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Fahrt im Nebel
Es ist Nacht. Du bist seit Stunden unterwegs. Du bist müde, deine Augen schmerzen. Der Kaffee in der Thermoskanne ist längst aufgebraucht. Vielleicht wäre es besser, einen Parkplatz anzusteuern, ein wenig zu schlafen.
Aber du willst nach Hause. Deine Familie wartet.
Nach Hause.
Du rast in eine Nebelbank und bemerkst, dass du viel zu schnell fährst. Du nimmst den Fuß vom Gaspedal, bis die Tachonadel auf 80 gesunken ist. Du schaltest die Nebelschlussleuchte ein.
Die Sicht wird schlechter.
Um nicht einzudösen, zündest du dir eine Zigarette an. Du glaubst, das Rauchen beschäftigt dich, hält dich wach. Es funktioniert.
Plötzlich wird das milchige Weiß des Nebels von blauen Blitzen zerrissen. Hart und gewaltsam zertrümmern sie den weichen Fluss der Schwaden, die Nacht zerbirst in grelle Fragmente. Du kneifst die Augen zusammen und bremst ab.
Vor dir ein Polizeiauto. Es scheint sich aus dem Nichts manifestiert zu haben. Der Nebel ist so dicht, die Blitze sind heller jetzt. Neben dem Wagen kannst du einen Beamten ausmachen, der eine rote Warnkelle schwenkt. Du hältst an.
Er kommt auf dich zu, du kurbelst das Fenster herunter. Dein Herz schlägt viel zu schnell, du hast ein schlechtes Gewissen wegen der drei Gläser Wein, die du bei dem Geschäftsessen getrunken hast.
Aber er interessiert sich nicht dafür.
Guten Abend, sagt er.
Guten Abend, sagst du.
Zwei Kilometer weiter hat sich ein schwerer Unfall ereignet, sagt er. Wir empfehlen ihnen, umzukehren und das Gebiet zu umfahren.
Unmöglich, sagst du. Ist die gesamte Straße gesperrt?
Ja, sagt er.
Aber ich muss nach Hause.
Wir empfehlen ihnen, umzukehren.
Aber - dann geht er plötzlich, schwenkt seine rote Warnkelle. Er lässt dich allein.
Hallo?, rufst du, aber der Nebel scheint deine Stimme zu verschlucken, so wie er den Polizisten verschluckt hat. Niemand antwortet dir. Das Blaulicht beginnt, dir Kopfschmerzen zu verursachen.
Hallo?, rufst du noch einmal. Doch: Stille.
Du gibst Gas, ganz leicht, und rollst an dem Streifenwagen vorbei. Er ist leer, eine Tür steht offen. Du hörst das Knistern und Knacken des Funkgeräts, unverständliche, verzerrte Metallstimmen.
Dann ist es wieder still.
Du wirfst einen Blick zurück, hältst Ausschau nach dem Polizisten, doch er bleibt verschwunden, verloren irgendwo im Blitzlichtnebel. Die ganze Szene kommt dir auf einmal absurd vor.
Surreal.
Kalte Finger scheinen dein Rückrat entlang zu streichen, deine Nackenhärchen stellen sich auf. Ein seltsames Gefühl nistet sich in deiner Magengegend ein. Du lachst und schüttelst den Kopf. Schüttelst alles ab.
Du beschließt, weiterzufahren. Vielleicht gibt es ein Durchkommen. Du gibst Gas und lässt das gleichmäßige Blitzen des Blaulichts hinter dir. Die trübweiße Nacht hat dich wieder. Du siehst in den Rückspiegel, doch da ist nichts. Nichts als Nebel. Es ist kalt, du kurbelst das Fenster hoch und zündest dir eine weitere Zigarette an. Dann lachst du noch einmal. Wie absurd.
Du schaltest das Radio ein. Rauschen. Du drückst verschiedene Senderwahltasten, doch du hörst nichts als atmosphärische Störungen. Dann, endlich, eine Stimme, zwar vom Rauschen untermalt, aber immerhin verständlich. Nachrichten. Doch der Sprecher kommt bereits zum Ende.
Sie hörten die Nachrichten. Es ist ein Uhr und fünf Minuten. Wir kommen zum Verkehrsservice.
Ein Uhr?, fragst du dich. Schon? Du wirfst einen Blick auf deine Armbanduhr. Sie muss stehen geblieben sein. 00:34.
00:34. Du schlägst sie leicht gegen das Lenkrad, aber es nutzt nichts.
Auf der Staatsstraße 272 hat sich in Höhe der Auffahrt A. ein schwerer Verkehrsunfall ereignet, knistert das Radio. Wir bitten Sie, das Gebiet weiträumig zu umfahren. Die Strecke ist in beiden Richtungen gesperrt. Wir wünschen weiterhin gute Fahrt.
Musik setzt ein, du schaltest ab. Die Störungen gehen dir auf die Nerven.
Ausfahrt A. Müsste gleich kommen, denkst du. Vielleicht solltest du wirklich umkehren. Aber du würdest dadurch mindestens eine Stunde verlieren. Also fährst du weiter.
Der Nebel ist so dicht jetzt.
Du musst dich konzentrieren.
Die Zigarette zwischen deinen Fingern ist fast abgebrannt. Du nimmst einen letzten Zug.
Du drückst sie im Aschenbecher aus.
Noch bevor du irgendetwas erkennen kannst, hörst du das Signalhorn. Laut, hart.
Ein Schild rast rechts an dir vorbei. Du glaubst, das Wort A. darauf zu erkennen.
Dann blenden dich die Scheinwerfer, plötzlich, sie haben sich durch nichts angekündigt. Sie sind einfach da. Durchfluten das Innere deines Wagens und zwängen sich durch die Pupillen in deinen Schädel.
Weißes Feuer verbrennt die Nacht.
Du hast keine Zeit, zu reagieren. Du hast keine Zeit, zu denken.
Der monströse Kühlergrill des LKWs zerfetzt die gesamte Frontpartie deines Wagens, als wäre sie aus Papier. Glas- und Metallsplitter regnen auf dich und die Ledersitze, zerschlitzen die Polster und deinen Körper. Der Motorblock schiebt sich kreischend in den Kofferraum. Bevor er deinen Brustkorb durchschlägt und dir den rechten Arm mitsamt der Schulter amputiert, verformen deine Hände das Lenkrad. Das Armaturenbrett zerquetscht dir Bauch und Unterleib und bricht dir beide Beine. Die Stoßstange des LKWs zertrümmert Deinen Schädel. Dein Wagen ist unter dem LKW eingeklemmt, wird über 100 Meter mitgeschleift, bevor ihr zum Stehen kommt. Es ist die Schuld des LKW-Fahrers. Er war auf der falschen Spur.
Aber ist das nicht egal?
Du blutest.