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Falls irgendwann die Farbe ausgeht...
Schon seit einer halben Ewigkeit wohnte sie hier. Seltsamerweise kam es ihr nicht so vor. Die Jahre waren wie im Flug vergangen, einfach so weggebröselt. Wie der Putz von den Wänden.
Die Sache mit dem Putz hatte ihr schon lange auf der Seele gelegen. Wieder und wieder war sie an den Problemstellen vorbeigegangen und hatte aus den Augenwinkeln scheu hinauf geschaut. Zarte Linien zerklafften zu wulstigen Spalten. Irgendwann konnte sie den leisen Vorwurf, der aus diesen tiefen Dingern vordrang, nicht mehr ertragen und überlegte, was zu tun war.
Selber streichen war eine Option. Sie hatte so etwas schon mal gemacht. Allerdings mehr schlecht als recht, vor mehreren Jahren. Das Resultat war zwar nicht ganz so miserabel gewesen wie ein erstes vor mehr als einem Jahrzehnt. Alles in allem fühlte sie sich aber unwohl, wenn sie sich vorstellte, so laienhaft an diesen Schlünden herumzupfuschen. Nein, ein Experte musste her!
Sie kannte sich allerdings kaum noch damit aus. Handwerker hatte sie schon ewig keine mehr in der Wohnung gehabt, und wenn dann waren es nur solche gewesen, die dringende sanitäre Nöte anzugehen hatten. Etwas Verschönerndes hatte sie sich schon ewig nicht mehr gegönnt. Warum das so gekommen war, hatte sie vergessen. Wahrscheinlich hatte sie zwischendurch immer wieder gedacht, dass der kommende Tag der bessere sein würde, um Wünsche in die Tat umzusetzen.
Nun war der Anstreicher bestellt. In zwei Tagen würde er kommen. Sie atmete auf und hielt es nun aus, direkt in die klaffenden Münder schauen. Gierig blickten sie ihr in die Augen und schienen „Endlich!“ zu schreien.
Nun da sie sehr genau in diese geradezu saugenden Schlitze sah, wurde ihr ganz mulmig zumute, und sie fragte sich, ob sie nicht doch zu lange gewartet hatte. Ob es nicht zu spät war, um ihnen nun auf einmal all das zu geben, was sie all die Jahre nicht bekommen hatten. Lange Zeit stand sie mit düsterer Miene vor den vorwurfsvoll dreinschauenden Wunden und haderte mit sich selbst. Am liebsten hätte sie irgendwas von sich selbst extrahiert, um dieses zerfetzte Elend zu besänftigen. Doch sie scheiterte an der Umsetzung. Was sollte sie tun? Ihre Fingernägel kleinmahlen und mit Kleber in die Ritzen stopfen? Irritiert schüttelte sie den Kopf. Derlei Pfusch war nicht das, was sie diesen armen Mäulern zukommen lassen wollte.
Der Maler kam wie bestellt. Sie staunte ob dieser Pünktlichkeit und fragte sich sogleich, warum sie angenommen hatte, er würde auf jeden Fall verspätet oder gar nicht eintreffen. Ohne große Worte machte sich der Fachmann ans Werk. Sie atmete erleichtert auf, als sie sah, wie er beschwingten Schrittes und mit einem leisen Pfeifen auf den Lippen den Abstellraum mit Plastikplanen auslegte. Denn sie hatte etwas ganz anderes befürchtet – z. B. eine Mischung aus Anpfiff und Belehrung, dass man so etwas nicht so lange einfach so lassen dürfe. Der Maler aber ging tatkräftig und ohne die Brauen zu rümpfen ans Werk. Das gefiel ihr.
Was ihr auch zusagte, war die Geräuschkulisse, mit der er zu Werke ging. Nicht etwa das Quietschen des Klebebandes, als er seine Plane fixierte – das nervte sie. Das laute Ratschen fuhr ihr durch Mark und Bein. Anders verhielt es sich mit dem Knistern des Folienkunststoffs. Dieses zarte Rascheln erinnerte sie an ihre Kindheit, an Tage im Spielverbund, als man weite Plastikplanen ausspannte, um darauf Fußbälle balancieren zu lassen.
Überhaupt gefiel ihr die Sorgfalt, die der Mann an den Tag legte. Alles wurde sehr gewissenhaft durchgeführt. Jeder Handgriff saß. Ab und an trat sie an die Schwelle des Raums, um zu fragen, ob sie irgendetwas helfen oder ein Getränk servieren konnte. Da sah sie dann, welch akkurate Arbeit der Anstreicher leistete. Glückseligkeit durchströmte sie – hier war etwas Außergewöhnliches, etwas Großartiges im Gange.
Sie setzte sich mit einem euphorischen Gefühl in ihren Sessel und freute sich schon jetzt darauf, den neu gestrichenen Abstellraum zu durchwandeln. Es würde auch bald dazu kommen, denn soeben war der Maler damit beschäftigt, die Farbe anzurühren. Sie genoss die verschiedenen Geräusche, die diesen Prozess begleiteten: das Rühren im großen Topf, das Auffüllen einer kleinen Menge auf eine Schale, das Darüberfahren mit einer Farbrolle, das Abstreifen derselben. All dies klang schon jetzt so unendlich produktiv.
Dann endlich war es soweit, dass er die Rolle an die Wand ansetzte und die ausgedörrte Tapete mit Farbe nährte. Sie schloss die Augen und labte sich an dem Geräusch. So etwas ebenso Beruhigendes wie Erregendes hatte sie selten gehört. Bereits das ruhige Tempo, in welchem er die Farbrolle über die narbige Fläche gleiten ließ, nahm sie mit. Ihre Gedanken tröpfelten nun zartschmelzend in seinem Tempo dahin. Das Geräusch, das der Akt der Befärbung mit sich brachte, war eine Symbiose aus Schmatzen und Streicheln, das als Inspiration in ihre Ohren eindrang und sich anregend auf ihren gesamten Organismus auswirkte. Ihr wurde warm und immer wärmer. Schließlich schlug sie die Beine übereinander, um nicht in Räkeln zu verfallen.
Anscheinend hatte das jahrzehntelange Ignorieren die Tapete schwer austrocknen lassen. Wieder und wieder setzte der Maler seine neu geladene Farbrolle an und tränkte sie an manchen Stellen gleich mehrfach mit strahlendem Weiß. So ging es viele lange Minuten. Eine Zeit die sie weiterhin mit geschlossenen Augen im Sessel genoss und ihre Schenkelmuskulatur sanft der Melodie der Sättigung anpasste.
Dann raschelte es plötzlich laut und sie schlug verdutzt die Augen auf. Es war wie das Erwachen aus einem unendlich süßen Traum, den man eigentlich gar nicht gerne verließ, weil man wusste, dass ein solcher so schnell nicht mehr wiederkehren würde.
Der Maler trat mit zusammengepackter Tasche vor die Türe des Abstellraums und meinte:
„So. Wars schon. Rechnung kommt.“
Sie nickte lächelnd, warf noch Worte des Dankes hinter ihm her und konnte es dann gar nicht mehr erwarten, das frisch gestrichene Zimmer in Augenschein zu nehmen. Schon aus der Ferne sahen die Wände des Räumchens so wundervoll anders aus, wirkten fast lebhaft strahlend. Als sie den Raum von innen betrachtete, staunte sie nicht schlecht – er sah ganz neu aus, erweckte den Anschein, dass hier mit einem Mal grandioses Leben eingezogen war. Und dann streifte ihr Blick natürlich auch den Bereich, in dem sich zuvor die hässlich klaffenden Spalten breitgemacht hatten. Sie schlug die Hände vor den Mund und konnte es kaum fassen – sie waren verschwunden. Vollends getränkt mit cremig-flüssigem Leben hatte der Maler sie vergessen gemacht.
In den nächsten Wochen verging kaum ein Tag, an dem sie sich nicht immer wieder voller Stolz die so schön gefüllten Stellen besah und sich an ihrer Bedürfnislosigkeit erfreute. Jedoch, irgendwann inspizierte sie das Räumchen nicht mehr so häufig, sondern begann, wieder mit etwas Abstand an ihm vorbeizugehen. Es war längst nicht so, dass sie ihre geliebten Spalten vergessen hatte. Doch hatte sie bei ihrer letzten Inspektion abermals kleine Risse ausgemacht. Der Putz bröckelte schon wieder. Die Wand war abermals von unten bis oben ausgedörrt und verlangte nach einer neuen Sättigung.
Sie vernachlässigte den Raum fortan und schlich sich still an ihm vorbei. Sie sah keine andere Möglichkeit, als ihn einmal mehr brachliegen zu lassen.