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Fahrradlampenfinsternis
Aus der Ferne sah Sascha noch genauso aus wie früher. Dieselbe hagere Statur, dieselbe leicht gebückte Haltung, dieselben kurzen, dunklen Locken, die im Fahrtwind in alle Richtungen abstanden.
Das Bild schien mich mit zehn- oder elfjähriger Verspätung zu erreichen, als umkreiste ich mit meiner Erde nicht die Sonne, sondern Prokyon, zu dem ich Saschas Blick damals durch die Dunkelheit geführt hatte. Die Nacht war klar gewesen und ohne Streulicht, aber kalt. Zitternd hatte ich den Weg beschrieben, mit der einen Hand in den Himmel zeigend, auf Beteigeuze, Sirius, Prokyon, mit der anderen Hand in Saschas Manteltasche grabend, Saschas Finger umklammernd.
"Da rechts ist doch Orion. Gut, also die linke obere Ecke, der Hellste, der heißt Beteigeuze. Und jetzt nimm noch den da unten und den dazu und du bekommst ein gleichseitiges Dreieck, das Winterdreieck. Die untere Ecke ist Sirius und der andere, das ist Prokyon."
Ob es wohl noch derselbe Mantel war, der von Zeit zu Zeit gegen den lila Rahmen des Fahrrads schlug, während Sascha direkt auf mich zuradelte? Ich kniff die Augen zusammen und blieb stehen. Sicherheitshalber legte ich eine Hand auf das Brückengeländer und tat so, als ließe ich den Blick über den Güterbahnhof schweifen. Gleise und Oberleitungen verbanden die rote Ferne auf der einen Seite der Brücke mit der tiefblauen Ferne auf der anderen. Wo sie unter der Brücke verschwanden, warnten gelbe Schilder vor Hochspannung.
Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis unters Kinn, um das Motiv meines Wonder-Woman-Pullovers zu verstecken. Leider war unten noch ein gutes Stück von Wonder Woman’s Stiefeln zu sehen, die fast bis zu meinen Knien reichten. Die Größte war ich ohnehin nie und Jonas hatte mir den Pulli in XL geschenkt. Er mochte diesen Schlabberlook. Kurz dachte ich darüber nach, den Pulli irgendwo reinzustopfen, unter die Jacke oder in die Hose vielleicht, verwarf den Gedanken aber wieder. Am Ende sähe es nur aus, als hätte ich unvorteilhaft zugenommen.
Inzwischen hatte Sascha die Brücke erreicht und schob das Fahrrad den ansteigenden Weg hinauf, der über die Gleise führte. In regelmäßigen Intervallen sandte die Zigarette in Saschas Mundwinkel ein orangefarbenes Glühen durch die Dämmerung.
Mein Schuh war nicht offen und ich überlegte, ihn zu binden, mich in letzter Sekunde mit dem Gesicht zum Brückengeländer zusammenzukauern, um nicht erkannt zu werden.
Dann stand sie vor mir: Sascha Anastasia Sauermann, Hemd, Krawatte, Anzughose, schwarzer Filzmantel, aber offen. Ich hatte ihre Bahnkurve mit der Präzision eines Johannes Kepler vorhergesagt, vom Horizont bis hierher, bis genau vor meine Füße, und trotzdem war ich überrascht.
"Sascha! Wie geht es dir?", fragte ich. Hoffentlich sahen meine Haare weniger fettig aus, als sie sich anfühlten.
Mit Daumen und Zeigefinger nahm Sascha die Zigarette aus dem Mund. Sie atmete aus und ihr Grinsen verschwand für einen Augenblick hinter einer schwefelsauren Venusatmosphäre aus Zigarettenrauch. Ihr Hemd war wie gewöhnlich viel zu weit, vielleicht sogar etwas weiter als früher. Besonders obenherum. Wahrscheinlich hatte Jonas mit seinen Männerbrüsten die größere Oberweite.
"Wie sollte es mir schon gehen? Gut, natürlich. Du weißt doch, mir geht es immer gut, zumindest solange die Kippen nicht ausgehen", sagte Sascha und hob ihre Zigarette.
Statt zu antworten, atmete ich hörbar durch die Nase aus, mein Typisch-Sascha-Geräusch. Lange hatte ich es nicht mehr gebraucht, fast war ich aus der Übung. Und seit mindestens einer Ewigkeit hatte ich auch keine mehr geraucht. Jonas hasste Zigaretten.
"Wie läuft es bei dir? Machst du noch dein Astro-Gedöns?", fragte Sascha.
"Astroteilchenphysik. Seit zwei Monaten fertig mit der Promotion."
"Wie, dann bist du jetzt ganz offiziell Doktor Merz?"
"Für dich natürlich weiterhin Doktor Julia."
Sascha grinste und schüttelte den Kopf. Sie hatte Grübchen wie kleine Mondkrater, unter ihren Augen lagen die Schatten von Mare Crisium und Mare Imbrium. "Glückwunsch, Julia. Wirklich. Glückwunsch. Du hast es verdient, du warst schon immer genial."
"Ach was, ich kann mir nur halbwegs gut Dinge merken und zur richtigen Zeit nachplappern", sagte ich und steckte die Hände in die Taschen. "Null eigene Kreativität. So was wie dein Gedicht, das mit dem Mondkalb, das wäre mir nie eingefallen."
"Und ich dachte die ganze Zeit, du stehst nicht so auf Lyrik." Sascha schnippte die Zigarettenkippe zur Seite, ein kleiner Meteorit, der doch keinen Krater schlagen konnte auf dem staubigen, kaugummigesprenkelten Betonboden.
"Tu ich auch nicht. Aber dafür mache ich eine Ausnahme."
"Du hast mir nie gesagt, dass es dir gefällt." Bevor sie ihr Fahrrad ans Brückengeländer lehnte, hob sie eine Plastiktüte aus dem Fahrradkorb. Sie fischte eine zerknitterte Zigarettenschachtel und eine Dose Energy-Drink heraus, dann landete die Tüte neben dem Fahrrad auf dem Boden.
Achselzuckend sagte ich: "Ich wollte mich nicht einmischen."
"Komm schon, ich habe den Scheiß damals im Flur auf die Tapeten gepinselt." Sascha stellte die Dose auf dem Brückengeländer ab. "Damit war praktisch die ganze Schule eingemischt. Verdammt, war ich wütend damals. Ich dachte ... Die Sache mit Aaron ... Ach, vergiss es einfach."
Eine dunkle Locke ringelte sich auf ihrer weißen Stirn wie eine Spiralgalaxie, ihr kleiner, privater Andromedanebel.
Mit einer beiläufigen Handbewegung fegte Sascha die Galaxie von ihrer Stirn zurück ins Chaos. Eine neue Zigarette qualmte bereits in ihrem Mundwinkel. Sie sagte: "Sag mal, ich habe noch eine Lesung heute, hast du nicht Lust mitzukommen? Ist so ein Jazz-Club. Jazz und Lyrik."
"Vielleicht ein anderes Mal", erwiderte ich. Dienstags schaute ich mit Jonas immer einen Superheldenfilm und Jonas mochte keinen Jazz. Eigentlich hörte er am liebsten Rockballaden.
"Klar, vielleicht ein anderes Mal", sagte Sascha leise und ohne mich anzusehen. Sie hatte die Unterarme auf dem Brückengeländer verschränkt, ich lehnte mit dem Rücken dagegen. Sie schaute der untergehenden Sonne nach, ich suchte in entgegengesetzter Richtung vergeblich nach den ersten Sternen. Mir war, als kreiselten wir um ein gemeinsames Zentrum, und zwischen uns stand unbeweglich, ungeöffnet die Dose mit dem Energy-Drink.
"Wovon lebst du eigentlich, Sascha?", fragte ich, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
"Ich arbeite an der Tanke", antwortete Sascha. Metall knickte, der Überdruck in der Dose entwich zischend in die Erdatmosphäre. Sascha nahm einen Zug. "Die unten beim Friedhof, fast immer nachts, wenn sowieso keiner kommt. Die meiste Zeit schreibe ich an meinen Gedichten."
"Und dein Studium?"
"Ach, wozu brauche ich denn einen Uni-Abschluss? Ich? Dichten lernt man sowieso nicht an der Uni."
"Ein Plan B schadet nie, oder?", wiederholte ich Jonas’ Worte. Spezialisiere-dich-auf-Datenanalyse-Jonas. Das-ist-gesucht-auf-dem-Arbeitsmarkt-Jonas. Falls-es-mit-der-Karriere-in-der-Forschung-nicht-klappt-Jonas.
"Doch." Ich hörte wie Sascha sich bewegte und öffnete die Augen. Sie war ein Stück vom Geländer zurückgetreten und schaute mich an.
"Doch", wiederholte sie, "ich glaube, manchmal tut ein Plan B genau das." Die Streifen auf ihrer Krawatte hatten unregelmäßige Abstände, Spektrallinien im Spektrum der untergegangenen Sonne.
"Meine Stelle an der Uni läuft in vier Monaten aus", gestand ich, "für die Zeit danach habe ich mich bei einer Bank beworben." Mein Schuh war immer noch nicht offen und ich überlegte schon wieder, ihn zu binden. Saschas Lederschuhe, die näher traten, hatten gar keine Schnürsenkel.
"Wolltest du nicht immer in die Forschung? Neue Planeten entdecken?" Sascha stand direkt vor mir, ihre Augen Schwarze Löcher, in deren Nähe die Zeit langsamer verlief, in deren Nähe das menschliche Verständnis von Gleichzeitigkeit seinen Sinn verlor, und plötzlich war ich wieder vor zehn Jahren oder umkreiste Prokyon oder steckte meine Hand in Saschas Manteltasche. Sie umfasste meine Finger. Es roch nach Zigarettenrauch und Energy-Drink und ich atmete tief ein.
Wieder dieses Mondkratergrinsen in Saschas Gesicht, als sie sagte: "Lass uns in den Iran trampen!"
"Was?" Ich zog meine Hand zurück.
"Trampen. Du und ich. In den Iran. Hast du Bock? Von mir aus warten wir noch vier Monate, bis dein Vertrag ausgelaufen ist."
Ich machte das Typisch-Sascha-Geräusch. "Du bist doch völlig wahnsinnig!"
"Denk einfach darüber nach, in Ordnung?" Sascha nahm die Zigarette zwischen die Finger und trank den Rest Energy-Drink, die leere Dose stellte sie zurück auf das Brückengeländer. Sie richtete das Fahrrad auf und sammelte die Tüte wieder ein. "Ich muss los, die Lesung. Melde dich einfach, wenn du dich entschieden hast." Blaue Adern schimmerten auf der Innenseite ihres Handgelenks, als sie die Hand hob und mir ein Peace-Zeichen zeigte.
Ich hielt mich am Geländer fest und nuschelte etwas unverbindlich Unverständliches, während Sascha das Rad die paar Meter bis zum höchsten Punkt der Brücke schob. Ihre Schuhe ohne Schnürsenkel schlurften leise über den Beton. Das Schlurfen verstummte, Sascha beugte sich über den Fahrradlenker und im nächsten Moment wurde der Weg vor ihr von einem Lichtkegel erhellt.
"Sascha!", rief ich plötzlich und folgte ihr zwei Schritte.
"Wasn?" Sie hatte sich zu mir umgedreht.
"Hast du vielleicht ne Kippe für mich?"
"Klar." Ihre Hand verschwand kurz in der Plastiktüte, dann warf sie mir etwas zu. "Fang! Sind sowieso nur noch zwei drin, aber das Feuerzeug will ich wieder haben!" Die Zigarettenschachtel prallte von meinen Fingerspitzen und landete neben mir auf dem Boden. Ich hörte Sascha kichern und bückte mich. Die Schachtel wurde von einem roten Gummiband zusammengehalten.
"Danke!", rief ich, sah auf, doch Sascha war bereits verschwunden. Ich sprintete ein Stück. In meiner Hand klapperte der Inhalt der Zigarettenschachtel. Ganz oben auf der Brücke blieb ich stehen und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Der Weg vor mir führte die Brücke hinunter, dann in mehreren Schleifen durch das Schrebergartengebiet in Richtung Südstadt. Saschas Fahrradlampe folgte dem Weg und mein Blick folgte Saschas Fahrradlampe, bis sie hinter dem Gestrüpp am Wegrand verschwand.
Sie ließ die Welt im Dunkeln zurück, versteckte sich vor ihr wie die Sonne bei einer Sonnenfinsternis. Ich bemerkte, dass schon längst die Sterne leuchteten. Dann, nur einen kurzen Moment später, sah ich sie wieder, erkannte sie wieder, meine winzige Fahrradlampe.
Ich wünschte mir, dass ich Sascha dieses Mal nicht länger vermissen müsste als diese kurze Fahrradlampenfinsternis.