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Familien-Chronik mit Karussell

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Familien-Chronik mit Karussell

Ein dünner Wasserstrahl trifft auf Wims Adamsapfel und durchnässt Weste und Hemd. „Deifel noch eens!“ Wütend schmeißt er sein Werkzeug in die Kiste.
In die hat er schon paar Mal seine Utensilien reingepfeffert – und am nächsten Tag wieder rausgeholt. Und jetzt, wo sich alles in die gewünschte Richtung bewegt, ist das eh nur eine Geste der Ungeduld; ein Ventil, Dampf abzulassen. Schließlich stehen die Pferde schon in Reih’ und Glied – poliertes Lindenholz, mit bunten Rüschen, blauen Augen und gelockten Mähnen. Auch das Schild ist vollendet; Henk hat es tatsächlich geschafft, zwischen Tagen des Suffs ‚Carousel - Reitschule’ in Schönschrift aufzutragen und mit wundersamen Blümchen zu schmücken.
Wim setzt einen dickeren Propfen ein und dichtet mit Werg und Pech ab; nach der Brotzeit zieht er den Schieber, nichts tropft oder spritzt. Das Wasser strudelt wie von ihm vorgegeben und die Drehscheibe setzt sich in Bewegung.
Jedoch werden die Pferde erst aufgestellt, wenn der Baldachin fertig ist.
Als Kind ist er gern Karussell gefahren, am liebsten auf dem Schimmel. Wenn er stets den Horizont im Auge behielt, schien es, als ob er eine endlose Straße entlang galoppierte.
Damals rackerten sich zwei Männer hinter dem Kassenhäuschen ab, um das Ding in Schwung zu bringen. Es war wohl sein zartes Gemüt, was ihn mit diesen armen Schluckern mitfühlen und sein Grips, der ihn eine Lösung finden ließ.
Er tätschelt seiner Liese die Flanken, nimmt den leeren Hafersack ab und führt sie zum Stall.

Otto übernimmt nach dem Tod seines Vaters das Karussell. Mit den Einnahmen kann er die Familie durchbringen, die Leute kommen von weit her, an Sonntagen gibt’s Gedränge – eigentlich könnte er zufrieden sein. Doch bald wird ihm langweilig, ihn nervt der Umstand, dass sein Geschäft ans Wasser gebunden ist.
Von England hört er, dass pfiffige Jungens die Karussells mit der unlängst erfundenen Dampfmaschine antreiben. Das imponiert ihm sehr, doch Abkupfern ist nicht sein Ding. Er experimentiert lieber mit Magneten, allerdings erfolglos. Er häuft Schulden an.
Kurz vor seinem geplanten Selbstmord hört er von einem Boot, das auf der Newa mit Elektroantrieb gefahren sei. Otto schreit ‚Eureka’, zieht den Kopf aus der Schlinge und reist zum Erfinder dieser wunderbaren Sache.
Von da an geht es Schlag auf Schlag. Otto dankt Gott für die Errettung aus höchster Gefahr. Als Erster baut er elektrische Karussells, lässt sie sich patentieren. Die Nachfrage steigt schnell – auch in Österreich, in Belgien und Holland. In seinen Werkstätten entstehen die schönsten Pferde, sogar die Farben stellt er selbst her. Erste Bestellungen treffen aus Amerika ein.
Bald ist er reich. Inmitten eines Parks prunkt seine Villa, mit Terrasse zum See. Am Steg dümpelt das Elektroboot von der Newa. Und neben den Kutschen steht ein Daimler, dunkelblau und silbern.
Wenige Jahre später heuert er den berühmten Schweizer Piloten Mitternholzer an, sein Privatflugzeug „Claire“ nach Südafrika zu steuern und baut in Kapstadt sein größtes Karussell. Hoch und erhaben wie das Kapitol, herrlich geschmückt mit Böhmischem Kristall und Schnitzereien aus Elfenbein und Ebenholz. An beiden Aufgängen steht korrekt ‚For Whites Only’ und livrierte Neger achten auf strikte Einhaltung.
Der Anblick dieses achten Weltwunders ist so überwältigend, dass James McCartney, der Urgroßvater von Paul, das berühmte ‚Ivory and Ebony’ komponiert. Clärchen, Ottos Frau, lässt sich indes scheiden, weil sie Ottos Großmannssucht und merkwürdige Vorlieben im Privaten nicht länger ertragen kann.
Auf dem Rückflug zerschellt „Claire“ bei einem eitlen Flugmanöver am Kilimandscharo, weil Otto trotz dichten Nebels den Gipfel sehen will.

Ottos einziger Sohn Adriaan tritt in die Fußstapfen seines Vaters, übernimmt dessen Imperium. Auf seiner goldgerahmten Visitenkarte, die ein wenig größer ausfällt als der Standard, steht ‚Premier Directeur Caroussellier’.
Mittlerweile gewinnt die Menschheit einen Großteil Energie aus Atomkraft, und Adriaan ist vermögend und vorausschauend. Er leistet sich Professor Krasnajorskji, der Mini-Reaktoren für seine Karussells konstruiert.

Die Holzpferde haben ein für allemal ausgedient, Nostalgiker können sie auf Flohmärkten erwerben. Statt ihrer hat Konsul Adriaan Weltraumkapseln entworfen, mit Bullaugen, Antennen und zwei Sidewinders, Attrappen allerdings.
Adriaan ist genial, er überflutet die Welt mit Atomkarussells. Die anfänglichen Toten waren zu beklagen, weil die Regelung der Geschwindigkeit oft versagte – Kinderkrankheiten. Und dieser strahlende Knall in Minnesota war ein Versehen; das verunglückte Karussell ist jetzt außer Betrieb. Nachts leuchtet es grünlich, ist oft Mittelpunkt von Partys.
Doch nur genial zu sein, ist zu wenig – er ist auch geerdet. Er sieht, der Markt ist voll. Kein weiterer Bedarf an Karussells. Zentralafrika vielleicht noch, aber das schenkt er sich.

Also Hotelgeschäft! Nachdem die Russen und Chinesen als spendabelste Reisende von Indern und Bangladeshis überholt werden, ist das nur logisch. Statt aber neue Feel-Good-Locations ausfindig zu machen wie heiße Quellen auf Kamtschatka, setzt Konsul Adriaan auf Altbewährtes – Las Vegas. Bauen so hoch und breit wie’s beliebt, grenzenlose Freiheit. Resourcen unlimited – ein wahrer Garten Eden, mit wenig Grün, aber gigantischer Architektur: Das 'GranArca' - der letzte Schrei aus drei übereinander getürmten Kreuzfahrtschiffen in tosendem Wasser, den Bug nach Hawaii ausgerichtet, elftausend Betten. Bester Platz auf Erden, in der Wüste Nevadas. Nachts noch heller als bei Tage, mit Seen, Wasserfällen, Fontänen.

Adriaan schreitet mit der Mouse die Etagen und Korridore der Konkurrenz ab, kilometerweite Tristesse Tausender Zimmertüren; streift durch Säle und Salons und wird sie alle das Fürchten lehren. Sein Gigahotel wird ein Karussell sein von titanischen Ausmaßen; eigentlich sind es mehrere in- und übereinander, die in steter Bewegung den Gast zu jedem gewünschten Ort befördern. Alles wie im Sonnensystem zentral gesteuert, imstande jedes Bedürfnis zu erfüllen, oder zu erschaffen.

Der Kaiser der Karussells ist von Linz zurück. Aller Vierteljahre legt er bei Dr. Freund für einen Nachmittag die Beine hoch. Es geht um seinen Bezug zur Welt; um Klein, Groß und wirklich Groß, um Bedeutend oder Unbedeutend.
Er kann Stille nicht ertragen, viel lieber sitzt er an der Slot Machine. Nicht des bisschen Geldes wegen, Gott bewahre. Auch nicht wegen des Nervenkitzels, eher wegen der philosophischen Gedanken, die ihn dann bestürmen. Er nimmt die rotierenden Symbole als bunte Streifen wahr, in sinnlosem Tempo wie eine Abfolge des Lebens – doch plötzlich, jäh und willkürlich, zum Stillstand gebracht. Er erinnert sich seiner Altvorderen, scrollt sein eigenes Leben zurück und ist stolz, die Tradition seiner Familie fortzuführen.

Gestern hat er zufällig neben Elton Rusk gesessen, der scheffelt im Weltraumtourismus Milliarden. Auch Adriaan peilt die Sterne an, denkt an eine eigene Rakete. Er wird der Erste sein, der auf dem Mars, auf den Ringen des Saturn und in anderen Milchstraßen Karussells betreibt. Aber nicht im Weltraum-Look, sondern Retro – mit altmodischen Pferden, wie aus dem Märchenbuch. Die haben blaue Augen und gelockte Mähnen. Sie sind wunderschön, aus dem 3-D-Drucker. Linden gibt es schon lange nicht mehr.

 
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Hola @Echo97,

danke sehr für Deinen Komm!

... Hier also eine kleine Wiedergutmachung.
Aber wofür? Deine Sammelantwort war genauso gut. Nein, bei uns gibt es keine unbeglichenen Rechnungen.

Familien-Chronik mit Karussell - Den Titel finde ich persöhnlich uninteressant. Ich könnte mir so etwas wie "Hundert Jahre Karussellfahren" vorstellen oder "Eine Familie dreht sich im Kreis".

Das alte Lied – mit Titeln hab ich kein Talent. Woran ich nicht alles gedacht habe! Letzlich möchte ich jedoch bei der ‚Chronik’ bleiben, um klarzumachen, dass es sich über Generationen zieht – und das rangehangene ‚mit Karussell’ sollte Hinweis sein, dass die Sache nichts Bierernstes ist. Trotzdem Dank für Deine Vorschläge.

Ich mag deinen ironischen Humor
Danke, ich hoffe, es damit nicht übertrieben zu haben. Aber Scherz beiseite – ich hatte eher eine philosophische Anwandlung. Ein bisschen ‚Fischer un siine Fru’, aber auch mein eigenes Leben. Da gehörten Litfasssäule und Reitschule einfach dazu. Ein Wahnsinn, was sich in sieben Jahrzehnten verändert hat. Die Geschichte sollte das aufzeigen – vom Hafersack zur Rakete gewissermaßen. Unsere Ansprüche sind ja auch nicht geringer geworden.

Mir ist die Geschichte insgesamt zu hektisch erzählt. Es passiert zu viel oberflächlich Ich glaube du hast dir ein bisschen viel Stoff für zu wenig Text vorgenommen.
Irgendwann neigte ich leider dazu, die Schicksale nur noch zu überfliegen.und zu wenig auf der persöhnlichen Ebene.

Völlig klar, da hast Du recht. Das Problem ist mir bewusst – von drei aufeinander folgenden Generationen zu berichten, und das in einer KG, muss dazu führen. Deswegen beharre ich auf ‚Chronik’ im Titel (als Abschreckung?:sconf:).

... geht mir sein Selbstmordversuch doch recht wenig zu Herzen, ...
Um Gottes Willen, Echo97! Das soll der auch nicht. Hab ja bewusst die flapsige Art gewählt. Es wird ja auch von ‚Negern’ erzählt – deswegen erwarte ich meine baldige Steinigung.

Auf jeden Fall hab ich mich über Deinen Kommentar gefreut, weil Du den Finger auf die wunden Stellen legst. Sicherlich hab ich die Schwierigkeit, von drei Generationen ohne allzu viel Beredsamkeit zu erzählen, deutlich unterschätzt. Oder verdrängt, um im Schweinsgalopp – sprich live – unsere ständig wachsenden Ansprüche zum Thema zu machen, und das raketenhafte Tempo technischer und wissenschaftlicher Entwicklung nicht nur als positiv darzustellen.

Das Schlusswort hast Du:

Echo97: schrieb:
Die Idee ist schon witzig und soll, denke ich, Kritik an Fortschrittsoptimismus, Gewinnoptimierung und Konsumgesellschaft zum Ausdruck bringen: Das Bedürfnis des Menschen immer mehr zu wollen und dabei einer Sache seinen eigentlichen Sinn zu nehmen. War früher das Karussell ein Ort des Spaßes für Kinder durchaus gewöhnlicher Leute, ist sein Karussell nur noch Reichen vorbehalten.

Ich glaube, dass wir 2020 noch viel, viel besser werden als wir eh schon sind;).
José

 
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Hallo @josefelipe,

ich kann keinen Finger in Wunden legen, denn ich finde keine, zumindest keine objektiven. Eine subjektive, allgemein gehaltene Kritik ist nicht so meins, da hier der persönliche Geschmack im Vordergrund steht und man den Autoren ihren Geschmack zugestehen sollte. Normalerweise zitiere ich deshalb Textausschnitte, an denen etwas objektiv zu bemängeln ist - hier ist mir nur eine einzige aufgefallen:

Kurz vor seinem Selbstmord hört er von einem Boot, das auf der Newa mit Elektroantrieb gefahren sei.

Das stimmt ja so nicht, der Selbstmord findet ja gar nicht statt. Es war wenn überhaupt nur ein Selbstmordversuch.

Sprachlich ist das alles ein sehr hohes Niveau und man merkt, dass Du für die Geschichte recherchiert hast.

Dies ist nach Persianas mindestens die zweite Geschichte, die ich von Dir lesen durfte. Beide Geschichten fassen eine lange Zeitspanne oberflächlich zusammen, das scheint Dein Stil zu sein. Diese Geschichte hier gefällt mir deutlich besser, da ich hier eine bessere Orientietung hatte und die zeitlichen Übergänge klarer sind. So wie @Echo97 finde ich aber, dass zu wenig auf der persönlichen Ebene passiert. Es gibt keinen Raum für Emotionen, es liest sich wie ein sehr anschaulicher Informationstext. Dazu passt auch der sachliche Titel, der suggeriert, dass es Deine Intention war, eine solche Zeitspanne in dieser Kürze widerzugeben. Ich ziehe nur wenig Reiz aus diesem Ziel, doch die Autoren suchen sich ihre Aufgaben selbst aus. Die Lösung für diese Aufgabe finde ich jedenfalls gelungen.

Viele Grüße

Ephraim

 

Hola @Ephraim Escher,

ich habe Glück, Du bist der ideale Kommentator:

Eine subjektive, allgemein gehaltene Kritik ist nicht so meins, da hier der persönliche Geschmack im Vordergrund steht und man den Autoren ihren Geschmack zugestehen sollte.
Auf dieser Basis gibt’s guten Austausch, mMn.

Kurz vor seinem (geplanten) Selbstmord hört er von einem Boot, das auf der Newa mit Elektroantrieb gefahren sei.
Das stimmt ja so nicht, der Selbstmord findet ja gar nicht statt. Es war wenn überhaupt nur ein Selbstmordversuch.
Hast recht. Das Fette hab ich nachträglich reingeschmuggelt (weil’s so gedacht war).

... finde ich aber, dass zu wenig auf der persönlichen Ebene passiert. Es gibt keinen Raum für Emotionen, es liest sich wie ein sehr anschaulicher Informationstext. Dazu passt auch der sachliche Titel, der suggeriert, dass es Deine Intention war, eine solche Zeitspanne in dieser Kürze widerzugeben.

Ja, ich denke, dass ist mein nüchternster Text bislang. War nicht beabsichtigt, weil ich’s eigentlich gerne saftig habe – es war eine ‚Wintergarten-Idee’.

Diese Art Ideen heißen bei mir so, weil sie nicht mehr aus dem Kopf gehen, bis der verdammte Wintergarten (trotz einiger Bedenken) steht. Doch zur Warnung schreit schon der Titel leuchtend rot: Chronik!

Ich ziehe nur wenig Reiz aus diesem Ziel, doch die Autoren suchen sich ihre Aufgaben selbst aus.

Ein souveräner Standpunkt! Leider selten.

Meine ‚Botschaft’ ist ja bescheiden, und neu ist sie auch nicht. Aber wenn ich mir den Las Vegas-Wahnsinn (stellvertretend für Millionen anderer) oder den right now startenden Weltraum-Tourismus des Elon Musk oder The Palm Jumeirah anschaue, dann schwillt mir schon der Kamm.

Sprachlich ist das alles ein sehr hohes Niveau und man merkt, dass Du für die Geschichte recherchiert hast.

Ein Fazit, das mich freut, lieber E. E.

Viele Grüße und Lebkuchenduft!

José

 

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