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Falsche Ideale
Wir liefen ganz an der Spitze der Demonstration. Marie und ich trugen ein Transparent mit einem Zitat von Bertolt Brecht. Er wollte ausdrücken, dass es sich lohnt zu kämpfen, auch wenn man verlieren kann. Das war ziemlich genau das, was den Revolutionären bevorstand, von denen nun auch ich einer war. Ohne es eigentlich zu wollen.
Ich war jetzt Revolutionär, weil ich Marie liebte. Ohne dass ich Marie kennen gelernt hätte, wäre ich nie einer von ihnen geworden. Und das war ich ja auch nicht wirklich. Ich war eine Art Mitläufer. Ich fand die Szene unheimlich interessant, vielleicht auch spannend. Aber ich hatte keinen Glauben. Doch wer hatte den hier schon. Marie vielleicht.
Natürlich würde es nicht funktionieren, wenn Marie wüsste, dass ich nur ihretwegen laut schreiend in Richtung Parlament marschierte. Natürlich würden wir verlieren. Das machte mir die Situation angenehm. Spätestens am Abend würde ich zu Hause sein. Wir könnten noch ins Kino gehen, dachte ich, während wir den Marktplatz überquerten. Eine hervorragende Idee.
Ich schaute zu Marie hinüber und lächelte sie an. Eine tolle Frau. Sie hatte wildes rotes Haar und einen Ansatz von Sommersprossen. Aber sie sah nicht frech aus, wie man das vielleicht erwarten würde. Sie war ganz und gar weiblich. Trotz ihrer betont lässigen Kleidung. Wie hätte ich da widerstehen sollen. Sie war keine Frau, der man sich einfach entziehen konnte. Marie lächelte zurück. Hinter uns brüllten sie „Hoch die internationale Solidarität“. Marie brüllte mit und ich ließ mir die Sonne aufs Gesicht scheinen, als wir aus dem Schatten Rathauses traten. Ein schöner Vormittag.
Wir demonstrierten seit etwa einer Stunde. Unser vorläufiges Ziel war der Platz vor dem Parlament. Bald würden sich mit uns dort einige Tausend Demonstranten versammeln und Parolen brüllen und den Sprechern zujubeln. Das erinnerte mich an Fußballspiele. Von der Stimmung her. Als Junge war ich oft mit meinem Vater ins Stadion gegangen. Wir standen im Fanblock unseres Teams im Ostflügel des kleinen Stadions. Wir jubelten mit jedem Tor, genauso wie wir über jede Niederlage trauerten. Damals hatte ich vielleicht so etwas wie einen Glauben. Etwas womit ich mich identifizieren konnte. Das war ein bisschen wie Politik, wenn ich es im Nachhinein sehe. Aber unser Team stieg bald ab. Es gab da nicht mehr viel zu jubeln. So ließen wir die Stadionausflüge irgendwann sein. Seitdem las ich an den meisten Wochenenden. Bei einem Vortrag über Sartre und den Existenzialismus hatte ich Marie kennen gelernt. Wir haben dann viel über Literatur und Theater und so gesprochen. Das war nett und irgendwann schliefen wir miteinander.
Im Gegensatz zu Marie glaubte ich jedoch nicht an die Welt über die wir redeten. Ich weiß, dass Marie es nicht bemerkt hatte. Seitdem Krieg war, war sie mit der ganzen Politik und ihren Ideen viel zu sehr beschäftigt. Sie ging davon aus, dass ich genauso denke wie sie und hatte keine Zeit, es in Frage zu stellen. Und der Krieg gefiel mir schließlich auch nicht. Außerdem liebte ich Marie. Keine Frage.
Die ersten Steine flogen, als die Glaskuppel des Parlaments in greifbare Nähe zu rücken schien. Unsere Redner konnten die Radikalen jedoch vorerst beruhigen. Marie und ich drängten durch die Menschenmassen nach vorn. Sie wollte ganz nah heran. Ich hielt es für gefährlich, konnte sie jedoch nicht bremsen. Irgendwann drehte die Menge dann doch durch. Dann war es zu spät. Jemand riss uns unser Transparent aus den Händen. Als die Polizei die Wasserwerfer einsetze, begannen die ersten zu rennen. Ich wollte Marie festhalten. Wir verloren uns. Ein Stein zerschmetterte eine Scheibe an der Eingangshalle des Gebäudes. Die Demonstration wurde aufgelöst. 421 Festnahmen, 17 Verletzte. Natürlich würden wir verlieren.
Am Abend glich der Platz vor dem Parlament einem verlassenen Schlachtfeld. Einige saßen mit Bierbüchsen auf den Bänken und sprachen über den Tag. Ich suchte nach unserem Transparent. Zwei Stunden habe ich warten müssen, bis die Polizei die Absperrung aufhob. Ich schaute mir die übrig gebliebenen Revolutionäre an und setzte mich auf ein Bier zu einer Gruppe, die ich kannte. Auch Marie war verhaftet wurden. Sie hatte mich angerufen. Inzwischen war sie schon wieder frei.
Nach fünfzehn Minuten lief ich das Gelände noch einmal ab und fand unser Transparent. Es war dreckig und angerissen, aber noch gut zu lesen. Ich faltete es zusammen und steckte es in meinen Rucksack. Dann nahm ich die U-Bahn zu Marie. Ins Kino würden wir heute nicht mehr gehen.
Marie schien die Verhaftung gut verkraftet zu haben, sprach schon von den nächsten Aktionen. Ich zeigte ihr das Transparent und sie umarmte mich. Sie war sicher, dass sie mich liebte. An diesem Abend mehr als zuvor. Sie liebte den Falschen. Zum letzten Mal schliefen wir miteinander. Wir würden uns trennen. Keine Frage. Ich konnte nur verlieren.
editiert!!