Falscher Film
Ein wenig fluchend, ein wenig resigniert stand sie am Bahnhof. Es war so ein Tag, an dem nichts glatt gehen wollte. Angespannt versuchte sie ein paar ordentliche Aufnahmen zustande zu bringen. Vergebens. Entweder verschwamm das Bild ihrer Kamera - ein Sonderangebot - oder sie hatte die falsche Einstellung gewählt. Teilweise funkte ihr aber auch die Sonne dazwischen, die heimtückisch blendete. Gerade als es einigermaßen funktionierte, pensionierte sich der Akku und alles wurde schwarz. Sie konnte ein Fluchen nicht unterdrücken.
Langsam neiget sich der Tag dem Ende zu. Jetzt - wo der Akku seinen Geist aufgegeben hatte - hätte sie die schönsten Aufnahmen machen können. Leise brummelte sie vor sich hin, als gerade ein Zug ankam. Sie vernahm das Quietschen, als der Personenzug stoppte, achtete aber nicht weiter darauf. Nur einen Augenblick später ging das Gemurmel aussteigender Menschen los. Die Meisten davon eilten gleich zu dem kleinen Kiosk direkt in ihrer Nähe, um sich rasch noch etwas zu Essen zu kaufen, ehe dieser dicht machte. Die Anderen aber schauten das Mädchen mit der Kamera prüfend an. Sie kniete sich auf den Steinboden und packte die unzurechnungsfähige Kamera in den Rucksack. Als sie mit ihrem Fahrrad - welches sie ausnahmsweise nicht im Stich ließ - wieder nach Hause fahren wollte, hörte sie plötzlich jemanden pfeifen. Angesprochen fühlte sie sich nicht. Bloß nicht umdrehen. Spinner gab es genug und in jenem Kaff sowieso.
Kaum glaubte sie, endlich losfahren zu können, sah sie auch schon jemanden auf sich zu kommen.
Zuerst erschrak sie und bekam ein schlechtes Gewissen. Ein Mann in Arbeitsbekleidung schlenderte auf sie zu. Verzog nicht eine Miene. Ihr erster Gedanke erwischte sie wie ein Blitz. Die dachte, dass es womöglich gesetzeswidrig war, am Bahnhof zu filmen. Dann aber verflog jener Einfall, als er sagte: „Hast du mal Feuer?“
Glück gehabt. Ihrer Meinung nach, sah er wie ein durchschnittlicher Student aus. Mag sein, dass er sich dort in der Gegend etwas dazu verdiente. Er war nicht sehr viel größer als sie. Der vermeintliche Student trug lange Haare und einen Dreitagebart. Sah recht witzig aus. Sympathisches Lächeln, offener Blick. Etwas treudoof.
„Nein.“, sagte sie kurz darauf und lächelte.
Er schlug sich gegen die Stirn und murmelte etwas von „grandios“. Sie musste grinsen, denn ihr wurde klar, wie lächerlich sie wenige Augenblicke zuvor gewirkt haben musste, als sie sich wegen der miserablen Aufnahmen geärgert hatte.
„Endlich hatte ich einen Grund um dich anzusprechen und du hast kein Feuer? Das kann’s doch nicht sein!“, sagte er beinahe etwas gequält.
„Tja - sorry.“
„Nix sorry. Verdammt.“, nun begann er ebenfalls zu lächeln, „Du kommst aber nicht von hier, oder?“
„Doch.“
„Name?“
„Alexa. Selbst?“
„Martin.“, er reichte ihr die Hand. Es war ein kräftiger Händedruck. Er schien ihr geradezu etwas beweisen zu wollen. Hinterher erkundigte er sich nach ihrem Alter. Sechzehn. Er selbst war 23.
Es folgten abgehackte Sätze. Alexa hörte ihm nicht richtig zu. Sie hörte noch irgendetwas von „Kaffeetrinken“ heraus. Das Mädchen konnte es sich selbst nicht erklären, warum sie „Meinetwegen.“ sagte. Sie wollte heim und sagte <meinetwegen>? Eine wirkliche Logik konnte sie selbst nicht darin erkennen.
Irgendwann fanden sie sich dann im „EasyPlay“ wieder. Sie saßen auf Barhockern in dem äußerst verqualmten Domizil. Nur ganz leise ertönte irgendwelche Musik, die sie schon seit Tagen rauf und runter leierten. Dafür waren aber die Geräusche der Flipper und anderer Spielautomaten nicht zu überhören und ebenfalls das Fluchen, der Gäste, die ihr Spiel verloren.
„Du hast echt eine geile Figur, mein Engel.“, bemerkte Martin dann, als er die 3. oder 4. Zigarette ausdrückte und Alexa mit einem leicht frechen Blick anschaute. Wobei sich seine Augen an ihren fast nackten Beinen festzukleben schienen.
Mein Engel? Sie kannten sich 20 Minuten und er sagte mein Engel? Ernst gemeint konnte das wohl kaum sein, oder? Es folgten weitere Betitelungen wie: Liebling, Stern oder Baby. Langsam aber sich kam Alexa das Ganze nicht mehr ganz geheuer vor.
„Könntest aber noch ein bisschen größer sein.“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
„Na freilich. Ansprüche stellen und selbst nicht größer als ein Stöps sein, was?“, sprudelte es aus Alexa raus.
„Du bist locker.“
„Tatsächlich?“
„Und offen. Gefällt mir. Ich steh auf Frauen, die nicht schüchtern sind.“, grinste Martin.
Plötzlich spürte Alexa seine Hand an der Innenseite ihrer Oberschenkel. Sie schielte ihn von der Seite aus an. Leicht warnend.
„Macht dich das nervös?“, fragte er.
„Es nervt.“, sie rutschte etwas von Martin weg.
„Bist du Jungfrau?“
„Dazu schweige ich.“
„Komm schon bist du’s? Kann ich mir kaum vorstellen.“
Sie schwieg.
„Und solo?“
„Ja.“
„Ich habe eine Freundin.“, gestand er.
„Solltest du dann nicht eher bei ihr sein?“, fragte Alexa deutlich.
„Nein. Momentan läuft es nicht so gut.“
‚Wahrscheinlich hat sie genug davon, nur dein Betthäschen zu sein.’, dachte Alexa, sprach es aber nicht aus.
„Dann solltest du das erst lieber wieder in Ordnung bringen.“, stellte sie stattdessen fest.
„Keine Lust. Ich mach, was ich will.“
Der erste Schein, den jener Student auf Alexa machte, hatte führwahr getäuscht. Er war tatsächlich Student. Ehemaliger Medizinstudent. Das Studium hatte Martin abgebrochen. Des weiteren stellte sich heraus, dass er seinen Führerschein wegen Trinkerei verloren hatte. Auch nahm er wie schon erwähnt nicht auf seine Freundin Rücksicht. Alles Dinge, die Alexa verpönte. Er war ein Egoist.
Schweigen.
Sie entspannte sich.
Er suchte krampfhaft nach Worten.
„Hast du überhaupt schon sexuelle Erfahrungen?“, erkundigte sich Martin nach einem - für ihn unendlich langen - Augenblick.
„Gewiss.“
„Was alles? Hast du nun schon mal mit jemandem gepennt? Hattest du schon mal einen Schwanz in der Hand? Was trägst du so für Unterwäsche? Was...“
„Vergiss nicht zu atmen.“, sagte Alexa trocken ohne ihn anzuschauen. Was für ein penetranter Typ.
Was interessierte ihn auch schon Alexas Sexleben? Was interessierte es ihn, was sie für eine Körbchengröße hatte?
„Zeigst du mir, was deine Hand alles kann?“, er schien sein Unglück augenscheinlich herauszufordern.
Unwillkürlich musste sie lachen. Er erschien ihr so lächerlich. Wie ein Hund, der nach einem Stückchen Wurst bettelte. Sie musste zugeben, dass ihr der Gedanke gefiel, ihn hängen zu lassen.
„Das willst du nicht wirklich.“, sagte sie, als sie noch immer in sich hineingrinste.
Nachdem sie ca. eine halbe Stunde in der verqualmten Spielothek verbracht hatten, ergötzten sie sich der frischen Luft, von der sie draußen nahezu umzingelt wurden. Alexas Wohlbefinden stieg.
„Sehen wir uns mal wieder auf einen Kaffee?“, fragte er.
„Möglich.“, sagte Alexa achselzuckend, was bei ihr soviel wie ein: „Nein“ bedeute.
„Und hinterher Sex?“
„Zweifelsohne nicht.“
„Dir macht es Spaß, Männer zu quälen, nicht?“
„Kann sein.“
„Was machst du jetzt noch?“, machte er sich etwa Hoffnungen?
„Zuhause etwas filmen.“
„Ich habe das Gefühl, dass das nur eine Ausrede ist, mein Engel.“
„Glaub’s oder glaub’s nicht.“, meinte Alexa. Ihr war es gleichgültig.
Martin war ihr gleichgültig.
Zum Abschied, versuchte er, sie zu küssen. Er machte den Eindruck, als versuchte er Alexa aus der Fassung zu bringen. Er grinste. Als seine Lippen fast die ihren berührten, drehte sie sich um und ging zu ihrem Fahrrad.
„Du bist grausam.“, sagte er ihr noch hinterher.
„Mag sein.“, sie fuhr davon.
Mitten in der Nacht, als sie sich gerade zu Bett legte, piepste das Handy. Eine schlimme Vorahnung überkam sie. Warum hatte sie Martin ihre Nummer gegeben, bevor sie Kaffee trinken gegangen waren?
Weil er eigentlich ganz nett war - sofern er mit dem Kopf dachte.
Er schrieb: „Schläfst du schon, Baby? Möchte dich jetzt berühren. Kannst du nicht zu mir kommen? Bitte. Hast mich geil gemacht, also lass mich jetzt bitte nicht hängen.“
Alexa seufzte und verleierte die Augen. Etwas genervt und frustriert über das skurrile Ende des Tages schrieb sie zurück: „Keine Zeit, keinen Bock...such dir was aus. Nein. Bin nicht die Richtige für den Lückenbüßerjob. Heut muss es wohl eine andere Gespielin sein. Zur Not hast du noch fünf kleine Freunde!“
Sie schaltete das Handy aus und kuschelte sich in die Decke. Kurz nachdem sie das Licht löschte, schlief sie mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Sie dachte keineswegs mehr an Martin, wohl eher an jemand ganz anderen...