Fahr, oder sie sterben
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Er fuhr viel schneller als es die Verhältnisse unter normalen Bedingungen gestattet hätten. Aber die Bedingungen waren nicht normal. Überhaupt nicht.
Sie waren mit zwei Autos zu einem Termin in die Stadt gefahren, aus verschiedenen Richtungen kommend. Sie von zu Hause, er von einer Weiterbildungsmaßnahme. Von besagter Stadt bis heim waren es beinahe exakt 24,5 Kilometer. Die Landstraße führte dabei über zwei Bergrücken, beide nicht sehr hoch, doch kurvig zu überfahren. Das war auch der Punkt, der ihm jetzt massive Probleme bereitete. Er musste seine Frau einholen, koste es, was es wolle. Sie hatte die kleine Tochter an Bord, keine drei Monate alt. Und es ging um ihr beider Leben.
Als er losfuhr, tobte bereits das Adrenalin in seinem Körper. Er verließ den Lidl-Parkplatz nicht über die Ausfahrt, sondern fuhr gleich über eine Randbegrenzung, über den Bürgersteig und direkt auf die Straße. Er riss das Steuer hart nach rechts, überquerte mit schleuderndem Heck die erste Ampel bei Rot, und raste wenige hundert Meter später in selbstmörderischer Manier über die zweite, ebenfalls rot. Schon hier hätte seine Fahrt ein schnelles Ende nehmen können, und seinetwegen wäre es so gekommen. Er hatte nur eine Chance. Und er musste einen Vorsprung von zehn Minuten einfahren. Ein Ding der Unmöglichkeit, wenn sie nicht aufgehalten worden war.
Mit wirren Gedanken
‚Warum? Warum?‘
fegte er innerorts mit 110 Sachen einen Hang hinauf, hielt den schweren Kombi mit Gewalt auf der Straße als diese eine weite Kehre machte, bevor er mit noch mehr Gas weiter bergauf raste.
‚Ein Lastwagen, ein Schnarcher… irgendetwas‘ Nie im Leben hatte er sich eine Zeitverzögerung mehr herbeigewünscht als jetzt für seine Frau. War sie bereits an der zweiten Bergkette? Oder doch nur wenige Kilometer weiter, aufgehalten von Bulldogs oder was auch immer?
Der Wagen schlingerte, er fing ihn wieder und sah weit voraus ein Fahrzeug auftauchen. Nicht sie.
„Bitte bieg ab“, flehte er inständig. Doch er wurde nicht erhört. Näher und näher kam der Wagen, einer derjenigen, die man nie zu schnell fahren sah. Ohne zu bremsen, rauschte er vorbei, eine Sekunde dankbar dafür, dass die Stelle sogar übersichtlich war.
‚Was hättest du getan, wenn nicht?‘ Er antwortete unbewusst. Er hätte trotzdem überholt. Kurz wurde ihm bewusst, und das geschah in den nächsten bangen Minuten noch mehrfach, dass er andere Leben gefährdete. Aber das hatte nicht genug Wert, um ihn zu bremsen. Es ging um zwei wichtigere Leben. Die beiden, die auf der Welt mehr als alles andere zählten.
Er durfte sie nicht anrufen und warnen. Das hatten sie ihm klargemacht. Er musste es so schaffen. Er musste einfach!
Er hatte die paar Einkäufe schnell erledigt, gezahlt und alles in den Kofferraum geladen. Dann war er hinters Steuer geglitten, hatte den Zündschlüssel eingesteckt und plötzlich stieg jemand neben ihn auf den Beifahrersitz.
Der Mann war unauffällig, hatte graumelierten, sauber gestutzten Bart, seine Augen waren klar und streng, der Teint gesund gebräunt.
„Was wollen Sie hier drin?“ Der ungebetene Gast blickte ihn zwei lange Sekunden unverwandt an. Dann sagte er:
„Sie hat einen Vorsprung von zehn Minuten. Wenn du sie nicht einholst, werden wir die beiden zu Hause erwarten und du wirst sie nie wieder sehen. Kein Anruf.“
So schlicht die Anweisung war, er glaubte dem Mann sofort. Er kannte Männer wie ihn.
„Was…?“
„Die Zeit läuft.“
Bäume wetzten an ihm vorbei, Begrenzungspfähle, Leitplanken. Der Adrenalinrausch verhinderte ein klares Denken. Er ließ ihn nur sein Ziel mit rücksichtsloser Klarheit verfolgen.
‚Du kannst es nicht schaffen… Abstand… zu groß‘ Er schlug aufs Lenkrad, schluchzte auf, Verzweiflung griff dunkel nach seinem Denken. Er trat noch fester aufs Gaspedal, vertrieb mit Wut was klarer Verstand nicht zu bekämpfen vermochte, nicht in dieser
‚hoffnungslos…‘
Situation. Nicht zum ersten Mal schlingerte der Wagen, konnte jedoch auf der Straße gehalten werden. Nach dem kurzen Gefühlsausbruch kehrte seine volle Konzentration wieder auf die Straße zurück.
Die erste Bergkette lag hinter ihm, er brauste in vielen scharfen Kehren zu Tal. Mehrmals überholte er, ohne etwas zu sehen. Es war jedes Mal ein Gefühl wie freier Fall. Und obwohl der Tod zweier Geliebter bevorstand, setzte jedesmal danach ein Gefühl der Erleichterung ein, Erleichterung darüber, noch am Leben zu sein. Dem tödlichen Krachen entgangen zu sein. Denn jeder Gegenverkehr in dieser Situation wäre tödlich, das stand außer Frage.
Im Tal mündete die Straße in eine Bundesstraße. Er schlingerte hinein, zwang Gegenverkehr zum Ausweichen in den Graben und schnitt ein in gleicher Richtung fahrendes Fahrzeug, dass es nur um Haaresbreite nicht zum Zusammenprall kam. Er registrierte es kaum. Ein Beinahe hatte keinen Wert.
Was war das da vorne für ein Fahrzeug? Ein schwarzes?
‚Es ist schwarz, es ist ein Kombi…‘
Der Motor jaulte, als er ihn gnadenlos bis zur 6000er-Grenze drehen ließ, bevor er schaltete. Hier auf der Bundesstraße konnte er den Vorsprung kürzen, hier konnte er das Einholen möglich machen…
150 km/h, 180/kmh, Hupkonzert, wann er an anderen Fahrzeigen vorbeidonnerte. Noch 1200 Meter, dann musste er abbiegen, durch ein Dorf, in dem es von Touristen wimmelte, enge Gassen, danach bergauf, der letzte Berg…
Er setzte die Bremsung so spät an, dass er wieder nur mit schleuderndem Heck abbiegen konnte, das Lenkrad fest umklammert, die Augen weit. Das Auto bockte, die Räder drehten durch, griffen wieder, rissen den Wagen einmal mehr vorwärts. Noch nie, so schien es ihm einen Moment, war der Wagen so stark in der Leistung gewesen, wie heute.
Er jagte mit über 80 Sachen an den geparkten Wagen vorbei.
‚Bleibt drin, bleibt drin, bleibt drin…‘ Doch einer erhörte sein stummes Flehen nicht. Gegenverkehr verhinderte ein Ausweichen, Bremsen kam nicht in Betracht. Er hatte keine Sekunde zu verlieren.
Mit schrillem Kreischen von Metall und Splittern von Plastik und Glas krachte vorderer Kotflügel in einen hinteren, das ausparkende Fahrzeug wurde herumgeschleudert, krachte an andere Wagen, doch der Fahrer, der kein Sekunde verlieren durfte, hatte einmal mehr die nötige Prise Glück. Sein Wagen schoss fast ungebremst weiter.
Hinter ihm wurden Schreie laut, Rufe und Empörung. Kein Gedanke daran.
Er bog erneut ab, fand sich in einem Gewirr enger Sträßchen wieder, die er gottlob kannte. Allerdings waren sie uneinsehbar. Käme ihm ein Fahrzeug entgegen, gäbe es fast unweigerlich eine drastische Kollision. Aber einmal mehr stand langsamer zu fahren außer Frage. Wenn sie nicht aufgehalten wurde, dann bestand nur die Chance auf Einholen, wenn er keine einzige Sekunde verschenkte, kein einziges Mal unnütz auf die Bremse trat. Nicht ein einziges Mal.
Noch einmal, zum hundertsten Mal, betete er darum, sie möge aufgehalten worden sein, das Auto gleich hinter der nächsten Kurve auftauchen… Doch dahinter kam nur eine weitere Straße, weitere Kurven, die keinen weiten Blick voraus gestatteten. Aus dem Dorf hinaus. Nun ging es aufwärts, wieder einen Berg hinauf zum Pass, von dort noch einmal hinunter ins Tal, ins Dorf, in die Siedlung, nach Hause… Wo mochten sie sein?
Er schnitt alle Kurven, hielt den Wagen an jenem Limit, das nur erfahrene Fahrer im Gefühl hatten, einen Deut davor, wegzurutschen. Laub auf der Straße erhöhte das Risiko. Aber kein Risiko war zu groß, wenn alles auf dem Spiel stand. Wenn alles auf dem Spiel stand, das Bedeutung hatte.
Leichter Regen setzte ein, erschwerte die Sicht, machte die Straße schwieriger, verringerte die Chancen, die es eigentlich gar nicht gab.
Kurve um Kurve, wieder Überholen ohne Sicht, wieder Glück, Aufblenden hinter ihm, ignoriert. Kurven, dann endlich die lange Steigung, die mehr oder weniger gerade verlief. Gerade genug jedenfalls, um alles aus den 137 PS herauszuholen. Gaspedal auf Anschlag, der Motor dröhnte und schob die Masse von 1,4 Tonnen tapfer immer schneller den Berg hinan. Der digitale Tacho zeigte 120, 130, 150, als er auf den Scheitelpunkt auf der Passhöhe zuschoss, zeigte sie 164 km/h. Dann musste er scharf bremsen, flog förmlich über die Kuppe, das Risiko in Kauf nehmend, dass dort Wanderer die Straße querten und er sie ohne Ausweg umgefahren hätte.
‚Es hätten auch Kinder dabei sein können…‘ Er schob den Gedanken beiseite, kein Raum im Denken. Die nächste Kehre erreichen, nach vorne sehen, endlich die Rücklichter des schwarzen Kombi auftauchen sehen… das war alles, was Platz hatte.
Doch er tauchte nicht auf. Im Geiste die Strecke vorwegnehmen sank sein Mut noch weiter.
‚Zu kurvig, kann kaum was gutmachen. Sie fährt hier immer schneller als ich.‘ Vielleicht hielt sie der Regen mehr auf, sie würde vorsichtig fahren, um des Kindes willen, ganz bestimmt. Wieder Kurve, noch einmal überholen, diesmal mit ein wenig Sicht, Gegenverkehr gerade noch geschafft. Wieder Hupkonzert. Dann kam die erste Haarnadelkurve, die erste von vieren, bevor man unten war. Pfeifend wetzten die Reifen über den feuchten Asphalt, aber noch einmal hielten sie, vielleicht nur durch den Willen des Fahrers. Nun lag eine etwa 500 Meter lange Gerade vor ihm, einsehbar. Doch kein Auto war zu sehen. Panik brandete in Wellen in ihm auf, das Adrenalin begann an Wirkung zu verlieren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er die Kontrolle verlor, bis sein körpereigenes Tuning ihn im Stich ließ.
Aber es waren auch nur noch knapp fünf Kilometer.
Sein Fokus blieb auf den Punkt gerichtet, an dem die Straße aus seinem Blickfeld verschwand. So konnte er zumindest solange wie möglich auf etwas reagieren, was dort auftauchen mochte. Doch nichts tauchte auf.
Wieder kam eine Haarnadelkurve, dann eine weitere Gerade mit beinahe 700 Meter Sichtweite. Kein Fahrzeug. Er bretterte in die Senke, und in die nächste Kurvenkombination, die in der dritten Haarnadelkurve endete. Die Reifen quietschten, er war viel zu schnell.
Zwei Minuten bis nach Hause. Da läutete sein Handy.
Hektisch drückte er auf die Freisprechanlage, ohne einen Augenblick die Straße aus der Aufmerksamkeit zu entlassen. Es war der Mann.
„Sie sind in 35 Sekunden hier.“ Seine Stimme war ruhig, leise und drückte keine Emotion aus. Vielleicht eine Spur Bedauern, aber das konnte Einbildung sein. Dann war das Gespräch beendet, bevor er etwas winseln konnte, flehen, betteln. Sie würden es tun. Seine Liebsten würden sterben, er konnte es nicht mehr schaffen.
Noch zwei Kuren nahm er, dann wurden seine Hände ruhiger. Er wusste, oder glaubte zu wissen, dass man die Airbags ausschalten konnte, vielleicht war das auch nur ein Aberglaube, etwas, das er mal gehört hatte. Aber einerlei. Airbag oder nicht, es machte keinen Unterschied.
Als er den Gurt löste, begann der Wagen ihn penetrant piepsend zu warnen. Dann schwenkte die massige Schnauze auf die letzte Gerade, die zur untersten Haarnadelkurve führen würde, 1,2 Kilometer von zu Hause entfernt. Sein Fuß trat noch ein letztes Mal das Gaspedal durch. Heulend warf der Motor den Wagen nach vorne, immer schneller, bergab so gut beschleunigend wie sonst nie.
Eine Frage hatte er gestellt, nachdem der Mann ausgestiegen war und bevor er die Türe hatte schließen können.
„Was ist wenn ich einen Unfall habe?“ Der Mann hatte einen Moment gezögert.
„Du solltest einen richtigen haben. Dann muss sonst niemand einen haben.“
Der Wagen donnerte der engen Kehre entgegen, 120, 130, 140 km/h. Die Kehre führte nach rechts und wurde auf der anderen Seite von einem Gesteinsmassiv begrenzt. Es war Granit, so wie aller Fels hier Granit war.
‚Sie werden leben… meine Kleine wird leben…‘
Der Wagen verließ die Straße mit über 160 Stundenkilometern.