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Fahrt im Nebel

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11.10.2002
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Fahrt im Nebel

Es ist Nacht. Du bist seit Stunden unterwegs. Du bist müde, deine Augen schmerzen. Der Kaffee in der Thermoskanne ist längst aufgebraucht. Vielleicht wäre es besser, einen Parkplatz anzusteuern, ein wenig zu schlafen.
Aber du willst nach Hause. Deine Familie wartet.
Nach Hause.
Du rast in eine Nebelbank und bemerkst, dass du viel zu schnell fährst. Du nimmst den Fuß vom Gaspedal, bis die Tachonadel auf 80 gesunken ist. Du schaltest die Nebelschlussleuchte ein.
Die Sicht wird schlechter.
Um nicht einzudösen, zündest du dir eine Zigarette an. Du glaubst, das Rauchen beschäftigt dich, hält dich wach. Es funktioniert.
Plötzlich wird das milchige Weiß des Nebels von blauen Blitzen zerrissen. Hart und gewaltsam zertrümmern sie den weichen Fluss der Schwaden, die Nacht zerbirst in grelle Fragmente. Du kneifst die Augen zusammen und bremst ab.
Vor dir ein Polizeiauto. Es scheint sich aus dem Nichts manifestiert zu haben. Der Nebel ist so dicht, die Blitze sind heller jetzt. Neben dem Wagen kannst du einen Beamten ausmachen, der eine rote Warnkelle schwenkt. Du hältst an.
Er kommt auf dich zu, du kurbelst das Fenster herunter. Dein Herz schlägt viel zu schnell, du hast ein schlechtes Gewissen wegen der drei Gläser Wein, die du bei dem Geschäftsessen getrunken hast.
Aber er interessiert sich nicht dafür.
Guten Abend, sagt er.
Guten Abend, sagst du.
Zwei Kilometer weiter hat sich ein schwerer Unfall ereignet, sagt er. Wir empfehlen ihnen, umzukehren und das Gebiet zu umfahren.
Unmöglich, sagst du. Ist die gesamte Straße gesperrt?
Ja, sagt er.
Aber ich muss nach Hause.
Wir empfehlen ihnen, umzukehren.
Aber - dann geht er plötzlich, schwenkt seine rote Warnkelle. Er lässt dich allein.
Hallo?, rufst du, aber der Nebel scheint deine Stimme zu verschlucken, so wie er den Polizisten verschluckt hat. Niemand antwortet dir. Das Blaulicht beginnt, dir Kopfschmerzen zu verursachen.
Hallo?, rufst du noch einmal. Doch: Stille.
Du gibst Gas, ganz leicht, und rollst an dem Streifenwagen vorbei. Er ist leer, eine Tür steht offen. Du hörst das Knistern und Knacken des Funkgeräts, unverständliche, verzerrte Metallstimmen.
Dann ist es wieder still.
Du wirfst einen Blick zurück, hältst Ausschau nach dem Polizisten, doch er bleibt verschwunden, verloren irgendwo im Blitzlichtnebel. Die ganze Szene kommt dir auf einmal absurd vor.
Surreal.
Kalte Finger scheinen dein Rückrat entlang zu streichen, deine Nackenhärchen stellen sich auf. Ein seltsames Gefühl nistet sich in deiner Magengegend ein. Du lachst und schüttelst den Kopf. Schüttelst alles ab.
Du beschließt, weiterzufahren. Vielleicht gibt es ein Durchkommen. Du gibst Gas und lässt das gleichmäßige Blitzen des Blaulichts hinter dir. Die trübweiße Nacht hat dich wieder. Du siehst in den Rückspiegel, doch da ist nichts. Nichts als Nebel. Es ist kalt, du kurbelst das Fenster hoch und zündest dir eine weitere Zigarette an. Dann lachst du noch einmal. Wie absurd.
Du schaltest das Radio ein. Rauschen. Du drückst verschiedene Senderwahltasten, doch du hörst nichts als atmosphärische Störungen. Dann, endlich, eine Stimme, zwar vom Rauschen untermalt, aber immerhin verständlich. Nachrichten. Doch der Sprecher kommt bereits zum Ende.
Sie hörten die Nachrichten. Es ist ein Uhr und fünf Minuten. Wir kommen zum Verkehrsservice.
Ein Uhr?, fragst du dich. Schon? Du wirfst einen Blick auf deine Armbanduhr. Sie muss stehen geblieben sein. 00:34.
00:34. Du schlägst sie leicht gegen das Lenkrad, aber es nutzt nichts.
Auf der Staatsstraße 272 hat sich in Höhe der Auffahrt A. ein schwerer Verkehrsunfall ereignet, knistert das Radio. Wir bitten Sie, das Gebiet weiträumig zu umfahren. Die Strecke ist in beiden Richtungen gesperrt. Wir wünschen weiterhin gute Fahrt.
Musik setzt ein, du schaltest ab. Die Störungen gehen dir auf die Nerven.
Ausfahrt A. Müsste gleich kommen, denkst du. Vielleicht solltest du wirklich umkehren. Aber du würdest dadurch mindestens eine Stunde verlieren. Also fährst du weiter.
Der Nebel ist so dicht jetzt.
Du musst dich konzentrieren.
Die Zigarette zwischen deinen Fingern ist fast abgebrannt. Du nimmst einen letzten Zug.
Du drückst sie im Aschenbecher aus.
Noch bevor du irgendetwas erkennen kannst, hörst du das Signalhorn. Laut, hart.
Ein Schild rast rechts an dir vorbei. Du glaubst, das Wort A. darauf zu erkennen.
Dann blenden dich die Scheinwerfer, plötzlich, sie haben sich durch nichts angekündigt. Sie sind einfach da. Durchfluten das Innere deines Wagens und zwängen sich durch die Pupillen in deinen Schädel.
Weißes Feuer verbrennt die Nacht.
Du hast keine Zeit, zu reagieren. Du hast keine Zeit, zu denken.
Der monströse Kühlergrill des LKWs zerfetzt die gesamte Frontpartie deines Wagens, als wäre sie aus Papier. Glas- und Metallsplitter regnen auf dich und die Ledersitze, zerschlitzen die Polster und deinen Körper. Der Motorblock schiebt sich kreischend in den Kofferraum. Bevor er deinen Brustkorb durchschlägt und dir den rechten Arm mitsamt der Schulter amputiert, verformen deine Hände das Lenkrad. Das Armaturenbrett zerquetscht dir Bauch und Unterleib und bricht dir beide Beine. Die Stoßstange des LKWs zertrümmert Deinen Schädel. Dein Wagen ist unter dem LKW eingeklemmt, wird über 100 Meter mitgeschleift, bevor ihr zum Stehen kommt. Es ist die Schuld des LKW-Fahrers. Er war auf der falschen Spur.
Aber ist das nicht egal?
Du blutest.

 

Hey Matt!
Am Anfang hat mich der Stil Deiner Geschichte irritiert, erinnerte mich an eine Traumreise. Aber je weiter ich gelesen habe, desto passender und geschickter erschien mir die Erzählweise und ich wurde von der Hnadlung wirklich in den Bann geschlagen.

Nach dem Polizisten und den Nachrichten dachte ich, der Protagonist wäre bei diesem Unfall verunglückt und befindet sich in einer Art Zeitschleife. Da gibt es so eine alte Lagerfeuergeschichte, in der ein Mann nach einem Unfall gezwungen ist, eine niemals endende Landstraße zu befahren ohne zu wissen, dass er tot ist. Daran hat mich Deine Story ein wenig erinnert.
Auch wenn bei Dir dann der Unfall zum Schluss nicht wirklich dazu passt, glaube ich, dass Deine Intention doch ähnlich war.

Was mich allerings stark gestört hat, war das hier:

Aber ist das nicht egal?
Du blutest.
Diese beiden Sätze empfand ich als überflüssig. Natürlich ist es egal, wer an einem Unfall schuld war, wenn man dabei stirbt. Aber dieser Gedanke ist für diese Geschichte doch eigentlich unwichtig und -interessant.
Und dass der Protagonist blutet, das kann ich mir nach der Amputation, den zertrümmerten Beinen, etc. denken. Lass die Geschichte entweder zwei Sätze weiter oben enden oder füge noch etwas an. Wenn mein Gedanke von der Zeitschleife richtig ist, würde es ja passen, wenn Du schreibst: "Du blutest. Aber das ist egal. Es ist Nacht und Du bist seit Stunden unterwegs.", alos die Geschichte mit dem Ende wieder neu beginnen lässt.

Eine Bitte habe ich noch an Dich: Markier die wörtliche Rede bitte als solche.

Deine Geschichte hat mir richtig gut gefallen. Sie ist zwar im klassischen Sinn nicht gruslig oder schockt, aber sie hinterlässt ein schlechtes Gefühl im Magen. Das mag ich.

Ugh

 

Hallo Bibliothekar!
Schön, dass Dir die Geschichte - weitestgehend - gefallen hat.

Eine Zeitschleife war eigentlich nicht meine Intention; eher ein kleiner "Riss" im zeitlichen Ablauf. Der Protagonist hinkt sozusagen dem "echten" Fluss der Zeit hinterher und erfährt vom Polizisten/dem Nachrichtensprecher von seinem eigenen Unfall, noch ehe sich dieser ereignet.

Mit dem Ende hast Du sicher recht - es ist sarkastisch, zynisch und passt nicht zum restlichen Stil der Geschichte - ich denk mir noch was aus.

Die fehlenden Anführungszeichen, die ich normalerweise gewissenhaft setze ;) , sind in diesem Falle Absicht. Ich wollte mich in dieser Geschichte einfach an einem ungewöhnlichen Stil probieren, was ja auch durch die Erzählperspektive der 2. Person kundgetan wird.

Danke für das ausführliche Feedback!
Grüße,
Matt

 

Hey Matt!
Naja, dann lag ich mit der Zeitschleife ja nicht ganz falsch. ;) Deine Idee zur Geschichte finde ich echt gut.
Aber überleg Dir das noch einmal mit den Anführungszeichen, denn so ist es im Moment eigentlich schlichtweg falsch.

Ugh

 

Nochmal hi Bibliothekar!
Ich muss Dir leider widersprechen ;) : Anführungszeichen fallen meines Erachtens unter die künstlerische Freiheit. Hast Du jemals etwas von Cormac McCarthy gelesen? Dieser von mir hochverehrte Autor hat in seinem ganzen Leben noch kein Anführungszeichen gesetzt. (Empfehlung, solltest Du Zeit und Muse haben: "Grenzgänger" oder "Die Abendröte im Westen"). Na ja, normalerweise steh ich auch auf Anführungszeichen. Es handelt sich hier, wie gesagt, mehr um ein Experiment.:)
Grüße,
Matt

 

:p Das ist aber wirklich die äußerste Grenze vom Grenzbereich. Aber genug wegen den Anführungszeichen diskutiert, belassen wir es einfach bei meiner herausgestreckten Zunge. :D

Ugh

 

Hi!
Während ich die Geschichte las, wusste ich nicht, was ich von ihr halten sollte. Als ich fertig gelesen hatte, war ich wirklich überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Beim Lesen habe ich über ein mögkliches Ende nachgedacht, doch auf diese Idee bin ich nicht gekommen. Echt gut!! Hat mir wirklich gut gefallen!
Bye und noch viel Spaß beim Schreiben!!

 

Eine richtig geile Geschichte, finde ich. Das ist ganz mein Fall, eine Geschichte ohne Monster und Dämonen, sondern der ganz "alltägliche" Horror. Dinge die jedem passieren können. Hab selten so etwas atmosphärisches in der Horror-Rubrik gelesen. Auch erfreut hier die stilistische Experimentierlust, das gelungene Erzählen aus der seltenen 2. Person. Bei den fehlenden Anführungsstrichen ist es in der Tat falsch von "richtig oder falsch" zu sprechen. Bei Prosa fällt sowas unter die Dichterfreiheit. Hier macht es auch Sinn, meine ich, da der Dialog dadurch aus der Wörtlichkeit gerückt wird. Er erscheint entfernt und nicht ganz real, dient der unheimlichen Atmosphäre.

Hoffentlich lässt du mal wieder von dir hören.

I3en

 

Vielleicht passt als Schlusssatz : "Es ist 1.05" oder so. Der Zeitpunkt eben, den der Radiosprecher im als Unfallzeitpunkt erwähnt hat.

LG
Apoc

 

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