Mitglied
- Beitritt
- 03.09.2003
- Beiträge
- 50
Fallschirmspringen mit vierzig?
"Ist der Platz hier noch frei?" Ich drehte die Lautstärke meines Discmans herunter. "Na klar" sagte ich gelangweilt und starrte wieder nach draußen. Zugfahrten können manchmal so langweilig sein. Vorallem wenn man neun Stunden fahren muss.
Die Frau setzte sich mir gegenüber. Sie hatte kurzes, graues Haar, dass ihr zottelig von allen Seiten abstand. Grüne, funkelnde Augen, die etwas undurchsichtig dreinschauten und dünne Lippen, die sie gerade verkniffen hatte. Zwischen Mitte vierzig und fünfzig, schätzte ich sie. Sie griff in ihre Tasche, um ihre Zigaretten zum Vorschein zu bringen. Lucky Strike. Jetzt lächelt sie mir verschmitzt zu, als sie sah, dass neben mir ebenfalls eine Packung Lucky Strike lag. "Ich find ja immer, wenn man schon raucht, dann muss es auch kratzig im Hals sein. Für mich waren diese Light-Dinger noch nie etwas." Jetzt fuchtelte sie mit dem Feuerzeug herum. Ich lächelte. "Stimmt. Bei den Light-Zigaretten zieht man sich ja wirklich immer bis ins dusselige" sagte ich und befand diese Frau jetzt für sympathisch.
Ihre lederne Handtasche, besch, rutschte ihr vom Schoß. Es störte sie nicht. Unbeirrt rauchte sie ihre Zigarette und fing an zu erzählen. Von Kassel, da kam sie nämlich her. "Ein schöner Ort ist das, jaja." Jetzt schaute sie mir ins Gesicht. Ihre Augen bekamen eine leise Traurigkeit. "Dort wohnt mein Mann, weißt du" ihre Stimme war jetzt ruhig geworden. Dann lachte sie plötzlich auf, so dass ihr zierlicher Busen zu beben anfing. "Da fällt mir etwas ein!" schrill war ihre Stimme plötzlich, so dass ich erschrack. "Hast du schon einmal Bungee-jumpen gemacht?" Ihre Augen lachten jetzt wieder und ich wurde ein wenig mitgerissen, von ihrem plötzlichen Elan. Etwas antworten konnte ich nicht, sie war schneller. "Also, dass möcht ich ja unbedingt noch einmal ausprobieren! Fallschirmspringen fand ich ja schon immer so toll, hab ich das eigentlich schon erzählt? Beim Fallschirm-springen kann man alles hinter sich lassen. Und die Freiheit finden! Und dieser Nervenkitzel erst.. einfach himmlisch!" Ich war beeindruckt. So eine alte Frau, die sich für Bungee-jumpen begeistern kann? Halleluja, so möchte ich auch sein, in späteren Jahren. Ich lächelte. Diese Frau besitzte einen gewissen Charme.
Jetzt starrte sie aus dem Fenster. Ihre Zigarette war nun aufgeraucht und sie nestelte nervös an ihrem grauen Oberteil herum. Irrte ich mich oder war da eine gewisse Traurigkeit in ihren Augen? Jetzt erwachte sie wieder aus ihren Gedanken. "Wie wärs mit Kaffé, im Bordrestaurant? Ich lad dich ein." Dazu sagte ich nicht nein.
So fanden wir uns zehn Minuten später an einem kleinen Tisch wieder und tranken heißen, guten Kaffé. Sie erzählte vom Fallschirmspringen. Wie man sich dabei fühlt. Wie frei. Wie losgelöst. Ich konnte sie vor mir sehen, wie sie dem freien Himmel entgegen sprang. Ihr Lächeln im Gesicht. Das Glück in ihren Augen.
Sie seufzte. Nahm einen Schluck von ihrem Kaffé. Sie fragte mich, was ich so mache. Und vorhabe. Und so. Ich erzählte ein bisschen von Träumen, die man mit sechzehn so hegt und Jungs und frisch verliebten Gefühlen, die jetzt schmerzhaft werden würden, da der Urlaub ja nun vorbei ist. Sie lachte auf. Es war aber kein auslachen. Oder ein Lachen, was ältere lachen, wenn junge Menschen von der ersten Liebe erzählen. Sondern eher so ein sympathisches, amüsiertes Lachen. "Weißt du, die ernste Liebe, die kommt schon noch. Lass dir damit bloß Zeit." Sie nestelte wieder aufgeregt mit ihren Händen, rauchte ihre ich-weiß-nicht-mehr-wievielte- Zigarette und ihr Blick schweifte wieder zum Fenster. Leicht verträumt. Oder eher melancholisch?
Irgendwann erreichten wir Kassel. "So, hier muss ich jetzt aussteigen." Ihr Lächeln sah ernst aus, gezwungen. Ihre Lippen verkniffen sich jetzt wieder. "Hat Spaß gemacht mit dir, ehrlich." Ihre Augen wirkten jetzt traurig. So, dass es mich in der Magendgegend piekte. Mir schwebte die Vorahnung, dass Scheidung eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielt. Zur Zeit. Ihre Schultern hingen schlaff herunter, als sie den Zug verließ. Durch das Fenster sah ich ihr noch lange nach. Sie winkte zum Abschied. Weinte sie etwa?