- Beitritt
- 04.03.2018
- Beiträge
- 1.350
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Fagus Sylvatica
Der schwere Harvester frisst sich durch den alten Mischwald. Sechs riesige Profilreifen durchpflügen den Waldboden und lassen Moosfetzen regnen. Den leicht abschüssigen Hang gleicht der Harvester selbständig aus. Das Load-Sensing-System verteilt ausreichend Pferdestärken genau dorthin, wo sie gebraucht werden. Ruckelig schwenkt der Teleskoparm nach vorne. Der flexible Kopf des Harvesters legt seinen Würgegriff um den Fuß einer achtzig Jahre alte Fichte. In Sekundenschnelle klappt die Kettensäge aus und schneidet knapp über dem Boden durch den Stamm. Noch im Fallen beginnt der Harvester mit der Entastung. Dazu ziehen die Stachelwalzen den Stamm an den schrägen Messern vorbei und die Kappsäge trennt ihn auf drei Meter lange Stücke. Automatisch, wie voreingestellt. Am Rand der Schneise stapeln sich die Stammabschnitte, bereit für den Abtransport durch den Forwarder.
In der Führerkabine sitzt ein junger Mann. Orange leuchtende Warnweste. Der Blick pendelt zwischen Monitor und Werkzeugkopf hin und her. Beide Hände fliegen über Hebel und Joysticks, mit denen er die Werkzeuge blind dirigiert. Automatisch richtet sich die Kabine zum Aggregatkopf hin so aus, dass er freie Sicht auf das Geschehen hat.
Früher, als Junge lief er zu Fuß durch den Wald, hackte mit seinem großen Fahrtenmesser junge Triebe von Weidenbäumen und schnitzte daraus Pfeil und Bogen. Legte Schlingen aus und baute Hütten. Indianerspiele. Einige unbeschwerte Sommer lang, bis etwas passierte, das er aus seiner Erinnerung verbannt hat, weil es danach weh tat, daran zu denken.
Durch die Kopfhörer an seinem Helm dröhnt Metallica. Langsam wippt der Helm im Takt der Ballade. Nach einer kurzen Berührung zeigt der Monitor die Meterleistung an. Er weiß, für die Prämie muss er noch nachlegen. Meter für Meter nähert er sich den Stämmen der alten Rotbuchen. Auch von denen sind etliche mit dem Schrägstrich markiert. Das Zeichen, das ihr Schicksal besiegelt. Das Zeichen, das zu ihm spricht, zu ihm als Forstwirt. Seine Liebe zum Wald war einst der Grund für die Berufswahl, auch wenn sie schon vor langer Zeit verwelkte. Heute sieht er nur noch die nackten Stämme. Schaut nach der Fällrichtung, bewertet sie nach Durchmesser und verbindet sie zu einer Tour. Und wählt den Ablageplatz nach Zugänglichkeit durch den Forwarder.
„Never cared for what they do …“
Seine Finger trommeln den Takt. Das, was sich vor mehr als zwanzig Jahren hier zugetragen hat, ist ein weißer Fleck. Er hat es gründlich vergessen, aus dem Gefühl der Scham heraus mühsam von seiner Festplatte geätzt. Dennoch hängt es manchmal wie ein Schatten über ihm. Die Greifzange fasst die erste Buche.
Die größte der Rotbuchen überragt auf ihrem kleinen Hügel die Bäume ringsum wie ein Hirte seine Herde. Von geradem Wuchs ist der Stamm des Baumgiganten, bis auf eine Stelle unten am Fuß. Langsam wachsend hat sie die Wunde umwallt. Jahr für Jahr, Ring für Ring. Bis nur noch eine kleine Ausbuchtung in der Rinde auf die Verletzung hinwies.
Dort, wo die Äste sich berühren, stehen sie Schulter an Schulter, die ältesten Bäume des Waldes. Gewaltige Organismen und doch nicht stark genug.
Zwischen den Stämmen hindurch leuchtet das helle Maschinengrün des Harvesters und heiße, schwarze Dieselwolken ziehen durch das Blattwerk. Die einzigen Laute sind die Arbeitsgeräusche der Erntemaschine und in regelmäßigen Abständen das hässliche Knarzen des nächsten Stammes, der stöhnend gen Boden rauscht und in Windeseile zu Nutzholz zerhackt wird.
Wie eine Raupe durch ein Blatt frisst sich das seelenlose Metall durch die Reihen. Die Maschine ist ärger als alles, was jemals diesen Wald bedroht hat. Selbst die großen Waldbrände der Vergangenheit ließen den alten Bäumen Überlebenschancen. Anders diese Holzerntemaschine. Sie schafft Fakten. Endgültig.
Den Forstarbeiter überkommt ein Déjà-vu. Er weiß nicht, was es ausgelöst hat, ob ein bestimmter Geruch oder die Konstellation der Bäume oder das spezielle Licht in der Senke vor der riesigen Buche. Mit einem Mal weiß er es: Er war schon einmal hier. Auch der eine Moment, der alles veränderte, zuckt blitzartig und schmerzhaft zurück in seine Erinnerung. Die große Dummheit, die sich schon damals anfühlte wie ein Verrat.
"Never cared for what they know ..."
Grimmig scheucht er die Erinnerungen beiseite wie einen bösen Spuk. Er lässt den Motor aufheulen und legt unbeirrt Buche für Buche aus die Seite. Die Maschine spuckt die Stammabschnitte aus, als wären es Streichhölzer. Entschlossen steuert er den Harvester immer tiefer in den Buchenwald.
Die Botenstoffe schweben schon seit Stunden durch den Wald. Sie warnen vergeblich, es gibt kein Entkommen. Die Luft ist vom Harz getränkt.
Gerade packt der Magazinkopf den nächsten Stamm und will zum Kappen die Säge ausfahren, als sich durch die Vibrationen ein toter Ast löst. Aus großer Höhe rauscht er lautlos hinab und gewinnt an Geschwindigkeit. Für einen Moment scheint der Wald den Atem anzuhalten. Mit unglaublichem Scheppern schlägt er auf das Dach des Harvesters und formt eine stattliche Delle in das grüne Blech.
Der Mann kann von Glück sagen, dass er einen Helm trägt, denn so wird er zwar vom deformierten Blech am Kopf getroffen, doch weiter geschieht nichts, außer dass er aus der aufgesprungenen Kabinentür fällt. Mit dem Gesicht zuerst landet er auf dem weichen, gepolsterten Waldboden.
Wäre er bei Bewusstsein, würde er neben dem süßlichen, leicht modrigen Duft von Moosen und verrottendem Laub noch etwas anderes wahrnehmen, denn im Fallen trifft sein Kopf eine Pilzkolonie. Noch bevor er die Augen wieder öffnet, atmet er eine Wolke winziger Sporen ein.
Es ist sein kratzender Reizhusten, der ihn letztlich aufweckt. Der Hals trocken und rau. So oft er sich auch räuspert, seine Lungen krampfen und wollen sich nicht beruhigen. Auch mit seinem Nacken stimmt etwas nicht. Wenn er versucht, den Kopf zu drehen, spürt er ein unangenehmes Ziehen und Stechen.
In Anbetracht des Schadens am Harvester sollte er jetzt den Unfall melden. Doch er setzt sich in die beschädigte Kabine, fährt den Ausleger senkrecht, dreht den Magazinkopf geschickt in seine Richtung und räumt den toten Ast vom Dach. Dass er wegen der Delle der Kabine schräg in seinem Sitz hängt und nicht komfortabel wie gewohnt seine Hebel bedienen kann, ärgert ihn. Einer der Kopfhörer hängt nur noch am dünnen Kabel. Die Halterung ist gebrochen. Nach dem Neustart leiert aus der verdrehten Hörmuschel wieder der Song.
"So close, no matter how far ..."
Der Mann sitzt auf dem Bock und hat wieder die Kontrolle. Probehalber lässt er alle Aggregate einmal laufen, um zu prüfen, ob der Harvester weiteren Schaden genommen hat. Alles funktioniert, die Maschine ist einsatzbereit.
Das Pochen in seinem Nacken ignoriert er stoisch. Dem Kratzen in seinem Hals muss er jedoch nachgeben. Wieder schüttelt ihn heftiger Husten. Tränen rinnen über seine Wangen und er lehnt sich über das Lenkrad, bis es wieder geht. Aus dem Mundwinkel tropft ein Speichelfaden.
Sein nasser Blick schweift über die Stämme und bleibt an der gerade gewachsenen Rotbuche hängen, die etwas erhöht auf dem kleinen Hügel steht. Auch wenn sie einen verwitterten Punkt trägt, der sie als wertvollen Z-Baum ausweist, will er sie nicht verschonen. Von ihrer Größe her ist sie zwar an der Grenze dessen, was der Harvester bewältigen kann, doch gerade groß genug, um seinen Zorn an ihr zu kühlen. Es wird Ärger geben mit dem Förster, doch das nimmt er in Kauf. Schließlich kann sich jeder einmal irren, sagt er sich mit einem schiefen Lächeln.
"No, nothing else matters ..."
Mit grimmiger Entschlossenheit setzt er den Harvester zurück, schlägt das Lenkrad ein und steuert direkt auf sein neues Ziel zu. Er setzt die Halteklammern an und packt den glatten Stamm. Kreischend klappt die Säge aus und fährt drei Viertel hindurch, bevor sie sich mit einem gewaltigen Rückschlag festfrisst und steckenbleibt. Er versucht den Aggregatkopf freizubekommen. Nichts bewegt sich. Fluchend steigt der Mann aus seiner Kanzel, pfeffert den Helm auf den Sitz und stolpert über die verschlungenen Wurzeln zum Stamm. Auf dem Weg beginnen die Sehstörungen, doch er will nicht aufgeben.
Vergeblich zieht er an der Säge. Zwecklos. Er nimmt den Hammer aus seinem Gürtel und treibt einen Keil tief in den gesägten Spalt. Knirschend und Wasser spritzend verschwindet er mit jedem Schlag weitere Zentimeter im Holz – falls er trifft, denn die Sehstörungen werden ernster.
Beim letzten Schlag verfehlt er den Keil erneut und gerät dabei so aus dem Gleichgewicht, dass er über eine der Wurzeln stolpert. Sein Hals verdreht sich und er spürt es Knacken. Wie eine Marionette mit zerschnittenen Haltefäden sackt er am Fuß der Buche zusammen. Bewegungsunfähig, bis auf den quälenden Husten.
Da ist es wieder, das Déjà-vu. Und diesmal ist er zu schwach, sich zu wehren. Die Erkenntnis legt sich wie eine Decke über ihn und nimmt ihm den Atem. Er hat hier schon als Junge gelegen. Hat sich getröstet und geborgen gefühlt. Und auch jetzt spürt er die Regung des Baumes. Horcht in ihn hinein, wie damals. Sieht die Trauer des sterbenden Wesens. Mit einem Mal ist die Erinnerung da und er versteht, warum die Säge festklemmt. Das Fahrtenmesser!
Der Hirschhorngriff zitterte von der Wucht, mit der der Junge das Messer schräg von oben in den Fuß der Buche hingetrieben hatte. Das neue Fahrtenmesser, das sein Onkel ihm zur Konfirmation geschenkt hatte. Und auch die blinde Rage fällt ihm wieder ein, die ihn damals fest im Griff hatte. Die Wut, die er mit in den Wald brachte und deren Ursachen ganz woanders lagen. Schon in dem Moment, in dem er das Messer mit ausgestreckten Armen hinabschnellen ließ, bereute er es. Doch es war zu spät. Die Klinge fuhr durch das braune Fell und nagelte das schlaffe Tier an den Stamm. Mit Entsetzen sieht er wieder in die schwarzen Knopfaugen, sieht das rote Rinnsal, das die glatte, graue Rinde hinabläuft. Schwindel packt ihn, doch er kann nicht fliehen wie damals.
Eine gewaltige Böe erfasst die riesige Krone der stattlichen Rotbuche. Seines Halts beraubt, gibt der Stamm nach und das Blätterdach setzte sich Richtung Erde in Bewegung. Wie in Zeitlupe rauschen die Blätter, die kleinen und großen Äste an den benachbarten Bäumen vorbei. Der Stamm bricht auf und zerfasert in große Splitter. Das einstige Fahrtenmesser mit dem ehemals schön geschnitzten Hirschhorngriff wird ebenso freigegeben wie die verklemmte Säge.
Unaufhaltsam senkt sich der gerade Stamm seinem Ziel entgegen, einem hellgrünen Fremdkörper aus Metall. Bestückt mit sechs riesigen Reifen und teuflischen Werkzeugen der Vernichtung.
Das Letzte, was der Mann von sich gibt, ist ein heiseres, kratzendes Husten, bevor sich die tonnenschwere Rotbuche auf ihn legt und das letzte Quäntchen Luft aus seinen Lungen presst. Nach kurzer Zeit sind auch die letzten Blätter gelandet und es kehrt wieder Ruhe ein im Hain der Rotbuchen.