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Fake
Pummelig war sie schon als Kind. „Iss, sonst…“ Die angedrohte Konsequenz reichte immer, um auch den letzten Bissen zu schlucken. In der Schule hatte sie Glück. Es gab dickere, dümmere und kleinere Kinder, die sich als Mobbingopfer noch besser eigneten als sie selbst. Ihr erster Kuss erwies sich als Mutprobe unter pubertierenden Brillenträgern. Während des Studiums hatte sie Vorlesungssäle gemieden, nachdem ein Klappsitz unter ihrem Hintern weggebrochen war und sie zum Highlight der ödesten Veranstaltung des Semesters wurde. Überqualifiziert, verkam sie seit Jahren zur Randfigur in einer Rechtsanwaltskanzlei für Steuerrecht mit Schreibtisch hinten links bei den Toiletten. Sie liebte Leggings, schwarze Strickjacken und ihre mausbraunen Haare, die ihr in dichten Wellen über die fleischigen Schultern fielen.
Jetzt sah sie Fleisch - helles Fleisch im Schein kalten Neonlichts. Die Enge der Kabine verursachte Enge in ihrer Kehle und es blieb die Frage, warum in einem Bekleidungsgeschäft für Übergrößen die Umkleiden so klein waren. Schnell streifte sie die riesige, bunte Tunika über den Kopf und strich den weichen Seidenstoff über ihren Hüften glatt, als müsse sie Hände auf heiße Herdplatten legen. Absurder Gedanken, dem Frühling etwas Farbe abzugewinnen - genauso absurd wie die Hoffnung, dem neuen Nachbarn mehr als nur ungelenke Hilfe beim Aufbau seines Tapeziertisches zu sein.
Bruchteilchen von Zeit fiel ihr Blick auf das Spiegelbild, bevor sie sich umdrehte und das Kleidungsstück in einem Ruck von ihrem Körper riss. Mit geschlossenen Augen versank sie in gewohnter Baumwollweite und gewann etwas an Sicherheit zurück.
Noch bevor die bemühte Verkäuferin ihr ein aufdringliches „…und, passt?“ zurufen konnte, fielen die dicken Glastüren bereits hinter ihr zu und sie stand schwer atmend auf der Straße. Das war keinen Versuch wert gewesen – jetzt eine Tasse Kaffee und heute mal die Milch weglassen.
„Ein Kännchen Kakao bitte. - Ja, mit Sahne – und so eine Zitronenrolle.“ Sie versuchte erst gar nicht, ihre Beine übereinander zu schlagen und rutschte mit ihrem Stuhl so weit in die Ecke, dass sie sehen, aber nicht gesehen werden konnte.
Die kleine Gabel glitt in die cremige Masse des Kuchens und sie fühlte sich schuldig. Da fiel ihr Blick auf eine atemberaubend langbeinige Schönheit am anderen Ende des Cafés. Dieses blonde Geschöpf hatte gerade den langen Löffel tief in einen riesigen Eisbecher gesteckt, leckte ihn nun aufreizend langsam ab und flirtete intensiv mit ihrer Saubermann-Begleitung. Na toll. Da war sie doch wieder – diese unmenschliche Ungerechtigkeit. Zum ungezählten Mal kapitulierend, schob sie ihre Gabel in den Mund und senkte den Blick. Es waren immer die anderen, die ein Leben hatten. Sie selbst war einfach nur da.
Mit dem Wechselgeld noch in der Hand, schob sie ihren Hintern an einem Tisch junger Mädchen vorbei Richtung WC. Sie hatte Übung darin, Bemerkungen über ihre Statur irgendwo zwischen Hirn und Herz abprallen zu lassen. Teenager sind grausam – fast so grausam wie Kinder.
Flüchtig wusch sie sich die klebrigen Sahnereste von den Fingern, als würgende und spuckende Geräusche aus einer der Toilettenkabinen sie aufhorchen ließen. Sie wollte gerade höflich fragen, ob Hilfe nötig sei, da öffnete sich die Tür. Das blonde Eisbecher-Wesen trat kühl und beherrscht neben sie an die Waschbecken, tupfte ihre Lippen trocken und kontrollierte ihr Make-up. „Mein Magen…“ sagte sie knapp und wirkte doch irgendwie beschämt. Dann drehte sie sich, strich sich über den Bauch und kontrollierte ihre flache Silhouette. Wortlos stöckelte die Frau hinaus. Der zurückgebliebene Fleischberg erschien sich nun doppelt gewichtig und schaute der Dünnen verwirrt hinterher.
Ach so. Ein Lächeln breitete sich irgendwo in ihr aus und eine Art Erkenntnis durchfuhr sie wie eine Offenbarung.
Sie trat in die Kabine, wo Spuren von Erbrochenem Gestank verbreiteten. In ihrer Umhängetasche fand sie einen dicken Filzstift. Akkurat und langsam malte sie jetzt Buchstaben an die Trennwand.
„Hier bin ich FAKE.
Fast
Am
Kotzen
Erstickt“
Ein kleines Bimmeln ertönte, als sie die Glastür zum zweiten Mal öffnete. „Ich nehme die Bluse doch.“