jungen Bilder entstehen und ihn Abenteuer erleben lassen, die niemand sonst erlebte. Der Schlaf hatte ihn dann sanft überrumpelt, ohne dass er es bemerkt hatte.
Jetzt kam sein Vater wieder die Treppe hinauf und heute wünschte er sich nur, dass er sie nicht hören könnte. Er würde nach unten gehen müssen und gerade das war es, wovor er sich fürchtete. Wenn er heute Abend ging, dann er ging er für immer. Fort aus diesem Zimmer, fort aus diesem Haus, fort aus seinem Leben.
„Hast Du mich nicht rufen gehört“, fragte der Vater.
„Ich komme, Papa“, sagte der Junge und folgte seinem Vater die Treppe hinunter.
Alles war unten wie immer. Der Küchentisch war mit dem Abendbrot gedeckt, mit Käse, Wurst, Krabbensalat und Margarine. Seine Mutter saß dort, wo sie immer gesessen hatte und schaute nur kurz hoch, als der Junge kam. Sie aß schweigend ihr Brot und für einen kurzen Moment war es ein wenig wie sonst. Alle drei am Tisch, schweigend, essend. Irgendwann würde sein Vater nach der Schule fragen, die Mutter nach den Hausaufgaben und alles würde so sein, wie es immer gewesen war. Aber es wäre nur eine Fassade. So wie immer war es nicht. Heute nicht. Nie mehr.
Natürlich wusste er war los war. Schon lange bevor seine Mutter begonnen hatte nicht mehr zu Hause zu schlafen und der Vater sie daraufhin angeschrien hatte. Er brauchte keine Erklärungen und als sie doch kamen, wurde er so wütend, dass er zwei Tage nicht mit seinen Eltern gesprochen hatte. All diese Worten waren ihm egal. Sie sagten nichts aus, waren Dinge, die Erwachsene benutzen, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Er war zwölf, kein Kind mehr, er wusste was geschehen war und was noch geschehen würde.
Ganz am Anfang, als es schon mehr als eine Ahnung geworden war, hatte er sich gefragt, wer Schuld daran war. Er hatte darauf keine Antwort gefunden und kein anderer hatte sie ihm geben können. Es war das erste Mal, dass ihm klar wurde, dass es auf manche Frage einfach keine Antworten gab.
Einmal, vor ein paar Wochen, hatte seine Großmutter ihm versucht zu erklären, dass seine Mutter es gewesen war, die alles kaputt gemacht, die die kleine Familie ins Unglück getrieben hatte, kurz, dass die Mutter die Schuld an der ganzen Sache trug. Die ganze Sache. So nannten sie alle es, sie sagten nicht die Wahrheit sondern beschrieben es nur. Die ganze Sache. Seine Tante Sabine tat das auch. Sabine war die Schwester der Mutter und die Schuld an der ganzen Sache, sagte sie, trage natürlich der Vater. Sie hätte es schon immer gewußt, dass dieser Kerl sich nicht um seine Frau, ihre eigene Schwester, gekümmert hätte. Das hätte sie schon immer gesagt. Tatsächlich konnte Tante Sabine seinen Vater noch nie leiden, dass wusste sogar der Junge, vor dem sie es immer zu verstecken versucht hatte.
Er hatte ihnen allen zugehört, der Oma und Tante Sabine, dem Lehrer und den Nachbarn, hatte alles aufgenommen und war zu dem Schluss gekommen, dass alles was sie sagten egal war. War es denn wichtig, ob seine Mutter Schuld hatte oder sein Vater? Änderte es etwas oder machte es etwas auch nur ein bißchen besser? Das tat es nicht. Also war es nicht mehr wichtig.
Alle drei aßen schweigend das Abendbrot, niemand sagte auch nur ein Wort, niemand blickte sich an. Dann sagte die Mutter: „Morgen ist es soweit.“ Ihre Stimme klang merkwürdig, weit entfernt. Der Junge schaute seine Eltern an, erst seine Mutter, dann seinen Vater. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie es früher gewesen war, aber er konnte es nicht. Sie waren ihm fremd, wie etwas aus der Vergangenheit, etwas, was schon gar nicht mehr hierher passte.
Die Worte hingen noch immer in der Luft, Sekunden waren ohne Erwiderung vergangen. Das Schweigen, das über dem Tisch lag war erdrückend. Doch es war nicht die Stille allein, es war das, was dahinter lauerte. Dieses bisher unausgesprochene Etwas, das sich in einem vagen Nebel des Unbestimmten versteckt gehalten hatte und dessen Zeit nun gekommen schien. Es war genau das, was der Junge am meisten fürchtete und nun war es geweckt worden. Der Junge zitterte, seine Magen rebellierte. Er wollte fortlaufen, aber es war zu spät...
„Hast du dich entschieden, bei wem du bleiben willst?“, fragte ihn die Stimme seiner Eltern. Beide schauten den Jungen an. Augenpaare, die nach einer Entscheidung verlangten. Einer Entscheidung, die unmöglich war zu treffen. Die Entscheidung, wen es mehr liebte, war etwas, was man keinem Kind zumuten sollte.
In diesem Moment wurde dem Jungen klar, dass von nun an sein Platz für immer zwischen den Leben seiner Eltern liegen würde. Und als ihm das bewusst wurde, hätte er heulen können.

 

Hallo deMolay!

Sehr gut geschriebene Geschichte!
Du baust den Text sehr gut auf, die lange Einleitung, die Situation des Jungen, dann der Schluss - klasse!
Flüssig und angenehm zu lesen.

Die Entscheidung, wen es mehr liebte, war etwas, was man keinem Kind zumuten sollte.
Allerdings. Es ist auch für Erwachsene schwer, sich zwischen nahestehenden Menschen zu entscheiden - für ein Kind ist diese Entscheidung grausam. Der ganze Text arbeitet auf diesen Schluss hin.
Sehr gut gemacht!

"Natürlich wußte er war los war" - wusste

"er wußte was geschehen war" - wusste, was

"Vater noch nie leiden, dass wußte sogar der Junge," - das wusste

"Er versuchte sich daran zu erinnern, wie es früher gewesen war, aber er konnte sich nicht erinnern" die wdh von sich erinner fiehl mir auf... vielleicht könntest du es noch ändern.

"Dieses bisher unausgesprochene Etwas, dass sich in einem vagen Nebel des Unbestimmten versteckt gehalten hatte" - Etwas, das

"Hast Du dich entschieden bei wem Du bleiben willst?" - du dich... bei wem du, denke ich.

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Anne

Vielen Dank für das Fehleraufzeigen, da schleicht sich doch so manches mal noch ein "ß" ein, wo es nicht hingehört... ;)

Vielen Dank auch für dein Lob, hat mich sehr gefreut, dass der Text dir gefallen hat.

Gruß und schönes Wochenende
deMolay

 

hi molay,

was trennende eltern niemals tun dürfen, ist, das kind entscheiden zu lassen, bei wem es leben möchte. wenn es in einem alter ist, bei dem es so eine entscheidung treffen kann, dann ist es auch in einem alter, in dem es weiss, dass eine solche entscheidung das herz eines der beiden elternteile brechen wird.
du hast hier eine äusserst brisante thematik gewählt und auch angemessen und gut umgesetzt.
trotzdem, oder wahrscheinlich wegen der thematik, hat diese geschichte eine lahme gangart. sie lebt eigentlich fast ausschliesslich von der gefühlsbeschreibung des jungen. was weiss der leser nun über seine eltern? er weiss, dass der vater eine brummige stimme hat und ihm damals geschichten vorgelesen hat. von der mutter wird nichts erzählt, ausser dass sie vorher ihr brot auch schon schweigend ass. wenn die geschichte m.e. runder werden sollte, dann wäre es sinnvoll, den part, bei dem der vater die treppe hoch maschiert, zu dehnen, indem das kind genau dann kleine anekdoten über seine mutter und dann über seinen vater erinnern lässt (ich würde in dieser anekdotenpassage der ganzen geschichte sogar einiges an farbe geben. es darf auch ruhig mal geschmunzelt werden).
so aber ist die geschichte (vielleicht sogar von dir beabsichtigt) zu steif.
kannst du damit etwas anfangen?

bis dann

barde


Der Junge schaute seine Eltern, erst seine Mutter, dann seinen Vater.

hinter "eltern" das wort "an"?

 

Hallo Barde

Vielen Dank für deine Kritik. Das mit dem "an" habe ich sofort geändert.

Das andere ist ein guter Hinweis, gerade die Mutter ist (was mir erst jetzt im Nachhinein auffällt) tatsächlich sehr, sehr blass geblieben. Die ein oder andere Erinnerung an glückliche Tage könnte wirklich nicht schaden. Ich werd mal sehen, ob ich das noch einflechte.

Gruß
deMolay

 

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