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Fahrerflucht
Fahrerflucht
von Marvin Papies
„Gibst mir noch ´nen Schluck, Derek?“
„Fährst du oder ich?“
„Du.“
“Na bitte, dann bin ich auch voll und ganz dazu berechtigt mehr als du zu trinken.“
Derek grinste Benny schief an und konzentrierte sich wieder auf die Straße.
„Du fährst aber scheiße, Derek.“
Derek warf den Kopf in den Nacken und lachte.
„Ja, du Hurensohn. Kann daran liegen, dass ich besoffener bin als Reverand Hansen zur Sonntagsmesse.“ Er grinste immer noch und nahm einen kräftigen Schluck aus der halbleeren Flasche Black Label, die er in der linken Hand hielt. Die Rechte lag lässig auf dem Lenkrad des mächtigen Dodge Ram Pick-Ups, den Benny zu seinem vorletzten Geburtstag von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte.
„Wenn du Durst hast, nimm dir ein Bud, aber nerv mich nicht.“
Benny schob beleidigt die Unterlippe vor und griff in das Sixpack Budweiser das griffbereit auf seinem Schoß lag.
Derek gluckste.
„Ich find’s zum kotzen, dass du mir nie was von deinem Whiskey abgibst.“
„Oh man, Ben! Geh mir nicht auf den Sack. Hier hast du den Scheiß. Verschluck dich nicht.“ knurrte Derek und reichte Benny die Flasche rüber.
„Und wehe du kotzt...“ ehe Derek den Satz beenden konnte erhellten gleißende Scheinwerfer die Fahrerkabine des Dodges und blendeten die beiden Jungs fast augenblicklich. Mit einem spitzen Schrei riss Derek das Steuer herum und trat auf die Bremse. Der Dodge geriet erst ins Straucheln und krachte dann mit etwa fünfunddreißig Meilen und kreischenden Bremsen in den Straßengraben.
Dass einem auf der Route 78 jemand entgegenkam war äußerst selten, dass einem auf der Route 78 an einem Samstag gegen 1 Uhr Nachts jemand entgegenkam war fast ausgeschlossen. Aus genau diesem Grund reagierte Derek nicht schnell genug. Aus diesem Grund und vielleicht eingedenk der Tatsache, dass er 1,2 Promille im Blut hatte.
Wild hupend raste das Auto, dass den, auf der falschen Seite der Straße fahrenden, Jungs entgegengekommen war an der Unfallstelle vorbei und verschwand in der Dunkelheit.
Der Aufprall im Wagen war brutal. Benny wurde, dank der Bier auf seinem Schoß, nicht gegen die Windschutzscheibe geworfen schlug aber mit der Stirn gegen das Armaturenbrett und verlor für einen Augenblick das Bewusstsein, während der Pick-Up die kleine Anhöhe, die an den Seiten des Freeways entlang führte, herunterstieß und schließlich in einem Busch etwas abseits der Straße zum stehen kam.
Am liebsten wäre Benny im Moment des Aufpralls in eine gnädige betrunkene Müdigkeit versunken, die ihn für immer, oder zumindest für eine verdammte lange Zeit, hätte weiterschlafen lassen. Aber dem war nicht so, nach einer kurzen Ohnmacht kam er wieder zu sich. Mit einem lachenden und einem tränendem Auge stellte er fest, dass es ihm zwar Bestens ging, das Auto aber einiges abbekommen zu haben schien.
Wütend und etwas unsicher auf den Beinen stieg er aus und ging um das Auto.
Die Stoßstange war völlig verschrammt und die Reifen rochen nach heißem Gummi, außerdem schien das Gehäuse des Wagens völlig verzogen zu sein, denn als Benny versucht hatte die Beifahrertür zu zuwerfen, war sie nicht mehr in das Schloss gefallen.
„So eine verdreckte Scheiße, Derek!“ schrie Benny hysterisch und riss die Fahrertür auf. Derek Vandyke, hatte es vermutlich etwas schlimmer erwischt als ihn, erkannte Benny als er Derek sah. Sein Kopf lag ihm im Nacken und sah sonderbar verrenkt aus. Helles Blut troff ihm von der linken Hand und tropfte auf den Boden des Pick-Ups.
„Hey, Derek.“ rief Benny und schüttelte Derek unsanft an der Schulter. „Wirst du wohl aufwachen!“ Wenn er sich den gnädigen Schlaf der Säufer nicht verdient hatte, dann Derek mit ziemlicher Sicherheit auch nicht, soviel war mal klar.
Derek blinzelte und schlug Bennys Hand zur Seite.
„Verpiss dich, du Schwuchtel.“ murmelte er benommen und drehte sich zur Seite, dann zuckte er zusammen und riss seine Hand in die Höhe.
„Scheiße!“
„Ziemlicher Mist, was Dyke? Sieht ganz so aus als hättest du mir den Whiskey doch lieber etwas früher geben sollen.“ sagte Benny und kicherte. „Komm jetzt aus dem Wagen, du blutest ja alles voll.“
Derek warf Benny einen vernichtenden Blick zu und stieg dann unbeholfen aus. Die eine Hand umklammerte dabei fast krampfhaft das Handgelenk der anderen.
„Verflucht, Ben. Ich hätte lieber heute gar nichts getrunken.“ antwortete Derek dann und sah mit verquollenen Augen auf seine zerschnittene Handfläche hinab. „Das blutet wirklich wie Sau.“ stimmte Benny kurz angebunden zu, dann schlug er Derek in den Magen.
Mit einem Stöhnen ging Derek in die Knie, wobei sich ein blutiger Handabdruck in den Schotter neben der Fahrbahn prägte.
Nach ein paar tiefen Atemstößen blickte er zu Benny auf. In seinen Augen funkelte pure Mordgier, die sich aber nicht auf seinen zwei Jahre jüngeren Freund zu fokussieren schien.
„Und was nun?“ fragte Benny, nachdem er Derek wieder aufgeholfen hatte.
„Ich weiß nicht, wie schaut’s mit dem Wagen aus?“
„Der ist platt. So ein verdammter Scheiß. Das Gehäuse ist völlig verzogen und ich glaub die Achse macht nicht mehr lange mit.“
Derek nickte zustimmend.
„Sieht ganz so aus als hätte uns dieser Wichser den Abend versaut, wie?“
„Dieser Wichser hat uns das ganze Jahr versaut, wenn ich mir die Reparatur für das Auto nicht leisten kann, Dyke, das ist klar.“
Mit seinen wuchtigen Stiefeln trat Benny gegen die Stoßstange des Dodges, die sich daraufhin mit einem Knacken vollends vom Wagen löste.
„Hast du das Nummerschild gesehn’, Ben?“ fragte Derek, riss einen Streifen aus seinem
T-Shirts heraus und verband dann seine Hand damit notdürftig.
„Oh man, du fragst Sachen, Dyke. Was willst du tun? Ihn anzeigen?“ Benny kicherte wieder auf seine unsagbar alberne Art und hielt sich den Bauch.
„Ich hab dir eine verschissene Frage gestellt, wäre dir dankbar wenn du antworten würdest.“ bellte Derek und blickte Benny wütend an. Sein Rausch schien verflogen.
„Hey hey, bleib locker Bruder. Ich hab in dem Scheißaugenblick grad gar nichts gesehen. Bloß viel Licht...und ein bisschen später viel Sternen. Wieso willst du das wissen?“
„Weil ich finde, dass uns dieser Hurensohn was schuldet, Ben. Ganz einfach.“
„Hmm...“ Benny rieb sich das Kinn und runzelte die Stirn. „Es war kein Schild aus Vermont, das Grün hät’ ich erkannt. Weiß war’s, wenn ich mich nicht komplett irre.“
Und nach einer weiteren Denkpause. „Maine oder Massachusetts, würde ich sagen.“
Dereks Miene erhellte sich ein wenig und einen Moment später lachte er laut auf.
„Das ist Wahnsinn, Ben! Saubere Arbeit!“ Etwas verwirrt suchte Benny nach Ironie in Dereks Gesicht.
„Kein Scheiß?“
“Kein Scheiß! Wenn er nicht von hier kommt, besteht die Chance, dass er nur noch so spät unterwegs ist weil er eine Schlafgelegenheit sucht.“
Jetzt grinste auch Ben, wenn auch noch immer vorsichtig.
„Willst sagen, dass er im Knights Inn eincheckt, oder Dyke?“
„Bist ein Schnellmerker, Ben. Aber dafür wirst du auch nicht bezahlt.“ antwortete Derek gleichgültig und stieg wieder ins Auto. Benny folgte seinem Beispiel und verharrte erst als er im Dodge saß.
“Und jetzt?“
“Na was wohl, du dummer Idiot. Wir fahren ins Knights und pusten dem Hurensohn die Birne weg.“ dann lachte Derek wieder und auch Benny stimmte nach einem Moment mit ein.
Sie waren fast wieder in Confidence als Benny schließlich die Ruhe durchbrach, die seit den bangen Minuten des Zitterns, in denen Derek und er zu Gott gebetet hatten, dass der Wagen anspringe, geherrscht hatte.
„Wie immer?“ fragte er und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Bier.
Derek nickte stumm und musterte seinen Freund dann von der Seite.
„Wirst dich doch wohl nicht einscheißen, Ben, oder?“ seine Stimme klang beinahe zärtlich.
„Hab ich mich beim Letzten eingeschissen, Dyke? Oder beim Vorletzten? Du kannst auf mich zählen, Alter.“
Derek lächelte zufrieden und warf seine leere Dose Budweiser aus dem Fenster, wofür er für einen kurzen Moment freihändig fahren musste, weil die Linke noch nicht ganz wieder so wollte, wie Derek wollte und auch wieder etwas zu bluten begonnen hatte.
„Wir ballern dem Arschloch ein Loch in den Schädel, schnappen uns seine Leiche und werfen sie ins Moor.“
„Müsste klappen.“
„Klappt immer.“
Für einen Moment herrschte wieder Schweigen, in dem beide Jungs in ihre eigenen Gedanken versanken und besoffen auf den Kegel der Fernlichter des Dodges starrten, die wundersamer Weise noch funktionierten.
„Das mit dem Gehäuse macht mich mordssauer. Verstehste das?“, fragte Derek dann.
Ben nickte.
„Wär das in Ordnung, hätte ich kein Problem mit dem Massachusettshirni, aber Mann, du siehst doch selbst...“ er beugte sich kurz über Benny und schleuderte die Beifahrertür auf, die bloß lose im Schloss gehangen hatte. Federleicht schwang sich die Tür in die Nacht und kehrte nach einem kleinen Rundflug wieder zurück. Erbärmlich versuchte sie einzurasten und versagte.
Benny seufzte.
„Wenn wir mit dem Typen fertig sind nehmen wir uns dann sein Auto. Ich glaub es war ein Acura, feiner Wagen. Wirst sehn, Benny, das wird lustig. Und jetzt gib mir noch ein Bier, oder soll ich verdursten?“
„Natürlich nicht, Chef.“
„So ists gut, kleiner Indianer.“ Und dann lachten beide wieder, ihr betrunkenes, monotones Lachen.
Fünf Minuten später ging die Route 78 dann in die Main Street von Confidence über und noch ein wenig später passierten die beiden dann die Old School Road und bogen in die Bears Road ein. Die Straße an der das einzige Motel der Stadt, das Knights, seit fünfundzwanzig Jahren Zuhause war.
Als der schwer lädierte, aber fast noch neue Dodge schließlich auf dem Parkplatz des Motels zum stehen kam und Benny schon herausspringen wollte, hielt ihn Derek am Arm zurück.
„Wo ist die Waffe?“ fragte er.
Benny ließ sich zurück in den Sitz fallen und gaffte Derek blöd an. Derek stellte ohne Verwunderung fest, dass Benny kurz vor einer Alkoholvergiftung stand und stieß in Gedanken einen Fluch auf das Alter und die schlaksige Figur seines Freundes aus. Der Kerl vertrug wirklich nichts.
“Na wo sollte sie denn sein?“ lallte Benny und eine seiner Hände griff unkontrolliert in das Handschuhfach. Einen Augenblick später hielt er eine silberne Ruger Sp101 in beiden Händen.
„Ziel nicht mit dem Ding auf mich.“ entfuhr es Derek, als er registrierte, dass Benny die Waffe auf ihn richtete. Dann schlug er seinem Kumpel auf den Hinterkopf.
“Gib her.“
Benny reichte die Pistole dem Älteren und starrte ihn dann weiter aus trüben Augen an.
„WAS?“ fuhr ihn Derek an.
„Meinst du es wird genauso einfach wie bei den Trampern, Dyke?“
Hm...eine gute Frage. Derek wog die Situationen gegeneinander ab und schüttelte dann den Kopf.
„Siehs, so, Benny: Bei den Trampern ging es uns bloß darum ein wenig Spaß zu haben.“ er zog die Augenbraue zu seiner typischen John Travolta Imitation rauf.
„Jetzt geht es um Rache.“
Benny gluckste auf und hielt sich keuchend den Bauch. Sein laut schallendes Gelächter, wirkte lächerlich, fand Derek. Er nahm noch einen tiefen Schluck von seinem lauwarmen Bier und blickte dann durch die Windschutzscheibe auf den vor dem Pick-Up liegenden Parkplatz.
„Siehst du sein Auto?“ fragte Benny, nachdem er sich wieder eingekriegt hatte, mit Tränen in den Augen.
„Es war ein stahlgrauer Acura, wenn ich mich nicht irre.“ murmelte Derek gedankenverloren und musterte jedes der, auf dem Platz geparkten, Autos eindringlich.
„So einer wie der da?“ fragte Benny und klopfte mit einem Fingerknöchel gegen seine Seitenscheibe.
Derek kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen und starrte in die Dunkelheit.
„So ein verwichster Misthaufen. Das nenn ich Schicksal.“ rief er dann und grinste breit.
Sie hatten genau neben dem Acura geparkt. Er war nicht stahlgrau, er war ein wenig dunkler. Aber Jesus, Derek würde einen Besen fressen, wenn das nicht ihr Acura war.
Nachdem Derek die Ruger in seinen Hosenbund gesteckt hatte, stiegen die beiden Jungs aus. Ihnen stand ein wildes Gemisch aus Entschlossenheit und Trunkenheit in das Gesicht geschrieben.
Archer Lynch stieß ein Stoßgebet gen Himmel aus, als er die Tür eines winzigen Hotelzimmers des Knights Inn hinter sich zu warf.
Ein Stoßgebet, dass er es bis hier geschafft hatte.
Er zog sein Jackett aus, das ihm klitschnass in den Achseln klebte, und ließ sich müde auf das Bett fallen.
Was für ein Tag!
Dabei hatte er bis etwa 15 Uhr keine Zweifel daran gehabt, dass er mal wieder durchkommen würde; dass es keine Probleme geben würde und das Leben nach Heute genauso weiterverlaufen würde wie immer.
Aber dann war irgendwie alles schief gelaufen, er schnaufte traurig und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die Frau hatte zu laut geschrien, ein älteres Ehepaar hatte für Großstädter viel zu viel Zivilcourage an den Tag gelegt, und ein verfluchter Streifenpolizist war auch noch, wohl zum ersten Mal in seinem erbärmlichen Leben, seiner Pflicht nachgekommen...
Das war zuviel Pech auf einmal, für einen Tag. Wahrlich kein Glückstag!
Obwohl...irgendwo, hatte Archers Schutzengel ihn doch wieder aus der Scheiße manövriert. Schließlich hatte er es bis über die Grenze geschafft und das gar nicht mal unspektakulär.
Hätte ihn ein Streifenwagen, oder eine Zivilstreife angehalten wär es wahrscheinlich zum Blutbad gekommen. Archer konnte es sich nicht leisten ins Gefängnis zu gehen. Dafür war er zu wichtig.
Dealer gingen ins Gefängnis, Junkies und Zuhälter, aber er? Zwischen all dem Abschaum dieser Welt? Das konnte sich Archer beim besten Willen nicht vorstellen. Im Grunde genommen, war er gar nicht kriminell. Schließlich war er nicht pervers und erst Recht kein Psychopath...alles was er sich zuschulden kommen hatte lassen, war einfach nur die Tatsache, dass er zu alt war.
Archer war sein ganzes Leben lang ein richtiger Frauentyp gewesen und als er jetzt daran zurückdachte, taten die Gedanken an fröhliche Stunden mit heißen Häschen ein bisschen weh.
Er rechtfertige seine Taten eigentlich immer mit der gleichen Ausrede; sein Verstand hatte einfach nicht den Zeitpunkt in Archers Leben mitbekommen in dem er nicht mehr jede Frau hatte haben können. Alleine der Gedanke daran, dass es einen solchen Zeitpunkt eventuell gegeben haben könnte schmerzte Archer, er ballte die Faust und schlug auf die ausgeleierte Matratze des Gitterbettes.
Sein Körper war irgendwann einfach nicht mehr anziehend genug um viele Jahre des Altersunterschiedes überbrücken zu können.
Sein Charme zwar höflich und herzlich, aber irgendwann nicht mehr ausreichend um seine alternde Hülle hinter sich zu lassen.
Das hatte Archer nicht verkraftet.
Irgendwie war er daran zerbrochen.
Er vertrug es nicht lieblos zu leben und Frauen in seinem Alter erinnerten ihn auf furchtbare Weise an seine Grandma. Selbst wenn sie etwas jünger als Archer waren fühlte er sich nicht zu ihnen hingezogen. Für ein freundliches Gespräch an der Wursttheke oder im Blumenladen waren sie gut, aber für leidenschaftliche Marathons die bestenfalls in gemeinsamer Ekstase endeten...Archer verzog angewidert das Gesicht.
Und sollte er für den Rest seines Lebens ohne Frau leben? Lebte er im Zölibat? Er fluchte unflätig...Scheiße, nein!
Das hatte er nicht verdient, er war ein hart arbeitender, fürsorglicher Mann, der zu seinen besten Zeiten ein Weltklassebettathlet gewesen war.
Und wenn das diese dummen, jungen Schlampen, von Heute nicht tolerieren oder akzeptieren konnten wenn sie sich von seinem zugegebener Massen etwas aus der Form geratenen, Körper abschrecken ließen, dann hatten diese Nutten eben Pech gehabt!
Er versuchte es immer auf die gleiche Tour, erst romantisch, dann charmant, dann bittend, dann flehend und schließlich bestialisch.
Manchmal in klaren Minuten, dachte Archer darüber nach wie seltsam sein Verhalten war, aber diese klaren Augenblicke waren in letzter Zeit arg zurückgegangen. Als ihm ein Gedanke an Barbara wie ein brennender Pfeil durch den Kopf zuckte, grinste er lüstern und fühlte prompt wie eine mittelstarke Erektion seine Khakihose wölbte.
Die gleiche Tour, das gleiche Ende...nur diesmal war alles falsch gelaufen. ALLES! Er hatte vor einem Polizisten flüchten müssen. Das war das ironischste an der ganzen Sache. Er hatte sich vorgenommen, was immer auch geschah, niemals wieder vor der Polizei weg zu laufen. In früher Kindheit hatte er einmal die Erfahrung gemacht, dass die Polizei einen immer erwischte und hatte sich damals zu diesem folgenschweren Schwur hinreißen lassen. Heute hatte er ihn zum ersten Mal seit vielleicht vierzig Jahren gebrochen.
Was jetzt zu tun war, wusste Archer nicht genau.
Fakt war, nach Massachusetts konnte er auf gar keinen Fall zurück.
Wenn der Polizist, der ihn erwischt hatte eine Meldung ans Präsidium durchgab war Archer geliefert. Dann konnte er erst mal eine verdammt lange Zeit kein Mädchen mehr anfassen. Wut ballte sich in seinem Bauch. Ein angenehm bekanntes Gefühl verband man sie mit der Erektion die knüppelhart in seiner Hose thronte.
Es klopfte.
Erschrocken fuhr Archer auf.
Sein erster Gedanke - die Polizei - verflüchtigte sich fast augenblicklich. Es war unmöglich, dass die Bundespolizei so schnell und so gut arbeitete.
Archer erhob sich vom Bett, stopfte sich sein weißes von kaltem Schweiß erhärtetes Hemd in die Hose und trottete zur Tür.
Es sei denn...der Pick-Up der ihm auf dem Freeway, auf der falschen Spur, entgegen gerast gekommen war, hatte sein Nummernschild erkannt und die örtliche Polizei eingeschaltet.
Er kicherte nervös. Warum sollte dieser Penner, das getan haben?
Archer konnte von Glück reden, dass dieser verschissene Vorstädter seine Flucht nicht schon früher beendet hatte, als ihm lieb gewesen wäre.
Der Kerl war gefahren wie ein Henker. Wahrscheinlich verdankte er Archers mörderischem Bostoner Fahrstil sogar sein Leben.
Der Kerl hatte wirklich froh seien können, wenn es bloß den Pick-Up erwischt hatte.
Wahrscheinlich stand da vor der Tür, bloß irgend so ein völlig versiffter Hühnerficker vom Land, der sich Archers Radio, oder vielleicht Fernbedienung für den Fernseher ausleihen wollte. Sollte er haben, Archer war zu müde um noch irgendetwas anderes zu tun, als schlafen zu gehen.
Kurz bevor er die Tür dann endgültig öffnete, schoss ihm noch einmal ein Gedanke an Jack, sein kunstvoll verziertes, aufklappbares Rasiermesser, mit Griffschalen aus schwarzem Perlmutt durch den Kopf. Man konnte ja nie wissen...dann schüttelte er sich ärgerlich. Er durfte jetzt nicht paranoid werden. Das Messer hatte er sowieso im Wagen gelassen. Jacks Durst war für heute gestillt.
Derek hatte Bowie Knight, den Sohn des Besitzers des Knight Inns und einzigen Portier, einfach nach einem Großstädter gefragt, der in der letzten halben Stunde eingecheckt hatte. Derek behauptete der Kerl hätte seine Brieftasche im Black Rose liegen gelassen und er wolle sie ihm bringen.
Hätte Bowie seinen Beruf etwas ernster genommen hätte sich die Geschichte vermutlich etwas anders entwickelt. So aber nickte er bloß gleichgültig, murmelte Zimmer 7a und vertiefte sich dann wieder in die Juliausgabe des Penthouse.
Von der er beim eintreffen der Jungs hochgeschreckt war. Es hatte ihm pure Angst in den Augen geschrieben gestanden. Angst, sein Vater käme zu seiner abendlichen Routinetour etwas früher als erwartet.
Als er Derek und Benny sah hatte er erleichtert gegrunzt und die Angst war aus seinem Gesicht gewichen. Die Ruger in Dereks Gürtel hatte er nicht gesehen.
Nun standen die Jungs vor dem Zimmer mit der Aufschrift 7a.
Derek drückte Benny die Pistole in die Hand und sah ihn mit beschwörender Miene an.
„Mach du es diesmal, es war dein Wagen.“
Ängstlich sah Benny erst auf die Waffe, dann in Dereks entschlossenes Gesicht. Er atmete einmal kurz durch und gab sich dann einen Ruck.
Er war bereit. Es würde das erste Mal sein, dass er abdrücken durfte, aber er würde Derek stolz machen. Derek würde sehen, dass er auf ihn bauen konnte.
Mit klammen Fingern umschlang er den Griff des Revolvers.
Derek lächelte ihn mutmachend an. Dann klopfte er.
Schnell verschränkte Benny die Arme hinter dem Rücken und verbarg so die Pistole.
Es dauert fünf Derek Atemzüge und einen Benny Atemzug ehe sich etwas auf der anderen Seite der Tür tat.
Die Dielen stöhnten unter schweren Schritten...dann Stille...und einen Augenblick später wurde die Tür einen Spalt geöffnet.
Bennys Herzschlag beschleunigte sich um ein Vielfaches und Adrenalin zirkulierte mit dem vielen Alkohol in seinem Schädel um die Wette.
Derek blieb lockerer. Eine präzise Routine hatte den neunzehnjährigen Jugendlichen ergriffen. Eine Routine die Benny ebenso abschreckte, wie faszinierte.
Ein argwöhnisches Augenpaar starrte die beiden Jungs durchdringend an.
„Was wollt ihr?“ zischte die zu den Augen gehörende Stimme. Sie klang melodisch dunkel, vielleicht etwas heiser, aber fast durchweg sympathisch.
„Hallo, Sir.“ Derek machte eine begrüßende Geste mit der Hand und trat noch einen Schritt näher an die Tür. Er verdeckte Benny die Sicht jetzt fast vollkommen.
„Mein Name ist Derek Vandyke. Und das“, er deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Ist Benny Sparks. Wir sind Einheimische“, zwinkerte er freundlich. „draußen auf dem Parkplatz steht ein Acura. Bowie meinte, dass der wahrscheinlich ihnen gehören würde.“
Der Mann hinter der Tür runzelte misstrauisch die Stirn.
„Was ihr wollt, habe ich gefragt.“
„Oh, natürlich, Sir“ antwortete Derek und trat schüchtern von einem Fuß auf den anderen. „Sehen Sie es ist so, wir wollten heute Abend Bowie besuchen, mit ihm die Nachtschicht verbringen. Ein paar Bierchen trinken und eventuell ein wenig pokern.“
“Komm auf den Punkt, Junge.“
„Nun wie wir mit unserem Wagen auf den Parkplatz fuhren...ich fürchte, da haben wir ihren Acura geschrammt.“
Die Tür schloss sich, man hörte wie ein Kettchen abgehängt wurde und dann öffnete sich die Tür vollends und den Jungs stand ein Mann, vielleicht Anfang Fünfzig gegenüber. Er hatte silbernes zerzaustes Haar, dessen Pony ihm ungekämmt ins Gesicht fiel, herzliche Augen und einen etwas fülligen Körper, der sich auf dünnen Beinen hielt. Der Mann trug eine khakifarbene Hose und ein weißes Kragenhemd, das zerknittert und ungewaschen aussah...
Der Junge war schlecht auf ein Alter zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren einzuschätzen. Er hatte ein strenges, kantiges Gesicht und schwarzes, mit Gel nach hinten gekämmtes Haar. Er war vielleicht einen Kopf größer als Archer und trug dunkle Jeans und ein helles, offenes Kurzarmhemd. Hinter den, für sein alter relativ breiten, Schultern des Jungen sah Archer noch eine zweite Person. Einen etwas jüngeren und kleineren Jungen, mit Pickeln auf den knallroten Wangen und glasigen Augen.
„ich fürchte, da haben wir ihren Acura geschrammt.“
Archer wurde fast schwarz vor Augen. Ging denn dieser unsägliche Scheißtag nie zuende?
Er schloss die Tür, atmete zwei Mal durch und nahm die Vorhängekette ab. Dann öffnete er die Tür ganz.
„Ihr kleinen Scheißer habt also meinen Wagen gerammt, wie?“ flüsterte er.
Und Sparks wurde glatt etwas bleicher um die ohnehin fast weiße Nasenspitze.
Vandyke blieb gelassen. Er blickte zwar ein wenig schüchtern drein, machte aber einen sehr besonnen Eindruck.
„Hören Sie, Herr...?“
„Lynch.“
“Also, hören Sie Herr Lynch, wir hätten ebenso gut Fersengeld geben können. Aber wir sind ehrliche Jungs und haben uns entschlossen ihnen für den Schaden aufzukommen.“
Vandyke lächelte, aber es wirkte irgendwie nicht sonderlich situationsbezogen. Es war ein Lächeln hinter dem mehr steckte als Archer auf den ersten Blick einzuschätzen vermochte. Er nickte.
„Also gut, ihr beiden, dann kommt mal rein.“
Ein freudiges Grinsen breitete sich über Vandykes Gesicht aus und auch Sparks schien sich etwas zu entspannen. Wahrscheinlich sind sie mordsfroh, dass ich ihnen nicht den Hosenboden stramm gezogen hab, dachte Archer, aber was nicht war, konnte ja noch werden. Archer sehnte sich nach Jack.
Vandyke klatschte in die Hände und schlenderte völlig unbefangen an Archer vorbei ins Zimmer. Archer musterte Sparks, der auf dem Flur kläglich verloren wirkte.
„Magst du nicht auch reinkommen, Kleiner? Ich beiße nicht.“ sagte Archer und schnitt ein sardonisches Lächeln in sein Gesicht.
„Nach ihnen, Sir“, murmelte der Junge und Archer las so deutlich Alter vor Schönheit in seinen Augen, dass er nur mühsam den Impuls zurückhalten konnte diesem Balg die Zähne einzuschlagen.
Wiederwillig zuckte er die Schultern und folgte Vandyke, der es sich mittlerweile auf dem einzigen Stuhl im Zimmer bequem gemacht hatte und selbstgefällig grinste. Hinter Archer trottete Sparks in das Zimmer und warf die Tür ins Schloss. Archer registrierte nicht, dass Sparks die Tür verschloss, er war viel zu sehr von dem Vandykes Anblick gefesselt, der sich gemütlich eine Zigarette drehte und sie sich schließlich in den Mundwinkel steckte, ohne sie anzuzünden.
Als Derek, Lynchs Blick auf sich spürte blickte er auf.
„Kleine Schwäche von mir. Ich rauch die wenn wir das hier erledigt haben. Ist so was wie eine Tradition.“, sagte er, fast schon entschuldigend und sah dann zu Benny hinüber, der mittlerweile hinter Lynch in Stellung gegangen war.
„Hören Sie, Mister Lynch“, sagte Derek dann, als er sich sicher war, dass die Tür abgeschlossen war.
„Wo wir hier jetzt unter uns sind, bleiben wir bei der Wahrheit, okay?“
Lynchs Augen weiteten sich etwas.
„Bei der Wahrheit?“ fragte er und sah plötzlich ein wenig verloren aus.
„Ja, du dreckiger Hurensohn, bei der Wahrheit“, flüsterte Derek und jeder Funke Höflichkeit oder Unsicherheit war in einem Sekundenbruchteil aus seiner Stimme gewischt. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und steckte sie sich hinter das Ohr, dann fuhr er fort.
„Dodge Ram Pick-Up.“
Lynch dachte einen Augenblick nach und dann hellte sich seine Miene wieder etwas auf.
„Ah, ihr wart die Schwachköpfe die mir auf dem Freeway entgegen gekommen seid, stimmts?“
Derek lächelte dünn und nickte.
„Ganz genau, Chef.“
„Macht euch da keine Gedanken, mir ist nichts passiert und euch ja auch nicht.“ Lynch musterte erst Derek etwas genauer, wie um seine Diagnose zu bekräftigen und drehte sich dann für das gleiche Prozedere zu Benny herum.
Er erstarrte mitten in der Bewegung.
Benny hatte den alten Mann längst ins Visier genommen.
„Keine Bewegung, Hurenbock.“
„Locker bleiben.“ sagte Derek gutmütig und stand auf.
Lynch begann leicht zu zittern.
„Jungs, ihr begeht hier einen schweren Fehler.“ – „Nehmt die Waffe herunter und wir vergessen die Sache, okay?“
Benny lachte schrill auf und auch Derek konnte es sich ein schmales Lächeln nicht verkneifen.
„Heyhey, Daddy. Wir machen hier unser Ding. Du bist still wie ein Stein, oder so schnell tot, dass du nicht mal registrierst, eine Kugel im Schädel stecken zu haben.“
Welch verlockende Vorstellung, dachte Archer.
„Wenn ihr Geld wollt, nehmt meine Brieftasche und verpisst euch!“ keifte Lynch und griff in seine Hosentasche in diesem Moment traf ihn einer von Bennys Stiefeln mit voller Kraft in den Rücken. Mit einem Schrei ging Lynch zu Boden.
Derek beugte sich zu ihm herunter und sagte gutmütig: „Du gibst hier nicht den Ton an, verstehst du das, mein Dickerchen?“
Lynch Gesicht nahm langsam aber stetig die Farbe einer überreifen Tomate an, entweder hatte er Angst oder eine Mordswut.
Derek tätschelte Lynchs Wangen und erhob sich dann wieder mit der athletischen Leichtigkeit eines Sportlers.
„Deine Wagenschlüssel.“
In Gedanken stieß Archer das zweite Stoßgebet an diesem Abend Richtung Engel oder Himmel ab. Sie wollten sein Auto...nur sein verdammtes Auto.
Inbrünstig sehnte er sich danach diesen beiden Missgeburten die Beine zubrechen und Jack dann gemächlich an seinem Gürtel zu schärfen. Zum ersten Mal seit er Jack kannte, ließ er ihn im Stich.
„DIE WAGENSCHLÜSSEL!“ schrie Sparks und trat vor ihn, die freie Hand zu einer fordernden Geste ausgestreckt.
„Ganz ruhig, Kleiner. Hier hast du sie“, sagte Archer, nahm die Schlüssel vom Nachtischchen und warf sie Sparks zu. Der griff danach und verfehlte.
„Fuck!“ entfuhr es ihm und er bückte sich. Schweiß spiegelte sich auf seiner Stirn.
„Du wirst mir jetzt genau zuhören, Lynch“, sagte Vandyke. „Wir werden jetzt alle drei diesen Scheißschuppen verlassen und du wirst nichts mehr sagen bis wir dir wieder erlauben zu sprechen. Geht das klar, mein Dickerchen?“
Eine brutale, wütende Speerspitze grub sich in Archers Eingeweide, als dieser gottverfluchte Vorstädter ihn Dickerchen nannte, aber ihm blieb nichts anderes übrig, er musst kooperieren. Zumindest vorerst.
„Bist du ein Held, Lynchie?“ fragte Vandyke. Archer sah verwirrt auf.
„Wage es den Helden zu spielen.“ Ein kurzer Schwinger in den Magen traf ihn und Archer ging wieder in die Knie. „Wage es den Helden zu spielen, Lynch, oder Gott steh mir bei, ich werde dir die Hölle zeigen!“ zum ersten Mal seit er das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte Vandyke kennen zu lernen, erhob sich die Stimme des Jugendlichen über Zimmerlautstärke.
„Wir werden jetzt da unten am Portier vorbei gehen und solltest du auch nur einen Gedanken daran verschwenden ihm irgendein Zeichen zukommen zu lassen werden wir dich und den Jungen auf der Stelle erschießen.“, fuhr Vandyke im Plauderton fort. „Und glaub mir, ich werde es sehen, wenn du daran denkst. Ich sehe deine Gedanken, mein Freund. Sie stehen dir in den Augen.“
„Alles verstanden?“ fragte Sparks hektisch.
„Ich werde nicht mitgehn“, murmelte Archer und allein diese paar Worte entfachten ein wahres Feuerwerk von schwarzen Punkten vor seinen Pupillen. Er glaubte der Tritt des Kleineren habe ihm irgendetwas kaputt gemacht. Es war ein dumpfer pulsierender Schmerz und er zeigte wie ernst es die beiden meinten, dennoch würde er nicht von dem eben gesagt abweichen.
„Was?“ fragte Vandyke neugierig. „Was hast du gesagt?“
„Du hast mich genau verstanden.“
„Hm-hmm. Das habe ich.“ nickte Vandyke.
„Soll ich den Klugscheißer töten?“ fragte Sparks mit am Ende brechender Stimme.
„Scheißt ein Bär in den Wald? Natürlich sollst du ihn killen“, antwortete Vandyke ungehalten.
„Das könnt ihr nicht“, grinste Archer wirr. „Ihr könnt mich hier nicht erschießen. Das wäre zu laut.“
„Wirklich ein Klugscheißer“, bestätigte Vandyke, sah sich kurz im Zimmer um und ging dann zum Bett.
“Hier, press ihm das gegen die Schläfe“, sagte er dann und warf Sparks ein Kissen zu. Diesmal fing er besser. Seine Hände zitterten, sonst aber wirkte er gelassen. Sparks hielt Archer das Kissen gegen die Schläfe und drückte dann die Ruger dagegen.
Ein eiskalter Schauer lief Archer dabei den Rücken hinunter.
„Okay, okay. Ich komm mit“
„Geht doch“, lobte ihn Vandyke. „Die Nacht ist noch jung, gehen wir Mädels.“
„Ist das nicht ’nen richtig netter Großstädter?“ fragte Derek und lehnte sich vertraut zu Bowie hinunter. „Hat uns glatt noch auf ein Bierchen im Black Rose eingeladen, weil wir ihm seine Brieftasche wieder gebracht haben.“
„Toll“, nuschelte Bowie und sah gar nicht von seinem Pornoheft auf. „Würd ja mitkommen, aber ich hab hier noch zwei Stunden.“
Derek lachte. „Arme Sau, na ja nächstes mal.“ Dann klopfte er zwei mal auf die Warteklingel und folgte Benny und Archer, die schon zum Auto gegangen waren. Als er schon fast aus der Tür war, drehte er sich noch einmal herum.
„Auto holt Ben wann anders ab. Wir lassen uns jetzt noch schön vollsaufen.“
„Jojo“, sagte Bowie und ignorierte zum zweiten Mal am heutigen Tag Dereks blutverkrusteten Handverband.
Verspielt sprang Derek ein wenig in die Höhe und schlug die Schuhsohlen zusammen.
„Affe!“ schrie Bowie ihm hinterher, doch da war Derek schon in der Schwärze der Nacht verschwunden.
„Und was habt ihr jetzt vor?“ fragte Archer und wand sich ein wenig auf dem Rücksitz. Die Fesseln schnitten ihm grob ins Fleisch. Wenn er zurückdachte, war er noch nie in seinem Leben gefesselt gewesen. Er stand da nicht drauf. Er fesselte lieber.
„Jetzt fahren wir in den Amber Wood.“ sagte Vandyke als würde das alles erklären und konzentrierte sich wieder auf die Straße.
„Was gibt’s denn da, was ihr nicht in der Abgeschiedenheit dieses verfickten Nestes erledigen könntet?“
„Moore.“ antwortete Vandyke kurz angebunden.
„Was habt ihr mit mir vor?“ Archers Stimme überschlug sich. Ihn erfasste langsam blanke Panik. So wenig angsteinflössend dieser Benny Sparks war, so unheimlich war ihm Vandyke.
„Wir werden dich erschießen und deinen kalten Kadaver in den Mooren versenken. Wenn Sie dich irgendwann mal finden, wird dein Körper fast vollständig erhalten sein.“ erklärte Vandyke.
„Das...das könnt ihr nicht machen. Ihr Psychopathen.“ stotterte Archer und riss brutal an seinen Fesseln was zur Folge hatte, dass sie sich bloß noch fester in das Fleisch schnitten.
Jack schrie nach ihm. Aber so nah er ihm war, so unerreichbar war er.
Diese verdammten Wichser konnten ihn doch nicht einfach umbringen, oder?
Ihn, Archer Lynch. Den Casanova des zwanzigsten Jahrhunderts.
Sparks, der neben ihm auf der Rückbank Platz genommen hatte schlug mit dem Lauf des Revolvers zu. Er traf das Nasenbein und einen Augenblick empfand Archer diesen Schlag nicht. Dann implodierte etwas in der Nase, sie schien krachend auseinander zubrechen und ein Schwall klumpigem Bluts ergoss sich über Archers weißen Kragenhemd. Schmerz pulsierte wie Herzschläge in seinem Schädel und Schwarze Punkte verknüpften sich in Windeseile zu einem düsteren Teppich.
„Ihr scheißkranken Schweine!“ keuchte Archer und riss mit aller Kraft an den Fesseln.“
Derek riskierte einen Blick in den Rückspiegel, blinkte dann
vorschriftgemäß, was Irrsinn war, bedachte man, dass er noch vor einer Stunde völlig besoffen im Gegenverkehr gefahren war, und fuhr dann rechts auf einen Seitenstreifen heran. Bedächtig drehte er sich zu Lynch herum und starrte ihn an.
„KRANKE SCHWEINE?“ schrie er plötzlich. „HÖREN SIE MIR MAL ZU, MISTER. SIE HABEN ES GEWAGT UNS AUF UNSERER STRASSE ZU UNSERER ZEIT ENTGEGEN ZUKOMMEN“, dann etwas ruhiger. „Wer ist hier das kranke Schwein?“
Archer war sich jetzt sicher, Vandyke war vollkommen übergeschnappt.
So einem Typen begegnete man nur einmal im Leben und dann tat man gut daran sich nicht mit ihm anzulegen.
Es knackte trocken, als er schluckte. Sämtliche Speichelquellen waren vertrocknet.
„Zieh ihm noch einen mit der Kanone über, Ben. Und dann lass uns den Mist zu Ende bringen...“ war das letzte was Archer hörte. Dann traf ihn ein erneuter harter Schlag auf den Hinterkopf und er versank fast augenblicklich in einer tiefschwarzen Dunkelheit.
Grillen zirpten und der Wald schien um sie herum wie ein riesiges Tier zum Leben erwacht zu sein. Überall Bewegungen, schrille Schreie von Vögeln, Rascheln im Astwerk der Bäume und ein klarer, warmer Windhauch, der versuchte den Wald mit seinem traurigen Lied in den Schlaf zulullen.
Benny hat sich die Ruger hinten in seine Jeans gesteckt und hielt nun in beiden Armen, die schweren Beine Lynchs. Auf der anderen Seite des Bewusstlosen stemmte Derek seine Schultern. Zu zweit hatten sie den etwa tausend Pfund wiegenden Fettsack nun fast zehn Minuten durch den Amber Wood geschleppt und waren jetzt sichtlich außer Atem. Benny machte einen miserablen Eindruck auf Derek. Schweiß stand ihm im blassen Gesicht, der trüb das Mondlicht wiederspiegelte, seine Bewegungen wirkten unfertig und schlaksig und Derek hatte das Gefühl er konnte Bens Herz bis hier hin schlagen hören.
Hoffentlich macht er noch ein bisschen, dachte Derek und blieb schnaufend stehen.
„Ich glaub, hier ist’s okay.“
Stockend verharrte auch Benny, ließ Lynchs Beine auf den Boden poltern und setzte sich hin.
„Sind wir denn nah genug?“
„Das Moor müsste gleich hinter dem Farn beginnen“, sagte Derek und zeigte in einer ungenauen Bewegung in das Dunkel hinter Bennys Schultern. Dieser sah sich gar nicht um sondern nickte nur.
„Wenn du meinst, Dyke.“
Derek schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Eine schöne Nacht, dachte er. Wir hätten noch heute noch einiges anstellen können.
Man hätte unten an der alten Brücke überm Racoon River sitzen und sich ein bisschen unterhalten können, man hätte mit ein paar Bier hoch zu den Ravenrocks fahren können oder man hätte sich einfach noch später ins Black Rose gesetzt und hätte nach ein paar wenigen Mädels Ausschau gehalten, die in Confidence rar gesät waren. Aber NEIN es war ja alles anders gekommen. Er musterte seine Hand an der das Blut unter dem notdürftigem Verband langsam zu trocken begann und sah dann zu Lynch herunter, dem eine hässlich fast violette Beule am Hinterkopf prangte und der seltsam verknickt aussah. Dann trat er dem Penner kräftig in die Seite.
Archer gurgelte irgendwas, röchelte benommen und öffnete dann langsam die verklebten Augenlider.
„Was...?“
„Halt die Schnauze.“
Benny raffte sich mühsam auf und zog mit einer gekonnten Bewegung die Ruger Sp101 aus dem Hosenbund.
Die Augen des am Boden liegenden Lynchs wurden groß, als er die Waffe sah und er versuchte sich aufzurappeln, was jämmerlich misslang.
„Mach hin, Ben. Langsam wird mir das hier alles zu langweilig“, murmelte Derek und wendete sich von den beiden ab.
„Helf’ ihm mal hoch, Derek“ bat Sparks.
Vandyke drehte sich herum und sah Sparks etwas verwirrt an.
„Wie bitte?“
„Helf’ dem Kotzbrocken mal hoch, ich will ihn nicht erschießen, wie man Pferde mit gebrochenen Beinen erschießt.“
Archer verfolgte all dies mit einer morbiden Faszination. Er war Zeuge einer Exekution und hatte einen prima Sitzplatz. Er kicherte wirr, dann wurde er auf die Beine gerissen. Er stolperte fast, korrigierte seine Beine und richtete sich vollends auf.
Sparks hatte sich etwa einen Schritt vor ihm aufgebaut und reckte ihm das blitzende Auge des Revolvers entgegen. Völlig bewegungsunfähig beobachtete Archer wie Sparks den Hahn der Ruger spannte.
Benny Sparks drückte mindestens dreimal ab und verschoss so nahezu die ganze Trommel. Möglicherweise schoss er sogar öfter, Archer hörte nur die ersten drei Schüsse.
Wie Kanonenkugeln schlugen sie in ihn ein und warfen ihn auf den Boden.
Sein Magen dämpfte die Schüsse etwas, die aber trotzdem furchtbar laut über die Lichtung peitschten.
Eine unglaubliche Hitze explodierte in Archers Brust und lief gleichzeitig in die Beine hinab und er hörte wie etwas Nasses in seinen Schoss tropfte.
Ein echter Scheißtag, dachte Archer als seine Rückenmuskeln nachgaben und er nach hinten fiel, während die Welt in all ihren grellen Farben von ihm abrückte.
Das war alles. Als die Dunkelheit ihn für immer verschluckte, fragte sich Archer zum ersten und zum letzten Mal in seinem Leben, ob es nicht vielleicht doch eine Hölle gab.
„SCHEISSE! BEN!“, lachte Derek und schlug seinem Kumpel fest auf die Schulter. „Den hast du ja umgepustet wie ein echter Benny the Kid.“
Fassungslos starrte Benny auf den leblosen Körper zu seinen Füssen, der einst einmal Ähnlichkeit mit Mister Lynch gehabt hatte.
„Ich glaub...ich muß kotzen“, flüsterte er gedehnt und warf sich seitwärts von Derek an einen Baum. Würgend übergab er sich in den Wald, während Derek noch immer laut und furchtbar stolz lachte.
„Entspann dich ein wenig, Kleiner“, schlug er dann vor und griff nach Archers Beinen. „Ich kümmer’ mich eben um Lynch und dann können wir fahren.“
Benny sah nicht hin, als er das Geräusch von Fleisch das über spitze Kiesel geschleift wurde vernahm. Es war genug für heute. Wütend grollte sein Magen und er lehnte sich mit verzerrtem Gesicht zurück.
Hatte er also den ersten Menschen in seinem Leben umgebracht. Die erste Existenz beendet. Es war ein komisches Gefühl gewesen, keine Frage, aber war es auch ein schlechtes gewesen?
Sicher, fühlte er sich im Moment hundsmiserabel aber das lag wohl eher am Alkohol, den er nie besonders vertragen hatte.
Fakt war wohl, dass er sich an diese Nacht noch lange erinnern würde. Es war so etwas wie seine Blutstaufe gewesen. Und hatte Derek nicht stolz geklungen? Ja, das hatte er!
Auf irgendeine kaum nachvollziehbare Weise war Benny, Archer sehr dankbar, dass er ihnen auf ihrer Straße entgegengekommen war. Sonst wäre es wahrscheinlich bloß wieder eine von diesen Nächten geworden, die man am Rande einer Alkoholvergiftung und grauer Langeweile in irgendeiner Bar, oder am Racoon River verbracht hätte. So aber, war sie zu etwas besonderem geworden. Zu seiner Blutstaufe. Zum Tag an dem er seine Unschuld verlor.
Ein boshaftes Grinsen schnitt sich in sein Gesicht und als Derek ein paar Minuten später zurückkam grinste Benny noch immer.
Er sah Derek nun unglaublich ähnlich, weniger körperlich, als seelisch.
Diese schwarze, selbstsichere Aura die Derek umgab schien, nun auch auf Benny übergegangen zu sein.
„Los, verschwinden wir, Ben“, sagte Derek und blickte zu seinem Freund, der an einem Baum kauerte. Er war noch immer unglaublich blass, fand Derek, fühlte sich aber anscheinend schon wieder etwas besser.
„Geht’s?“ fragte er und streckte seinen Arm nach Benny aus um ihm hoch zuhelfen. Stockend antwortete Benny, der die Ruger noch immer so fest in der Hand hielt, dass seine Knöchel weiß aus dem Fleisch ragten: „Ich denke schon. War nur der erste Schock. Kein Grund sich Sorgen zu machen.“
„Du siehst ziemlich erbärmlich aus, Kleiner“ meinte Derek und zog seinen Freund in die Höhe.
„Für heute habe ich auch glaub ich genug.“ sagte Ben und klopfte sich den Staub aus den Kleidern. „Fahren wir Nachhause und gehen schlafen. Um den Acura kümmern wir uns dann Morgen.“
Zustimmend nickte Derek und setzte sich in Bewegung. Nach einem Augenblick folgte ihm auch Benny auf unsicheren, staksigen Beinen.
„Umspritzen und die Nummernschilder austauschen“, sagte Derek als sie wieder im Acura saßen und er den Motor startete. Benny rieb sich gedankenverloren die Augen und runzelte die Stirn.
„Hä?“
„Das müssen wir Morgen machen, Kleiner“, fuhr Derek gutmütig fort. „Den Wagen in Dads Werkstatt umspritzen und uns andere Nummerschilder dranmachen. Die aus Massachusetts sind zu auffällig. Ich glaube, umspritzen machen wir dann am Besten in der nächsten Nacht, Dad muss ja nicht unbedingt mitkriegen, dass du schon wieder einen neuen Wagen hast.“
Derek klang so als würde er sich auf die vor ihnen liegenden Aufgaben freuen. Benny wurde übel bei dem Gedanken wie viel es noch zu tun gab, ehe er dieses gottlose Verbrechen endlich vergessen...ein Lächeln überflog sein Gesicht...und sich auf das nächste konzentrieren konnte.
Einen Augenblick trat wieder Stille zwischen die beiden Jungs, und Benny starrte angetan auf die Welt außerhalb des Wagens, die in fließenden Schemen an ihnen vorbeiraste.
Dann wandte er sich an Derek.
„Meinst du wir kommen wieder damit durch?“
Einen Moment schien Derek über die Frage nachzudenken, während er auf die Fahrbahn vor sich blickte, dann grinste er.
„Wer sollte uns aufhalten?“
„Hmm...wahrscheinlich hast du Recht. Lynch wird wohl niemand vermissen, die Waffe ist nicht registriert“, er machte eine kurze Pause und starrte mit wirren Augen auf die Ruger, die er noch immer in der Faust hielt. „McNeal wird nie etwas von dem Verbrechen erfahren. Und was die Nummernschilder angeht...da nehmen wir einfach die vom Dogde. Das wird erst mal nicht auffallen, den Dodge können wir doch sicher bei deinem Vater abstellen, oder?“
Derek nickte, sagte aber nichts. Als Benny zu ihm herüber sah hatte er für einen schrecklichen Atemzug das Gefühl, dass er Derek langweilte. Ihn fröstelte es. Was geschah, wenn Derek Langeweile hatte, wusste er nur zu genau.
Ängstlich griff er nach dem Autoradio des Acuras und drehte es an.
Eine Kassette ertönte. Schrille, furchtbar laute Musik.
Derek fuhr ein wenig zusammen und blickte dann erstaunt auf das Radio.
„Hätte nicht gedacht, dass dieser Wichser so gute Musik hört.“
„Yah!“ bellte Benny und lächelte wieder etwas unbefangener.
Sie waren jetzt fast wieder in Confidence und der Tag neigte sich dem Ende.
In zehn Minuten würde es drei Uhr schlagen. Ben freute sich auf sein Bett.
Er gähnte und streckte sich, während irgendein Pickelgesichtrocker lautstark verkündete, dass er nicht sick aber auch nicht well wäre.
Derek drosselte die Geschwindigkeit und hielt ganz, als die Ampel auf Rot überging. Mit den Fingern klopfte er den Takt irgendeines Liedes auf dem Lenkrad nach.
Ein Wagen hielt neben ihnen und Derek blickte zu ihm rüber.
Es war einer der beiden einzigen Streifenwagen von Confidence und Logan McNeal ein dicklicher Mittvierziger und Sheriff dieses kleinen Kaffs saß am Steuer. Neben ihm Deputy Ramsey, ein junger, rothaariger Cop, der in seiner Uniform aussah als hätte ihn gerade jemand aus dem Ei gepellt.
Derek deutete mit der linken Hand ein Salut an und sah wieder zu der Ampel, die von Rot auf Grün wechselte.
Er wollte gerade wieder aufs Gas steigen als es an der Fahrertür des Acuras klopfte.
Erschrocken fuhr Derek herum und starrte in McNeals mitgenommenes Gesicht, der mit der Hand eine kurbelnde Bewegung machte.
Verwundert griff Derek nach der Fensterautomatik. Mit einem Surren fuhr das Fenster herunter und bettete sich schließlich in den Rahmen.
„Guten Abend, Sheriff McNeal“, begrüßte Derek den Sheriff und blickte ihn aus unschuldigen, klaren Augen an.
„Hey, Derek. Alles in Ordnung?“ antwortete der Sheriff und warf einen Blick ins Wagen Innere. „Netter Wagen.“
So eine Scheiße, dachte Derek und merkte unweigerlich wie Benny auf dem Beifahrersitz nervös zu zittern begann.
„Ist der von Bennys Onkel, ist eine Woche nach Confidence gekommen und hat sich heute ein wenig die Kante gegeben. Wir bringen den Wagen Nachhause, Onkel Harry hat ihn doch glatt am Black Rose stehen gelassen,“ sagte Derek und fand, dass es gut klang.
Der Sheriff nickte stolz. „Gute Arbeit, Jungs.“
Derek warf Benny einen einschätzenden Blick zu. „Was tut man nicht alles für die Familie, nicht Ben?“ Derek war froh, als der Junge nickte, aber nicht antwortete. Er hätte wahrscheinlich gelallt oder Schlimmeres.
„Weshalb ich euch störe, Derek, was hast du denn mit deiner Hand gemacht?“ fragte McNeal und blickte auf Dereks linke Hand, die noch immer in einen blutverkrusteten Streifen T-Shirt gebunden war.
„Oh. Das“, sagte Derek und musterte die Hand neugierig, als bemerke er erst jetzt, dass er sich dort verwundet hatte. Der Sheriff musste vom Wagen weg!
Benny hielt noch immer eine silberne, noch heiße, Ruger in der rechten zitternden Hand. „Schätze, da hab ich mich ziemlich übel geschnitten.“
Durch McNeals trübe Augen huschte ein misstrauischer Funke.
„Und warum zum Teufel hast du es nicht gleich behandeln lassen, oder wenigstens einen vernünftigen Verband angelegt?“
„Ach, Sheriff. Das hat Zeit, wir wollten erst mal den Wagen Nachhause bringen. Ich kümmer mich da später drum, Ehrenwort“, lächelte Derek einsichtig.
„Nichts da, Kleiner. Du holst dir noch eine Blutvergiftung“, antwortete McNeal streng. „Los, hol den Verbandskasten.“
Für diesen miesen, kleinen Vorstadtcop war dies wahrscheinlich der erste Einsatz heute, dachte Derek bitter und blickte wieder zu dem Sheriff auf.
„Geht klar, Chief.“
„Na worauf wartest du dann noch?“
Derek biss sich auf die Lippe und stellte den Motor ab. Mittlerweile war auch Deputy Ramsey hinter McNeal getreten und begutachtete mit fachmännischen Augen den fast noch neuen Acura. Immerhin würde er die beiden von Benny wegführen, der im Moment, mit dem Revolver und seinen flatterigen Nerven eine echte Gefahr darstellte.
„Ich seh mir die Wunde an und Ramsey du verständigst mal Doktor Lain. Das blutet ja wirklich schlimm“, McNeal klang ehrlich besorgt und Derek hatte nicht dagegen. Bis jetzt hatte er nicht an seine Wunde gedacht, bei näherem Hinsehen aber wurde ihm der Schmerz bewusster. Das dumpfe Puckern in seiner Hand war seit sie den Heimweg angetreten hatten, fast zu einem schreiendem Schlagen angewachsen.
Nachdem er Benny noch einen flehenden Blick zugeworfen hatte, zog er die Schlüssel ab und stieg aus.
McNeal folgte Derek um den Wagen herum zum Kofferraum und blickte ihm dort über die Schulter. Die Wunde sah, selbst unter dem provisorischen Verband, grässlich aus. Das Blut hatte sich fast violett verfärbt und war wohl noch immer nicht wirklich gestoppt worden. Es lief dem Jungen in trüben Rinnsalen das Handgelenk herunter und tropfte auf den Boden. Arme Sau, dachte McNeal und gab Derek einen freundschaftlichen Klaps in den Rücken.
„Nun mach schon, sonst verblutest du uns noch.“
Aus dem Streifenwagen hörte McNeal, Ramsey der über Funk mit Mrs.Anderson aus Leitstelle des Sheriffbüros sprach.
Derek steckte den Schlüssel in das Schloss des Kofferraums und drehte ihn.
Wie geschmiert schwang er auf und...fast auf der Stelle entrang sich Dereks Kehle ein betäubtes Stöhnen.
McNeal, dem Derek die Sicht vertrat, drückte sich an dem Jungen vorbei und riskierte auch einen Blick in das Innere.
Es war eine Alptraumlandschaft. Noch nie hatte Derek, der in seinem Leben schon viel gesehen und getan hatte, so einen grauenhaft entstellten Körper gesehen. Der Frauenkadaver war vollkommen nackt und die Haut an ihren zusammengeknickten Gliedern glich eher der eines Schlachtviehs als eines menschlichen Wesen. An unzähligen Stellen waren tiefe Schnitte in ihre Haut gerissen und Beine und Arme waren so wundersam verdreht, dass sie gebrochen seien mussten. Und das Gesicht, mein Gott, durchfuhr es Derek wie ein Blitz.
Dieses Gesicht.
Der Mund war zu einem stummen Schrei auseinandergerissen und unterschied sich nur wenig von den offenen Wunden an ihrem Körper. Er war...er war nicht das Schlimmste in diesem feucht schimmerndem Gesicht. Das war ohne Frage das Skalpell. Das sich mit stumpfer Spitze voran in einen Augapfel der Frau gebohrt hatte und in fast perfektem neunzig Grad Winkel daraus hervorragte. Der verblasste Augapfel machte den Anschein als hielte er sich gegen die Regeln der Schwerkraft noch in der Augenhöhle der Frau. Er hatte keine bestimmte Form mehr und war von einem Beet von geronnenem Blut eingerahmt. Derek spürte wie ein mächtiger Brechreiz in ihm aufflammte und trat einen weiteren Schritt vom Wagen zurück, während der Sheriff mit weit aufgerissenen Augen und geballten Fäusten noch immer in den Kofferraum starrte. Dann entspannte sich eine seiner Hände und er tastete an seiner Seite entlang.
Derek wusste sofort wonach McNeal suchte und hätte reagiert, hätte er jetzt noch den Mut gehabt. Doch er blieb bewegungslos.
Was gab es jetzt schon noch zu tun?
Mittlerweile hatte der Sheriff seine Waffe gefunden und auf ihn gerichtet.
Mit brechender Stimme fragte er ihn: „Was in Gottesnamen ist das?“
Teilnahmslos zuckte Derek die Schultern, dann grinste er.
„So ein verwichster Misthaufen. Das nenn ich Schicksal.“ entfuhr es ihm schließlich und er griff sich fahrig hinter das Ohr, wo noch immer die Zigarette steckte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Sache hier zu Ende ging.
„Ich nehme euch beiden vorläufig fest“, murmelte McNeal stockend. „Was immer hier geschehen ist, ich glaube ihr habt mir einiges zu erklären.“
Derek grinste noch immer und ein schwarzer Schatten verdunkelte seine Züge.
„Klar Sheriff, was immer sie wollen“, er griff sich in seine Hosentasche und McNeal zuckte schreckhaft zusammen. „Hey, mach keinen Scheiß, Kleiner“, rief er panisch. „Keine Sorge, Sheriff McNeal“, antwortete Derek boshaft kalt. „Ich suche nur mein Feuerzeug.“
McNeal nickte hektisch. „Okay. Eine Zigarette könnte ich jetzt auch gebrauchen.“ Als Derek an die Ruger dachte in der noch immer zwei Schuss darauf warteten ihren Weg zu gehen wurde sein Grinsen noch breiter, wurde zu etwas, das ekelhaft und prachtvoll zugleich aussah.
„Ich glaube“, sagte er. „Benny hat noch Feuer.“
Dortmund, NRW
12.August 2002 – 19.August 2002