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für meine Mutter
Es war einer dieser nebeligen Tage im Herbst, kurz bevor der Winter das Land erreicht. Wie ein grauer erkalteter Tee lag der Nebel über dem Tal, ohne das geringste Licht oder gar Wärme der Sonne hindurch zu lassen. Noch immer lag meine Mutter im Bett, zu schwach um aufzustehen oder sich um den Haushalt zu kümmern. Der Vater war vor vielen Jahren in den Krieg gezogen und nicht
wiedergekehrt. Nun lebten wir beide hier allein, da mein Bruder in die Stadt gegangen war, weil er dort bei einem feinen Gentleman in die Lehre gehen kann.
Das ist jetzt fast ein Jahr her. Hin und wieder erreicht uns ein Brief von ihm, den ich Mutter vorlese, auch wenn es mir wegen seiner schlechten Schrift sehr schwer fällt. Doch in den letzten Tagen konnten auch seine Briefe sie nicht mehr aufmuntern. Häufig schüttelten Krämpfe und Hustenanfälle ihren dünn gewordenen Körper. Meine Tante, eine Schwester meines Vaters, hatte versprochen noch heute vorbeizukommen und nach ihr zu sehen. Und am frühen Nachmittag erschien sie nun auch, um sofort hinter geschlossenen Türen die Untersuchung vorzunehmen. Wie eine Ewigkeit kam mir die Wartezeit vor, in der die beiden Frauen ungestört waren, und selbst die Uhr – ein Erbstück meiner Urgroßmutter – schleppte ihre Zeiger so langsam und träge voran, dass ich befürchten musste, dass sie bald rückwärts laufen würden. Also ging ich in die Küche, um Wasser auf dem Feuer zu kochen. Tee hat mich schon immer beruhigt; so auch dieses Mal. Die Kräuter stammten aus den Beeten in unserem kleinen Gärtchen.
Gefühlte Stunden später, die ich mit sprichwörtlichem Tee trinken und Umherlaufen in der Küche vertan hatte, erschien die Tante bei mir und sah nicht sehr erfreut drein. Ich bat sie, mir zu sagen, was meiner Mutter fehle und wie ich ihr Leiden lindern könne und sie befahl mir, mich zu setzen, wie auch sie es tat. Im folgenden Gespräch machte sie mir klar, dass die Krankheit meiner Mutter sehr ernst war und nur eine Medizin aus der Stadt ihr helfen konnte. Ich versprach ihr, diese sogleich zu besorgen. Sie schrieb mir den Namen auf einen Zettel, welchen ich gut verwahren sollte und nannte mir den Preis, den ich etwa dafür aufbringen müssen würde. Ich log, dass wir Geld beiseite geschafft hätten, doch war es eigentlich keine wirkliche Lüge, da ich nicht wusste, wie viel Geld wir besaßen. Bevor sie ging teilte mir die Tante noch den Namen eines Apothekers mit, dem ich aufsuchen sollte, um die Medizin möglichst günstig zu bekommen. Es war ein Bekannter von ihr.
Als ich die Türe hinter ihr geschlossen hatte – nicht ohne noch viele Male unseren Dank für ihre Hilfe zu beteuern – betrat ich die Schlafstube meiner Mutter, um ihr mitzuteilen, dass ich gleich morgen in die Stadt aufbrechen würde, um die Medizin zu holen. Da wir keine Pferde besaßen, würde ich erst in zwei oder drei Tagen wieder zu Hause sein. Ich versicherte ihr hoch und heilig, vorsichtig zu sein und sie teilte mir mit, wo sie das Geld versteckte, welches sie von ihrer sehr geringen Rente und unseren Verkäufen zurückgelegt hatte. Bald darauf schlief sie ein und ich kehrte in die Küche zurück, um mich auf die morgige Reise vorzubereiten und das Geld einzupacken.
Doch als ich das entsprechende Kästchen öffnete, so vielen nur wenige Geldstücke heraus. Unsere Rücklagen waren sehr geschrumpft, als wir das Ofenholz für den Winter eingekauft hatten. Wenigstens war die Lieferung umsonst gewesen, weil der Verkäufer ein Bekannter war. Da das Geld so knapp war, wollte ich meinen Bruder besuchen und Geld von ihm erbitten. Er lebte bei dem Wagner, bei dem er arbeitete, konnte sich so von seinem Lohn eine kleine Summe ansparen, so hatte er uns geschrieben und wofür wäre das Geld besser genutzt, als für die Gesundheit der eigenen Mutter?
Um in der Stadt einen guten Eindruck zu hinterlassen und meinen Stand nicht gleich zur Schau zu stellen, legte ich mir für den morgigen Tag mein Sonntagskleid bereit. Es war kaum geflickt und ließ mich auch ein wenig älter wirken. Dann richtete ich mir am Ofen nahe der erlöschenden Flamme meine Schlafstadt und legte mich früh schlafen, um am nächsten Morgen früh aufbrechen zu können.
So kam es, dass ich noch vor Sonnenaufgang aufstand, mich im kalten Wasser unseres Regenwassersammeleimers wusch, mein feines Kleid anlegte und meine Haare aufsteckte, sodass ich mir sehr viel edler vorkam als je zuvor, dann das Geld einpackte und mit etwas Essen, dem Zettel der Tante und einem Schirm zum Schutz vor Sonne und Regen meinen Weg in die Stadt begann.
Zunächst führte mich meine Reise auf den Dorfplatz, da ich mich von dort am besten orientieren konnte, in welche Richtung ich zu laufen hatte. Bisher war ich erst einmal in der Stadt gewesen, damals als mein Vater noch gelebt hatte. Am Dorfplatz angekommen war noch kein Mensch zu sehen, doch waren Stände für den heutigen Markt bereits aufgebaut. Nachdem ich mich orientiert hatte, schlug ich ein rasches Tempo auf der breitesten der Straßen an. Doch zu lange konnte ich meine Laufgeschwindigkeit nicht halten.
Als das graue Licht den Vormittag bedeutete, war ich bereits müde, also verringerte ich meine Schritte und entspannte so meine Beine ein wenig. Doch die Sorge um meine Mutter trieb mich immer wieder zur Eile an und so schmerzten mir schon gegen die Mittag die Beine, doch ich gönnte ihnen nur eine kurze Pause, als ich ein anderes Dorf erreichte und am Brunnen meinen Durst stillte. Indem ich auf dem Rand Platz nahm und mich an das Wasser beugte, konnte ich sowohl meine müden und pochenden Beine entspannen und andererseits mein Kleid vor Wasserspritzern bewahren. Bei den tiefen Temperaturen wäre das Kleid wohl kaum getrocknet; bei dem drückenden Nebel war das schon doppelt ausgeschlossen. Nachdem ich reichlich getrunken hatte, musste ich mich bei den Menschen erst erkundigen, in welche Richtung nun die Stadt lag und wie ich schnellstmöglich dorthin gelangen konnte und so eilte ich weiter auf meinem Weg. Bald lichtete sich der Nebel ein wenig und ich sah Äcker um mich herum und in der Ferne Pferde und einen Wald.
Es muss noch Nachmittag gewesen sein, als ich das Klappern von Pferdehufen und das Knarren einer Kutsche hinter mir vernahm. Ich rückte weiter an den Rand des Weges, da ich nicht sicher war, wie weit ich sichtbar war und keinen Zusammenstoß riskieren wollte. Als die Geräusche verrieten, dass das Pferd nur ein wenig hinter mir war, wurde es gezügelt und lief hörbar langsamer. Als das brave Tier nun auf meiner Höhe war, sprach mich der Mann auf dem Kutschbock an. Da ich meinen Schirm schützend über mir geöffnet hatte, konnte ich ungesehen einen Blick auf das Gefährt neben mir werfen und so entpuppte sich meine Kutsche als Bauernwagen, der Holz und Heu geladen hatte und von einem alten Pony gezogen wurde. Erst nach und nach begriff ich, dass der Mann, der den Karren lenkte, mir anbot, mich mitzunehmen. Er hatte ein verschlagenes Gesicht und ein grässliches Grinsen entstellte es noch weiter.
Unter meinem schützenden Schirm blinzelte ich zu ihm empor. Dann teilte ich ihm mit, dass ich mein Geld schon in der Stadt brauchte und ihn nicht bezahlen konnte. Daraufhin lachte der Mann und klopfte neben sich auf die Bank während er mir erzählte, dass er keine Bezahlung verlangen wollte, mich aber auch nur bis ins Dorf vor der Stadt mitnehmen konnte. Ich bedankte mich für seine
Höflichkeit und nahm hinten auf de Karren zwischen Holz und Heu Platz – wo ich ihn im Blick hatte und möglichst weit entfernt saß. Als der Wagen seine Fahrt wieder aufnahm und mir der Wind um die Nase strich merkte ich erst, dass meine Beine vom Laufen geschwollen waren und die Fußsohlen brannten. Doch aus Angst nicht mehr hinein zu passen, behielt ich meine Schuhe lieber an.
Immer wieder während der Fahrt drehte der Fahrer sich nach mir um, als wollte er sicher gehen, dass ich nicht davon liefe und das bereitete mir großes Unbehagen, doch ich hielt still und tat, als bemerkte ich seine Blicke nicht. Bald fing die Fahrt sogar an mir Spaß zu machen. Ich zog aus meinen Taschen etwas Brot und Käse, was ich von zu Hause eingepackt hatte. Erst jetzt hatte ich den Hunger bemerkt, der mich wohl schon länger begleitete. Ich fühlte mich sofort erfrischt und voller Energie, doch wollte ich die Fahrt noch für ein besseres Auffüllen meiner Kräfte nutzen.
Am späten Nachmittag liefen wir in besagtem Dorf ein. Noch bevor der Bauer sein Ziel erreicht hatte sprang ich rasch vom Wagen und säuberte mein Kleid erst, als ich außer Sicht in einer Gasse verschwunden war; ein Stück des Stoffes war eingerissen, aber die Stelle war kaum zu sehen. Dass der Kutscher zum Abschied seinen Hut lüpfte und leise lächelte, als er mein Verschwinden bemerkte, sah ich nicht mehr.
Von hier war der Weg in die Stadt nicht mehr weite und so war ich am Abend schon in der Stadt. Ich zog einen Brief meines Bruders heraus und zeigte die angegebene Adresse Passanten, um mich so zu seiner Unterkunft durchzufragen. Sehr schnell hatte ich das schöne Haus gefunden. Als ich dort klingelte, öffnete mir ein Bediensteter des Hauses und führte mich auf Bitten zum Hausherren und
Lehrmeister meines Bruders. Diesem berichtete ich von der Krankheit meiner Mutter und meiner Bitte an meinen Bruder wegen finanzieller Unterstützung für das Heilmittel, als er mich bat, mich zu setzen und Tee reichen ließ. Die Wärme des Getränks und des Ofens trieben mir wieder Farbe ins Gesicht und weckten meine starren Glieder. Daraufhin teilte mir der gute Herr sein aufrichtiges Bedauern mit, mein Bruder sei vor etwa drei Monaten eines Nachts plötzlich verschwunden, nachdem es wohl öfter Probleme und Auseinandersetzungen gegeben habe. Seine Arbeits- und Wohnstätte hatte er somit wohl nur auf dem Papier erhalten, damit meine Mutter und ich beruhigt waren und nicht nachfragten. Auf Nachfragen teilte ein herbei gerufener Lehrling mit, dass mein Bruder sich wohl im Armenviertel aufhalte, mit einer Dirne, und dem Alkohol sehr zuspreche.
Da ich von dem Schrecken ohnmächtig zu werden drohte, brachte man mir etwas Cognac mit Wasser, welcher mir schnell die Geister in den Körper zurücktrieb. Noch eine Weile blieb ich und der Herr machte mir, wohl aus Mitleid um den Zustand meiner Mutter, das Angebot, meinen Bruder als Lehrling wieder aufzunehmen, wenn er hart arbeite und das Versäumte schnell aufholte. Ich dankte ihm noch gefühlte hundert mal, auch im Namen meiner Mutter und wünschte ihm und seiner Familie Gesundheit und alles Glück, das ich mir ausmalen konnte, dann trat ich in die Nacht hinaus.
Das Armenviertel war recht leicht zu finden, da mir der Junge im Hause des Ausbilders bereits die grobe Richtung genannt hatte und als ich ein ganzes Stück gelaufen war, ohne auf der anderen Seite der Stadt wieder herauszukommen - was mir bewusst machte, wie verblüffend groß die Stadt doch war - wurden die Häuser langsam grauer, irgendwie farblos und bald schmutzig und kaputt. Irgendwann blieb ich in einer Gasse stehen, die nach Ausscheidungen, Erbrochenem und Blut roch - ich war angekommen - und sogleich schämte ich mich unendlich, dass mein Bruder so tief gefallen war. Wie man hier leben konnte, wollte ich mir beim besten Willen nicht ausmalen. So ging ich langsam weiter, sehr bedacht darauf mein feines Kleid sauber zu halten, und kam mir vor, wie ein funkelnd leuchtender Stern in einer schmutzig-dunklen Nebelnacht.
Als ich um die nächste Ecke gebogen war, schien ich im Vergnügungsviertel angekommen, denn hier waren die Straßen voll von Betrunkenen, zwielichtigen Gestalten, Huren, Zuhältern, Verbrechern und allerlei Getier. Ängstlich schloss ich die Arme um mich und ging die Straße entlang, mich umsehend nach meinem Bruder und aus Vorsicht vor den Leuten.
Zunächst dachte ich, dass sie mir keine Beachtung schenken würden, doch dann sah ich ihr Starren, hörte die Pfiffe und Ausrufe hinter mir mit Wörtern, die ich nicht wiederzugeben vermag. Ein betrunkener alter Mann mit gelblich-braunen Zähnen und langen, ungepflegten Haaren lehnte rechts an einer Mauer und fixierte mich mit einem seltsam verzerrten grinsenden Gesicht, was mich dermaßen irritierte, dass ich einen Moment stehen blieb. Er stieß sich von der Wand ab und kam torkelnd auf mich zu, lallte Unverständliches vor sich hin, wobei ich sicher wusste, dass es keine netten und schicklichen Worte waren. Als er nur noch ein kleines Stück von mir entfernt stand, streckte er seine Hände nach mir aus und versuchte mich zu packen. Ich wich diesen Griffen mit einem Aufschrei aus und rannte davon, hinter mir das Gelächter der Anwesenden.
Ich kam erst wieder zur Ruhe, als ich im einsameren Teil einer Gasse angekommen war. Auch hier waren noch Schenken und Läden offen, doch auf der Straße waren kaum Menschen zu sehen, als ich mich keuchend umsah. Ein kleiner Junge lief vorbei und ich rief ihn zu mir. Wie er so vor mir stand, mit roten Haaren, rußig-grauen Backen und dem frechen Grinsen, kaum Kleider am Leib, überkam mich schreckliches Mitleid mit ihm und die traurige Gewissheit, dass ich ihm nicht einmal helfen konnte. Der Junge wirkte fahl und doch gelb, bestimmt war er sehr krank, vielleicht würde er bald sterben, doch ich konnte ihm nicht helfen. Sein Anblick rief mir meine Mutter ins Bewusstsein, wie sie krank zu Hause lag und auf meine Hilfe zählte und somit auch den Grund meines Ausfluges - den ich von den Schrecken heute Abend schon fast vergessen hatte.
Doch nun riss ich mich zusammen und befragte ihn nach meinem Bruder - ob er ihn kenne und über seinen Verbleib etwas wusste. Da leuchteten seine kleinen Augen auf und sein Grinsen erweiterte sich noch einmal erheblich, als er mir nun erklärte, dass er mich gegen eine Gebühr zu ihm bringen würde - er hatte mein Mitleid längst durchschaut. Ich war entsetzt über so viel Dreistigkeit und versuchte ihm deutlich zu vermitteln, dass ich ihn nicht für seine Hilfe bezahlen würde. Wir einigten uns auf einen geringeren Betrag.
Seine kleine klebrig-feuchte Hand griff nach der meinen und zog mich geschwind einige Häuser weiter, blieb vor einer Bar abrupt stehen und bedeutete mir das entsprechende Fenster. Ich gab ihm das Geld und er war augenblicklich verschwunden, also betrat ich die leere Bar. Drinnen ging ich recht zielstrebig zu einer offenen Tür gegenüber der, durch die ich eben gekommen war, hinter der sich die Treppe zu den oberen Etagen befand. Im zweiten Stockwerk klopfte ich gegen eine feuchte Holztür, hinter der mit lautem Krach Menschen wüteten.
Im Zimmer wurde es sofort still und erst, als ich nochmals klopfte, meinen Bruder bei seinem Namen rief und mich zu erkennen gab, wurde mir von einem zerzausten bärtigen Mann geöffnet, im Zimmer dahinter lief ein Mädchen auf und ab, sammelte ihre Kleider ein, die sie hastig in einen Koffer packte und dabei mächtig vor sich hin schimpfte. Der heruntergekommene Mann war mein Bruder, doch obwohl er mich erkannte, schien er mich von Anfang an für lästig zu empfinden und freute sich nicht im Geringsten über mein Kommen.
Als das Mädchen fluchend die Wohnung verließ rief er ihr scheußliche Dinge nach, warf dann mit einem lauten Knall die Türe zu. Ich hatte das Zimmer, oder besser das Loch betreten und saß auf ein paar alten Matten, die wohl als Bett dienten und besah das Zimmer, als er sich zu mir umwand und wir ein unterkühltes Gespräch begannen.
Er erzählte mir, wie er sich durch Gelegenheitsarbeit über Wasser hielt, viel ausging und Karten spielte, wobei der erhoffte Gewinn bisher noch nicht gekommen war - statt dessen verlor er fast sämtliches Geld, welches er irgendwie zusammenraufte. Ich erzählte ihm von der Krankheit unserer Mutter und wie ich gekommen war, um ihn um Hilfe zu bitten, doch es interessierte ihn nicht im Geringsten. Ich versuchte ihn zu dem Angebot zu überreden, welches sein Lehrmeister ihm durch mich unterbreitete - ein sehr großzügiges Angebot, wie ich hervorhob - doch war dies wohl für ihn undenkbar und er so stur in seinen Gedanken, dass ein Streit losbrach, bei dem ein Wort das andere gab. Ich fürchtete bereits, dass er mich schlagen oder etwas nach mir werfen würde, als er in seinen Schimpfereien von einem Pfiff auf der Straße unterbrochen wurde. Noch immer leise drohend und schimpfend zog er sich seinen Mantel an, verließ sein Zimmer, ohne mich oder meine Fragen, wo er denn hingehe, zu beantworten oder gar wahrzunehmen.
Nun war er verschwunden, war allein im Zimmer zurückgeblieben. Draußen hatte ein starker Regen begonnen, der sich durch die schimmeligen Wände seinen Weg in das Zimmer suchte. Ich beschloss, auf meinen Bruder zu warten - in der Hoffnung, dass er bald zurückkehre und sich vielleicht umstimmen ließe. Derweil zog ich meine Schuhe aus, die wunde mit Blasen übersäte Füße entblößten. Um sie zu kühlen wusch ich sie mit Regenwasser aus einer Pfütze im Zimmer, doch brachte das keine Linderung, also setzte ich mich auf die Matten und ließ die nassen Füße von der Luft trocknen und kühlen. Dabei musste ich eingenickt sein, denn als ich aufwachte, war alles still und finster, selbst der Regen hatte aufgehört. Die ganze Straße - zuvor noch hell erleuchtet und lärmend - war nun düster und still.
Noch eine Weile verharrte ich in der kalten Dunkelheit, dann wurde mir klar, dass mein Bruder nicht zurück zu erwarten sein würde, also entschloss ich mich, möglichst bald diese traurigen Mauern zu verlassen, den Ausweg aus dem Viertel zu suchen, damit ich bereits beim Öffnen der Apotheke meine Medizin holen und mich nur schnell wieder auf den Weg nach Hause zu machen. Da ich keine Salbe für meine Füße hatte, riss ich Bahnen aus meinem Unterrock, um damit die Wunden, Schürfungen und Blasen zu verbinden.
Als ich das Gebäude verlassen hatte, war es sehr schwer, sich in der Dunkelheit zurecht zu finden, doch ich versuchte mich an den Weg zu erinnern, auf dem ich vor ein paar Stunden gekommen war. Ohne die Menschen auf der Straße wirkte das Viertel verlassen und leer, ein wenig so, als wäre ein riesiger Besen darüber hinweggefegt. Durch meine gestörte Orientierung sah ich die ersten schönen Häuser erst, als ein zartes rosa den Himmel beschönte, die ersten Menschen - vor allem Kaufleute - schon unterwegs waren. Da ich jetzt wieder wusste, wo ich mich befand, nahm ich zielstrebig den Weg, der mich nach Hause führen sollte. Immer höher zog die Sonne und begann einen nahezu wolkenfreien Tag, sodass ich meinen Schirm über mir spannte.
Je weiter ich in das geschäftige Treiben geriet, desto mehr fielen mir die schönen und feinen Stoffe der Kleider auf, welche die Menschen in der Stadt trugen. Obwohl es nur ein Wochentag war, glänzten die Frauen in bunten Farben und die Herren im dunklen Zwirn. Oft genug hatte ich mich wegen unserer Armut geschämt und versucht, sie zu vertuschen, aber unter all diesen Leuten in ihren prächtigen Kleidern und den schönen und wohlriechenden Damen und Herren wurde ich mir der Bedeutung dieses Wortes zum ersten Mal bitterlich bewusst. Ich schien die einzige Magd unter Prinzessinnen. Ich machte kurz an einem Brunnen Rast, wusch mein Gesicht, steckte die wirren Haarsträhnen so gut es gelang wieder hoch und säuberte nach Möglichkeit mein Kleid, das staubige, graue Ding. Trotzdem fühlte ich mich so schmutzig. Das Einzige, was mich ein Stück meiner Würde behalten ließ, war der Schirm, hinter welchem ich mich verstecken konnte.
Immer wieder musste ich Passanten nach dem Laden des Apothekers befragen, was ich eher leise und nuschelnd tat, und die Leute antworteten mir in einer freundlichen und doch mitleidigen Art. Aber Dank der Hilfe dieser braven Bürger fand ich das entsprechende Haus sehr bald. Bevor ich eintreten konnte, spitzte ich durch das große Fenster in den leeren Verkaufsraum, der sauber und gepflegt wirkte, da stieß mich ein Mann an, der meine Entschuldigung schlichtweg überhörte und die Türe zum Laden öffnete - kling kling - um gleich darauf in seinem Innern zu verschwinden, wo ich ihn von meinem Platz aus beobachten konnte. Ich zupfte mein Kleid zurecht und sprach mir selbst Mut zu, dann betrat ich den Apotheker-Laden.
Kling kling verkündeten die beiden Glöckchen, die über der Tür mit einem Band an einen Nagel befestigt waren, mein Erscheinen und ich stellte mich dezent in den Hintergrund. Die Stimmen der beiden Männer waren gesenkt, beinahe nur ein stimmhaftes Murmeln, sodass ich nur den Ton ihrer Stimme, nicht aber ihrem Gespräch lauschen konnte. Auf dieses geräuschvolle Murmeln konzentrierte ich mich dermaßen, dass ich des Apothekers Frau nicht bemerkte, als diese aus den hinteren Räumen nach vorne trat. Erst als der Kunde vor mir sich umdrehte und alle drei mich anstarrten, wurde mir klar, dass ich gerade angesprochen worden war.
Kling kling.
Ich errötete beschämt und trat leise zu dem Teil des Tresens, an dem die Frau stand und mich höflich ansah. Als ich ihr den Namen des Medikamentes auf dem Papier zeigte und ihr mitteilte, dass ich dieses Mittel für meine Mutter benötigen würde, erklärte sie mir, dass ich zu warten habe, da nur ihr Mann das Recht habe, dieses Medikament zu verkaufen. Ich dankte ihr, worauf sie sich sofort dem Pärchen widmete, welches den Apothekerladen eben betreten hatte, ich trat wieder in den Hintergrund und wartete still ab, bis der Herr bedient war und bezahlt hatte.
Als die Tür hinter ihm mit kling kling ins Schloss fiel, trat ich zum Apotheker. Diesem erzählte ich nun das Gleiche wie zuvor seiner Frau, zeigte auch ihm das Stück Papier mit dem Wort darauf, das ich selbst nicht fehlerfrei lesen konnte, obwohl ich das Lesen als Kind von meinem Vater gelehrt bekommen hatte und es seither regelmäßig übte. Der Herr warf nur einen kurzen Blick auf meinen Zettel, drehte sich dann um, um in seiner Kommode die richtigen Zutaten zu holen, auf der Waage im Eck zu wiegen und für mich zu verpacken. Dann erklärte er mir das Bereiten der Salbe und des Tees – die Heilanwendung – mit und nannte mir den Preis.
Da ich rechnen nicht konnte, zog ich das Säckchen mit dem Geld aus meinem Kleid und übergab es dem Apotheker, der es augenblicklich vor mir auf en Tisch leerte, dass die Münzen klapperten. Er begann das Zählen sofort, stockte aber zum Schluss, um mir zu sagen, dass ich hier zu wenig Geld hatte. Damit brach eine Welt für mich zusammen, denn selbst auf Bitten und Flehen blieb der Mann hart, auch war ihm egal, dass ich die Nichte einer Freundin war, so schickte er mich hinaus, das restliche Geld zu beschaffen.
Draußen angekommen lief ich panisch umher, befragte fremde Leute nach Kleingeld, doch sie ignorierten mich, einmal wurde ich sogar weggestoßen, sodass ich fiel. Ich wusste, dass ich auf die Hilfe meines Bruders nicht zählen konnte, also raffte ich mich erneut auf und begann wieder zu betteln. Selbst nach einiger Zeit hatte ich erst kaum nennenswertes Kleingeld bekommen und wusste – auch ohne zu rechnen – dass diese Summe lange nicht reichte. Zu allem Überfluss überkam mich plötzlich ein schlimmer Hunger, dass mir ganz übel wurde. Ich stand vor einer Bäckerei mit dem Kleingeld in der Hand – bei weitem genug, um mir Brot, oder vielleicht sogar ein oder zwei Semmeln zu kaufen – und mir ein wunderbares Frühstück zu bescheren, doch blieb ich hart, da ich wusste, was auf dem Spiel stand. Würde meine Mutter sterben, so würde mich der Eigentümer des kleinen Hauses auf die Straße werfen, weil ich die Pacht nicht zahlen könnte, die Familie würde mich wohl nicht aufnehme.
Vielleicht würde ich sogar enden wie mein Bruder – Stop! Nein! Das würde nie passieren, schwor ich mir. Tief in meinem Herzen schmerzte mich das Bewusstsein, dass meine Mutter so dringend meine Hilfe brauchte, also lief ich fort von der Backstube, um weiteres Geld zu bekommen. Es dauerte noch weitere Stunden, bis ich eine Hand voll Kleingeld zusammen hatte, teilweise hatte ich das Geld durch das Tragen von Körben, oder Einkaufen verdient. Als ich mich kurz niedergesetzt hatte, um meine Beine ein wenig zu schonen, summte ich ein Liedchen und ein alter Herr warf mir eine Münze vor die Füße.
Wieder betrat ich den Apothekerladen, es war bereits nach Mittag und mein Körper fühlte sich taub an vor Hunger – umso ernüchternder war der Befehl des Apothekers zu gehen und den noch fehlenden Betrag zu besorgen, weil meine Hand voll Münzen immer noch nicht reichte. Also verließ ich wieder den Laden, um erneut mein Glück zu versuchen, doch wollten die Leute nichts mehr von meinen Bitten hören.
Verzweifelt setzte ich mich bald in den Schatten einer Häusermauer; zu meiner Linken ein paar Landstreicher, die dort auf dem Boden schliefen, zu meiner Rechten ein kleiner Hund, den ich in Gedanken zu kraulen begann. Wie lange ich dort saß, kann ich nicht sagen – ich starrte verloren auf den herrlichen Brunnen, dessen Wasser in der Sonne glitzerte – als ich den Herrn bemerkte. Er stand auf dem Platz vor dem Brunnen, in einem teuren Anzug und blickte mich direkt an. Ich wurde rot und wand schnell meinen Blick von ihm ab. Mit einem unangenehmen Bauchgefühl stellte ich fest, dass dieser Mann auf mich zu kam, langsam, aber bestimmt. Panik kroch in mir hoch und ich raffte mich – so schnell es mir möglich war – auf, zog mich an der Wand empor und war dennoch zu langsam. Als ich den Staub von meinen Röcken klopfte, war er ein paar Schritte von mir entfernt stehen geblieben und wartete nun dort ab, den Blick auf mir ruhend. Wie zum Schutz hielt ich meinen Schirm vor mich, den Henkel fest umschlossen, was mir Mut gab und ich blickte auf.
Er war noch nicht 40 Jahre alt, die blonden Haare bildeten einen schönen Kontrast Möglicherweise war er auf dem Weg zu einem Treffen, zu dem nur Gentlemen wie er zugelassen waren, oder er ging zu oder kam von der Kirche, vielleicht wollte er sich auch mit einer Dame treffen. Er war einfach nicht einzuschätzen.
So verhielt es sich auch mit seinem Gesicht. Es wirkte jung, aber seine Augen blickten mich direkt und wissend an, er lächelte nicht, sah aber auch nicht wirklich feierlich drein, sagte dabei nichts. Es dauerte eine Weile, bis ich sicher sein konnte, dass meine Stimme meine Unsicherheit nicht mehr direkt offenbarte und ich mit einer undeutlich leisen Stimme fragte, was er wünsche, worauf er entgegnete, dass er mich von dort drüben (als er an dem Brunnenplatz stand) aus beobachtet hatte, das ich aussehe, als könne ich Hilfe gebrauchen – da ich mich wohl deutlich von meinen Sitznachbarn unterschied und in seinen Augen wohl seiner Hilfe wert war. Entgegen meiner Natur verleitete seine Stimme mich dazu, diesem fremden Gentleman zu trauen, so erzählte ich ihm von den Problemen, die mich belasteten wobei ich die Streitigkeiten mit meinem Bruder stark zusammenfasste, sowie einige andere Dinge, derer ich mich schämte. Während der ganzen Zeit sagte er kein Wort, ging still neben mir her und blickte nicht vom Boden auf. Als ich meine Geschichte beendet hatte blieb er stehen, die Hände noch in den Taschen seiner dunklen Stoffhose, kickte einen Kiesel fort und lachte auf – ein helles und amüsiertes Lachen, welches in ein glucksendes Kichern überging, was ihn wiederum wie Mitte zwanzig wirken ließ.
Ich war nicht sicher, ob er mich auslachte für mein Unglück, vielleicht war er ja betrunken; ich wurde unsicher. Doch schnell zerstreute er meine Zweifel, indem er mich sanft, aber bestimmt im Rücken führte und mich zur entsprechenden Apotheke begleitete. Ich war zu überrumpelt, als dass ich etwas Bestimmtes fühlen konnte, abgesehen von dem unbestimmten Kribbeln in meinem Bauch (welches als Aufregung bezeichnet wird) geschweige denn mich dagegen wehren konnte oder wollte.
Vor dem Apothekerladen nahm er seine Hand von mir und öffnete die Türe, die mit einem Kling Kling unsere Ankunft verkündete, hielt sie galant für mich offen während ich durchging, trat dann vor mir an den Tresen. Sofort sprach er den Apotheker an und besprach mit ihm mein Problem, wobei sie über mich sprachen, als wäre ich ein kleines Kind oder nicht neben ihnen anwesend, würde dieses Gespräch nicht bewusst miterleben. Das Gespräch verlief ruhig und sachlich, nicht emotional wie es wohl bei mir wieder gelaufen wäre. Der Gentleman wurde von dem Herren hinter dem Tresen ernst genommen, es wurde auch nicht der geringste Versuch unternommen, ihn abzuwiegeln. Ich drehte mich langsam auf der Stelle und blickte mich im Verkaufsraum um. Die Fenster waren bereits herbstlich dekoriert. An den holzvertäfelten Wänden hingen Diploma und Auszeichnungen, die den Besitzer als hervorragenden Mediziner auswiesen. Gerade versuchte ich eines der gerahmten Papiere an der Wand zu meiner Rechten zu lesen, als der Apotheker ein Säckchen mit seltsam grauen Pulver und einigen festeren, aber für eine Identifizierung zu klein gehakten Zutaten auf den Tisch abstellte, was mich herum fahren ließ. Er teilte meinem Begleiter die Dosierung und Anwendung mit, obwohl sie doch mir galt.
Daraufhin legte der Gentleman ein Papier auf den Tisch – etwas, dass ich noch nie gesehen hatte (einen Geldschein). Er bekam ein paar Münzen zurück, wodurch die Zahlung beendet war, uns ein schöner Tag gewünscht wurde und schon befanden wir uns wieder in der Gasse vor dem Haus. Der Herr reichte mir Geld – das Geld, welches ich zuvor als Anzahlung geleistet hatte und sagte mir, dass ich es behalten solle, da ich es offensichtlich nötiger brauche als er, ließ sich auch durch Proteste meinerseits nicht umstimmen, sodass ich es schließlich annahm und in den Falten meines Rockes versteckte. Gleiches tat ich mit dem Pulverbeutel, um ihn vor Feuchtigkeit zu schützen, jedoch nicht ohne vorher noch einmal die Anwendung von meinem Begleiter erklärt zu bekommen und seine Worte vor ihm wiederholen zu müssen. Dann traten wir wieder aus der Gasse heraus auf den offenen Platz und hier trennten sich unsere Wege. Er bot mir zwar an, mit ihm zu fahren, da er morgen in seiner Kutsche in meine eingeschlagene Richtung aufbrechen würde, doch lehnte ich ab, da ich mir keinen zeitlichen Aufschub leisten wollte, dafür war meine Mutter zu krank und die Angst um ihre Gesundheit und ihr Leben zu groß. (Wo hätte ich auch hingehen und schlafen können?) Er verstand meine Sorge und Angst, so ließ er mich mit besten Wünschen ziehen.
Die Gebäude warfen schon lange Schatten und die Sonne schickte die letzten Strahlen des Tages aus, als ich die Stadt verließ um meinen Heimweg anzutreten. Wenn ich die Nacht durchliefe, könnte ich morgen gegen Nachmittags schon zu Hause sein, doch dazu musste ich eine eilige Geschwindigkeit anschlagen. Hierbei unterstützte mich allerdings die Kälte, die sich nun langsam herab senkte.
Im ersten Dorf schien die Ruhe der Nacht bereits komplett um sich gegriffen zu haben. Die Straßen wirkten düster und verlassen, hinter verschlossenen Läden blitzte kein Licht hervor, vernahm mich kein Stimmen. Doch herrschte hier noch eine gewisse Wärme, die von den Häusern kommen mochte, oder vom Tage geblieben war. Der Unterschied wurde mir erst klar, als ich das Dorf in Richtung meiner Heimat verließ und die Kälte der klaren Nacht durch meine Röcke und Stoffe drang. Nun bereute ich bitterlich, zuvor meine Reise nicht um ein paar Minuten verschoben zu haben, um mir etwas vom Bäcker zu kaufen. Die Müdigkeit und der Hunger steigerten die eisige Kälte verhängnisvoll.
Der Mond stieg in leuchtendem Milchweiß am Himmel empor und schenkte der Welt ein zwielichtiges, gespenstisches Aussehen. Meine Hände wirkte fahl und grünlich, ich musste in der Umgebung wie ein unwirkliches Gespenst erscheinen. Zudem haderte ich meiner geringen Voraussicht, aufgrund derer ich meine Handschuhe zu Hause gelassen hatte. Meine Hände wurden klamm und starr, meine Füße steif in der Kälte. Bald fiel ich mehr vorwärts, als dass ich ging. Hunger und Kälte setzten mir stark zu. Die Schritte fielen mir schwer, die Füße schmerzten bei jeder Berührung mit dem Boden. Doch ich hatte ein Ziel vor Augen – ein starkes Ziel: die Medizin zu
meiner armen, kranken Mutter zu bringen, damit sie bald genesen konnte. Dass es dafür schon zu spät sein konnte, lag außerhalb meines Betrachtungsfeldes und der Gedanke daran wurde rücksichtslos aus meinem Bewusstsein gedrängt. Immer wieder lauschte ich auf die Stille, die mich umgab, in der Hoffnung auf vertraute Geräusche, di einen herannahenden Karren oder eine Droschke ankündigen würden, doch die Nacht blieb stumm. (Wahrscheinlich hätte ich mich wohl auch vor lauter Angst in die nächste Böschung gestürzt, wenn ich einen Wagen näher kommen gehört hätte.) Nicht einmal Vögel waren zu hören – die meisten waren bereits fortgeflogen und die winterlichen Gäste in ihren schwarzen Reisekleidern noch nicht eingetroffen.
Viele der Tiere waren wegen des kürzlichen Kälteeinbruchs schnell in ihre Bauten geflüchtet und hielten Winterschlaf. Es schien, als wäre ich die einzig lebende Kreatur weit und breit – ein sehr entmutigender Gedanke, der meiner Motivation nicht sonderlich zuträglich war. Und ich blickte in einen sternklaren Himmel und flehte Gott um seinen Beistand.
Mir war, als liefe ich durch den Himmel selbst. Die Sterne leuchteten um mich herum und schienen mich mit ihrem Licht einzuhüllen, was ein wohliges Gefühl in mir auslöste. Ich drehte mich im Kreis, genoss den Moment und die Stimmung in mir, die meine Umwelt spiegelte, sodass ich völlig vergaß, warum ich unterwegs war, dass ich überhaupt unterwegs war. Fast war es so, als könnte ich die Blumen, bedeckt unter einer zarten Eisschicht von Reif, singen hören – doch klagten sie nicht über die Kälte, vielmehr legten sie eine fast unerhört fröhliche Melodie und Stimmung an den Tag, darin die Sterne und er Mond – ihr Hirte – fröhlich einstimmten. Wie eine starke Arznei wiegte mich diese Situation in einen entspannten und schläfrigen Glückszustand, der mich bis in die Tiefen meines Körpers erreichte und warme Schauer über meine Haut schickten. Ich spürte weder Angst, noch Schmerzen oder Kälte.
Die Rufe rissen mich förmlich aus meiner Trance. Panik schwang in der Stimme und zwei starke Hände packten mich, ich wand mich und kam doch nicht von ihnen los. Als ich in panischer Furcht die Augen aufriss hatte mich mit einem Mal die Kälte wieder. Zitternd sah ich mich um. Vor mir kniete eben jener Gentleman, der mir die Medizin gekauft hatte, dahinter eine schwarze, geschlossene Kutsche, ein Kutscher auf dem Bock, der sich nach uns umgedreht hatte und sich nun anschickte, herunter zu klettern. Die Sterne waren verschwunden, der Himmel leuchtete in Tönen aus blassem Rosa und Blau. Bei diesem Licht wirkte die Umgebung weitaus weniger bedrohlich und einnehmend, als noch in der Nacht zuvor. Ein frostiger Schimmer lag auf Allem, inklusive meiner Kleider. Schneeflocken fielen leise aus sanften Wolken, die schwer über uns hingen.
Ich selbst schien wie überzuckert mit kleinen Schneeflocken, die sich auf meinem Kleid niedergelassen hatten. Langsam kehrten meine Sinne und Gefühle in meinen Körper zurück und ich erwachte voll von Schmerzen aus meiner ersten Schreckstarre. Erst jetzt verstand ich, dass der Gentleman die ganze Zeit sprach, doch drangen seine Fragen nach meinem Befinden und den Geschehnissen, die mich hierher gebracht hatten, wie durch eine Wand an mein Ohr, ein dumpfes, fernes Rufen. Ich erwiderte nichts, sondern versuchte mich zum Stehen aufzuraffen, wozu ich die von ihm gegebene Stütze dringend benötigte. Unter seiner Führung gelangten wir zu seiner Kutsche, wo der Diener uns beiden zum Einsteigen verhalf. Das Innere des Wagens war mit Stoff und Leder ausgeschlagen und über die Bänke waren Felle gelegt, um die Reisenden vor der alles durchdringenden Kälte fern zu halten. Der Gentleman holte unter seiner Bank – er hatte höflicherweise entgegen der Fahrtrichtung Platz genommen – eine Decke hervor, weicher als jede Decke, die ich je gefühlt hatte und gab sie mir, um mich daran zu erwärmen.
Keiner von uns sagte ein Wort, als der Wagen sich wieder in Bewegung setzte und den Weg entlang holperte. Zunächst wagte ich nicht, den Blick von meinen Händen zu heben, die ich auf der Decke ineinander gelegt hatte, später fing ich an, die vorüber fliegende Natur durch das schmale Fenster zu meiner Rechten zu beobachten, was jedoch ein Schwindelgefühl in mir hoch rief. Also konzentrierte ich meinen Blick wieder auf den Innenraum, genauer auf den Rockschoß meines Gegenübers, der auf dem hellen Fell im Takt der Kabine zuckte. In der Wärme begannen meine Hände und Füße zu kribbeln. Der Gentleman legte eine Hand auf die meinen, wodurch mir das Blut so schnell in den Kopf schoss, dass meine Wangen brannten, und fragte mich, ob alles in Ordnung sei, doch ich hob nur zögernd mein pochendes Gesicht und versicherte, dass ich nur erschöpft und müde sei. Dabei traute ich mich nicht, ihm direkt in die Augen zu sehen. Die ganze Situation war seltsam und peinlich genug. Er lehnte sich wieder zurück und mein Blick wanderte wieder zu den Händen in meinem Schoß, deren Finger aneinander herumknipsten. Was für ein seltsames Bild ich für den Gentleman abgab, kann ich mir gar nicht recht ausmalen, ich entschuldigte mich jedenfalls damit, dass er wohl sonst andere Gesellschaft gewohnt sei. Doch er entgegnete, dass er meine Gesellschaft nicht negativ bewertete und etwas Ruhe sehr schätzte, also sprach ich nicht mehr und die Fahrt wurde stumm fortgesetzt.
Auch er sah jetzt aus dem Fenster, den Kopf an die Stütze gelehnt, so wie ich es aus dem Augenwinkel bemerkte. Als ich mich noch auf dem Weg in die Stadt befunden, war mir nicht aufgefallen, wie weit die Strecke tatsächlich war, doch jetzt erstaunte mich die Zeit, die selbst die Kutsche benötigte, um mein Dorf zu erreichen. Offenbar hatte ich in der vergangenen Nacht nicht sonderlich viel meines Weges geschafft.
Als wir die ersten Häuser passiert hatten und ich mich wieder auskannte, schreckte ich auf, was mein aufmerksames Gegenüber aber nicht realisieren konnte, da er eingenickt war. Meine Stimme zu erheben, oder ihn zu berührten, um ihn zu wecken, konnte ich nicht über mich bringen. Der Wagen rollte langsam durch die bevölkerte Hauptstraße, doch auch der Straßenlärm hier vermochte den Gentleman nicht zu wecken, also schien er tatsächlich eingeschlafen zu sein. In mir wuchs der Wunsch, mich einfach aus der Kutsche zu stehlen und schnellstmöglich nach Hause zu laufen.
Jedoch wollte ich nicht ohne jegliche Dankbarkeitsbezeugung davon eilen. Kurzentschlossen zog ich einen Kamm aus meinem Haar, mit dem ich es hoch gesteckt hatte, wodurch sich sämtliche Haare lösten und um meine Schultern fielen. Ich rutschte an den linken Rand und legte den Kamm dorthin zurück, wo ich zuvor gesessen hatte auf Fell und Decke, öffnete die Türe und sprang über das Trittbrett hinweg, um den Wagen nicht ins Schaukeln zu bringen auf den Boden. Dabei rutschte ich aus und knickte um, landete schließlich auf meinen Händen und Knien auf dem Boden, meine Haare zogen sich durch den Dreck. Die Türe wankte ein wenig, schloss sich aber wieder, wenn auch etwas halbherzig, als die Kutsche um die nächste Kurve bog. Die Menschen umher schienen all dem keine Beachtung zu schenken. Trotz des schmerzenden Fußes richtete ich mich auf – mein Kleid war über und über mit Schmutz befleckt und zählte einige Löcher – und schickte mich ungeschickt an, nach hause zu hinken, um endlich die Reise zu beenden und die Medizin ihrer Bestimmung zu zuführen. Nach der Kutsche blickte ich mich nicht noch einmal um.
Und irgendwo in der Ferne erwachte ein Gentleman – mein Gentleman – ohne Begleitung, jedoch voller Gedanken und Fragen und verblieb alleine mit einem Kamm in seinem Wagen auf dem Weg in Richtung Horizont...