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Fallen
Mit einem leisen, fast zarten Geräusch öffnet er sie, die letzte in dieser Nacht und tritt einen Schritt zurück.
Im Wald ist es dunkel und Feuchtigkeit durchwebt die Luft.
Er muss sich auf den Heimweg machen.
Nach Hause, das keines ist.
Festen Schrittes macht er sich auf den Weg durch den Wald. Er ist Förster, der Wald ist sein Arbeitsplatz und zugleich sein Zuhause. Im Tann ist er geborgen. Hier ist seine grünhölzerne Heimat. Seine Seele wird sanft umgrünt und er findet Trost inmitten der Bäume.
Allein die Fallen stören seinen Frieden.
Sein Vater, der Oberförster. Der Akkurate, der Genaue und Penible, dessen Seele grau ist vor Grausamkeit und der Fallen aufstellt. Ein schmutziges Geheimnis hat er, der Herr Oberförster. Ein Wilderer ist er neben seinem ach so ehrenwerten Beruf. Der Hüter des Waldes. Der Eichelhäher unter allen Vögeln, der mit gellendem Schrei die Waldbewohner erschreckt und mit Fangeisen und gestrafftem Zackenbügel Hasen und Füchse fängt. Weil ihm nichts genug ist, weil er ein grausamer Mensch ist.
Nach außen zeigt sich der Vater als ehrenwerter Mensch. Als Bilderbuchbeamter, der bei der Bevölkerung Anerkennung findet und oftmals Entscheidungen für die kleine Gemeinde trifft. Erst neulich entschied der Herr Oberförster, dass härter gegen die Wilderei vorgegangen werden muss und selbst der Strafenkatalog am Gemeindehaus stammt aus seiner Feder.
Der Sohn muss beinahe schmunzeln aufgrund dieser Farce. Die Menschen wollen dies - und nur dies - glauben. Sie wollen diese Bilderbuchfamilie im Bilderbuchhaus im Bilderbuchwald. Sie wollen, dass die Mutter an der Krankheit starb und nicht an Grausamkeit. Sie wollen es nicht anders sehen. Die Leute wollen ihnen mitleidvolle Blicke schenken, aber hinsehen wollen sie nicht. Sie wollen Fragen stellen, aber nicht die Wahrheit erfahren. Sie wollen nur den Rahmen, nicht das Bild.
Nur er, der Sohn des Oberförsters kennt die Schande des Vaters, genau wie dessen Grausamkeit. Er hat beobachtet, wie er die Fallen im Wald aufstellte und Gott ist ihm gnädig, denn der Vater hat ihn nicht dabei erwischt.
Seitdem sabotiert er ihn, indem er die Fallen öffnet. Nicht alle, denn es soll nicht auffallen. Aber doch so viele, dass seine Seele dabei einen leisen Hauch von Genugtuung verspürt.
Es geht ihm lediglich darum: etwas zu tun, das gegen den Vater hilft.
So kann er zumindest in seiner Waldheimat den Schaden der eisenkalten Fangeisen verringern.
Zuhause kann er das nicht. Zuhause können er und seine Geschwister nicht fuchsschlau sein, sondern sie tappen naiv und hasengleich in die Fallen, die der Vater unsichtbar aufstellt. Ein vergessener Strohhalm auf dem Hof, ein Fleck auf einem Glas, ein Lachen, das nicht passend erscheint, all das löst beim Vater unsägliche Grausamkeit aus.
Er würde gerne gehen. Er würde sich gerne im Wald verbergen, Schutz auf Bäumen suchen, sich ein Lager unter den Wurzeln graben und nie wieder zurückkehren.
Ein Waldmensch sein, der sein Dasein im schattigen Tannengrün verbringen kann. Dort, wo es nur Moos gibt, wo nur weiche Wege seine Füße berühren können.
Aber er geht nicht. Er muss seine Brüder und Schwestern als Ältester beschützen. Insbesondere die eine. Sein Licht.
Sein Licht und seine Finsternis.
Hier erscheint es ihm beinahe von Vorteil, dass die Menschen nicht sehen wollen. Denn dadurch erkennen sie nicht, dass er sie liebt.
Nicht nur als Schwester liebt.
Sie ist ihm ein anderer Zufluchtsort als der Wald. Sie ist die Lichtung in ihm. Da, wo der Wald von Helligkeit durchzogen ist, bei ihr, da kann er sich sehen. Bei ihr kann er sich ertragen, kann alles aushalten an sich, für sie. Durch sie ist er ein Mensch, inmitten der Unmenschlichkeit. Er kann sie niemals alleine lassen.
Er beschließt noch in die kleine Kneipe zu gehen. Sein Tag war lang und der Alkohol lindert die Schwere seiner Gedanken. Inmitten all der fröhlichen, blinden Menschen, fühlt er sich oft so wenig wahrgenommen, dass es ihn beinahe loslöst von seinem Dasein und er eine besondere Art von kurzem Frieden findet.
Spät macht er sich auf den Heimweg.
Es brennt ein Licht in ihrem Fenster. Ihr Zeichen. Als er es sieht, beginnt etwas in ihm zu glühen. Wärmer als der Schnaps brennt etwas in ihm. Er lehnt das Rad an die Hausmauer, zieht seine Stiefel aus und betritt das Haus. Dumpfe Modrigkeit schlägt ihm entgegen und er riecht den Pfeifenrauch des Vaters. Doch der kann diese Wärme nicht vertreiben.
Sanft legt er seine Jacke über einen Stuhl. Betrachtet die kühle Sauberkeit des Forsthauses.
Er geht in den Waschraum. Zieht sich aus, nimmt die Seife und wäscht sich. Sein Körper soll den Kneipengeruch verlieren, er schämt sich jetzt beinahe für den billig erstandenen Scheinfrieden.
Behutsam nimmt er das Handtuch, trocknet sich ab und faltet es akkurat zusammen. Ecke auf Ecke und Kante auf Kante. So wie es sein muss in diesem Haus. Grausame Ordnung.
Leise zieht er die Türe des Waschraumes hinter sich zu. Niemand darf ihn hören, niemand darf ihn jetzt sehen. Niemand darf es wissen. Vater und Geschwister schlafen, doch die eine Kerze brennt.
Er geht durch den dunklen Flur, vorbei an den Zimmern, vorbei an dem Stuhl, der vor der guten Stube steht, auf dem sie sitzen müssen. Stunden. Solange sitzen, bis das Wort des Vaters sie erlöst. Bis sie genug bestraft sind. Genug gelitten haben für Strohhalm, Lachen und schmutziges Glas.
Er passiert den Stuhl und sieht die Kerze durch die Zimmertüre schimmern. Ein leicht goldener Rahmen in der Finsternis.
Es riecht nach frischem Moos. Nach Immergrün. Nach Licht und Sonne, nach frischer Luft und Atmen können.
Sie liegt mit dem Rücken zu ihm, ihr Gesicht zur Wand gedreht. Es ist immer dieses gleiche Bild, das sich ihm bietet. Sie möchte ihn nicht ansehen.
Etwas in ihr kann der Scham nicht ausweichen, kann sie nicht ganz ablegen wie ihr Kleid. Ihr zarter Körper leuchtet in der Dunkelheit und er spürt nun den Ursprung der Wärme in seinem Inneren.
Er legt sich neben sie. Nimmt eine Strähne ihres Haares und legt seine Arme um sie. Immer liegen sie so. Immer schenken sie sich diese Minuten.
Er riecht an ihrem Hals. Riecht ihren Moosduft, streichelt mit seinen schwieligen Fingern zart ihren Hals. Spürt ihre weiche, warme Haut. Saugt den Duft in sich hinein, um ihn tragen zu können. Um ihn zu behalten, damit er in der Lage ist, die langen, dunklen und kalten Tage auszuhalten.
Sie sprechen nicht. Und trotzdem herrscht kein Schweigen zwischen ihnen. Worte sind unnötig für ihre Gespräche in dem dunklen Zimmer, inmitten der atmenden jüngeren Geschwister. Noch nie wurde in den Minuten ihres Zusammenseins eines wach. Wie durch ein Wunder oder aufgrund einer wundersamen Zustimmung der anderen. Als ob sie so sein sollten, als ob es völlig normal sei so zu liegen.
Als ob der Vater sie nicht erschlagen würde, wenn er es nur ahnen würde.
Für sie beide ist es eine völlig normale Art des Seins. Sie wissen, dass sie nur so existieren können. Dass sie nur so überleben können, nur so die Welt mit dem Vater ertragen können.
Obwohl es verboten ist. Verbotener als jeder verlorene Halm, jeder Schmutzfleck. In einem Haus voller Grausamkeit, da ist kein Platz für so eine Liebe, die alles rein macht, jegliches Dasein begründet und erklärt.
Er umarmt sie. Zieht ihren warmen Körper dicht an sich. Spürt ihre unsagbare Wärme. Weiß im gleichen Moment, dass er nun aufstehen muss und sie verlassen. Dass hier der Moment des nächtlichen Abschiedes liegt, der nicht länger als diese Sekunden dauern darf.
Gerade als er sich von ihr lösen muss, niemals möchte, spürt er ein Zittern in ihr. Sie bewegt sich langsam und bedächtig. Völlig überraschend und doch ohne jegliche Hast. Dreht sich um ihre Köpermitte und zu ihm hin und er spürt ihr Gesicht zum ersten Mal auf diese Weise nah neben seinem. Spürt ihren Atem das erste Mal auf seinem Gesicht und ihre Augen, große, dunkle Stellen im nächtlichen Zimmer, sehen ihn ernst und unerschrocken an.
Die Wärme in ihm verwandelt sich in diesem Augenblick in ein unsägliches Flirren, das ihn verwirrt und gleichzeitig spürt er Angst und Ahnung in sich aufsteigen. Und doch bleibt er. Kann sich nicht entziehen. Schafft es nicht, den alten Pfad in sich zu verfolgen. Der neue Augenblick hält ihn vollkommen gefangen.
Sie zieht ihn an sich. Geräuschlos drückt sie ihren Körper an den seinen und umschließt ihn mit ihren Armen. Ihre Haare liegen über seinem Gesicht, aber seine Augen sind längst geschlossen, so sehr überwältigt ihn die Nähe zu ihr und das völlig Neue an ihrem Zusammensein.
Neue Nähe, eine Veränderung der alten Sicherheit. Und doch spürbar vertraut, weil sie beide so sein sollen. Er weiß es und weiß doch, dass ab dieser Sekunde ihre Welt vorbei sein wird. Es kein Zurück mehr gibt in Vertrautheit. Er weiß, dass dieses Feuer die kleine Kerze im Fenster zum Erlöschen bringen wird.
Längst hören sie das Atmen und Rascheln der Geschwister nicht mehr, sind aus ihrer Welt geworfen und erleben sich auf völlig neue Weise. Weit entfernt von Haus und Wald begegnen sie sich. Völlig losgelöst von Hass und Verboten, von den blinden Mitmenschen, frei von all dem Irdischen erkennen sie und berühren sie sich. Absolute Freiheit begründet durch fremdvertraute Haut, fremdvertrauten Duft, fremdvertraute Berührungen. Sie sinken ineinander bis zum Boden und keine Scham verstellt ihren Blick. Sie kennen und erkennen sich von Grund auf und finden und verlieren sich zugleich. Die Wärme wäscht sie frei von jeglicher Kälte und sie vergessen ihr stumpfes Leben. Vergessen für diesen einen Moment Angst und Ahnung, vergessen, dass sie Füchse sein müssen, werden leidenschaftlich und naiv zugleich und versinken völlig ineinander.
Es gibt ein Erwachen. Scheinbar plötzlich umgibt sie wieder der Atem der Geschwister, die Feuchte des Raumes, das Schnarchen des Vaters. Die Grausamkeit erschlägt sie beinahe, als sie sich trennen, auseinanderrücken. Obwohl keine Scham zwischen ihnen ist, sieht jeder beim anderen eine Erschrockenheit, die die Wärme in ihnen abkühlt. Und aus diesem Schrecken wird Angst. Wird eine Angst, die trotz ihrer Erfahrungen neu in diesen Räumen ist. Wie ein dunkler Nebel schwebt sie plötzlich zwischen ihnen und legt sich auf ihrer beiden Seele. Es ist keine Angst vor dem was geschehen ist. Es ist eine Angst, die größer als die Realität ist. Eine Angst, die über ihrer beider Leben hinausgeht.
Sie liegen beide lange wach. Lauschen den Atemzügen des anderen. Suchen Trost in der vertrauten Atmosphäre des Raumes, lauschen sogar dem Schnarchen des Vaters. Versuchen vergeblich das kalte Gift dieses Geräusches in sich zu ziehen. Mit der alten Angst diese neue auszulöschen. Es gelingt ihnen nicht.
Er muss doch eingeschlafen sein, denn als er erwacht, ist er alleine.
Das Bett seiner Schwester ist genau wie die Betten seiner Geschwister ordentlich gemacht. Ecke auf Ecke, Kante an Kante. Nichts verrät den nächtlichen Sturm.
Er hört die schneidende Stimme des Vaters und hat den unsäglichen Wunsch einfach liegen zu bleiben. Dem Tag nicht mehr zu begegnen. Einfach stumm und bewegungslos zu bleiben, als ob das etwas rückgängig machen könnte. Die Angst liegt schwer auf ihm und es gelingt ihm kaum, sie beiseite zu schieben. Er schafft es trotzdem, er ordnet sein Bett, kleidet sich an und verlässt das Zimmer.
Er setzt einen Fuß vor den anderen, ist irritiert, dass er sich noch von der Stelle bewegen kann. Wie seltsam sich doch die Seele vom Körper unterscheidet, denkt er sich und geht langsam zur Haustüre.
An der Türschwelle zögert er einen Moment. Hält inne. Bleibt stehen, wird noch einmal kurz still und findet darin seinen eigentlichen Seelenzustand wieder, überwindet sich erneut und setzt behutsam aber doch mit großer Bestimmtheit einen ersten Schritt nach draußen.
Epilog
Die Füchsin hebt den Kopf und nimmt Witterung auf.
Sie ist ein schlankes, graziles Tier von heller Färbung und von einer Flinkheit, mit der sie die anderen Füchsinnen weit überragt.
Ihre Augen sind dunkel, schmal und leicht nach oben gebogen, voller Weisheit und Wissen und manchmal findet sich sogar ein wenig List in ihnen. List, die sie nun dringend benötigt.
Sie muss den Weg finden. Muss all ihre Schlauheit und ihre Ahnung benutzen, um rechtzeitig den Weg zu finden, der sie zu ihren Jungen führt. Noch länger dürfen sie nicht alleine bleiben, sie brauchen dringend Nahrung und die Füchsin weiß, dass ihr die Zeit kein Freund ist. Sie muss sich beeilen.
Mit schnellen Sprüngen jagt sie durch den Wald. Ihre Füße berühren kaum den Boden. Zum Glück ist sie eine erfahrene Jägerin und so war es ein Leichtes für sie, den Hasen zu stellen. Unzählige Male hat sie Mäuse erlegt, indem sie ihren Kopf flach auf den Boden gedrückt und gelauscht hat, nur um dann mit gezieltem Sprung die Beute zu fangen. Dieses Mal glücklicherweise ein Hase. Ihre Jungen werden satt, wenn sie es rechtzeitig zu ihrem Bau schafft, wenn ihr Ziel erreicht ist.
Sie jagt allein. Ihr Fuchsgefährte ist verschwunden. Einige Male hat sie in die Nacht gebellt, bis sie akzeptierte, dass ihr Ruf nicht mehr gehört wird und er nicht wiederkehren wird. Einige Male hat sie vergeblich ihre Nase in die duftdurchflutete Luft gehalten, um ihn zu wittern, aber sein Geruch blieb fern. Er ist tot, ansonst würde er zurückkommen, wäre er bei ihr.
Umso mehr muss sie sich nun alleine um ihre gemeinsamen Jungen kümmern. Umso schneller muss sie jetzt sein, umso eher muss sie den gut versteckten Bau erreichen.
Die Füchsin trägt mit gerecktem Hals den baumelnden Hasen vor sich her. Er ist große Last und Rettung zugleich. Völlig fokussiert auf ihr Ziel bemerkt sie die Schwere nicht. Ihr zartes Rot leuchtet durch Büsche und Bäume, springt über Wurzeln und duckt sich durchs Dickicht. Niemand kann sie aufhalten. Ihr Instinkt ist groß, ihre Kinder müssen überleben.
Und sie hat Glück. Da ist der Bau, gut versteckt zwischen Bäumen und Wurzeln sein Eingang. Da drinnen wird sie sehnsüchtig erwartet. Sie legt den Hasen ab, blafft einmal, blafft ein weiteres Mal und da kommen sie. Kommen heraus aus ihrem warmen Nest. Purzelnd und lebendig scharen sie sich um die fette Beute, fangen an, sich daran satt zu essen. Die Füchsin beobachtet ihr Treiben aus ihren dunklen, schmalen Augen heraus, seufzt einmal tief, erkennt die Anstrengung in sich an und legt ihren Kopf auf ihre Pfoten. Jetzt darf sie sich für ausruhen für kurze Zeit, darf die Strapazen vergessen und wird alleine, aber unter einem großen Himmel, schlafen.