Mitglied
- Beitritt
- 07.09.2019
- Beiträge
- 5
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Für immer
»Hallo Julian«, sage ich und spähe über seine Schulter, doch zu meiner Überraschung steht er allein vor meiner Tür. »Wo ist Elena?«
»Sie hat keine Zeit. Die neue Kollektion, du weißt schon ...« Er rollt vielsagend mit den Augen. »Lässt du mich trotzdem rein?«
»Ja, natürlich. Entschuldige.«
Im Wohnzimmer reiche ich ihm den Smoking und er geht nach nebenan ins Schlafzimmer. Alles ist wie immer - und doch ist es diesmal anders. Denn bisher war Elena bei allen Anproben dabei.
Mit weichen Knien lasse ich mich auf die Kante meines Lieblingssessels sinken. Dass ich heimlich in Julian verliebt bin und es zwischen uns beiden knistert, wann immer wir uns sehen, scheint Elena nie bemerkt zu haben, sonst wäre sie gewiss auch heute mitgekommen.
Sie vertraut uns eben.
Nein, denke ich, das ist es nicht. Sie kann sich nur nicht vorstellen, dass Julian sie betrügt - und schon gar nicht mit mir.
Mir wird warm bei dem Gedanken, dass er sich gerade in meinem Schlafzimmer auszieht. Ich muss Distanz wahren, so gut es geht. Professionell bleiben. Und unbedingt jeden Augenkontakt vermeiden.
Julian kommt zurück. »Sind die Hosenbeine nicht zu lang?«, fragt er unsicher und sieht an sich herunter.
Ich gehe in die Knie und überprüfe die Länge. »Nein. Ich meine, es ist gut so«, stammele ich. »Alles bestens.«
»Dann bin ich ja beruhigt.«
Zögernd erhebe ich mich. Seine Augen suchen meine, doch ich wende mich ab und bitte ihn, sich einmal langsam im Kreis zu drehen. Er gehorcht. Der Smoking passt perfekt, nur am Revers könnte ich noch etwas ausbessern.
Während ich es abstecke, streift Julians Atem meine Wange und sein After Shave dringt in meine Nase. Männlich. Erotisch. Hypnotisierend. Die Anspannung zwischen uns ist beinahe greifbar. Meine eiskalten Finger zittern. Ich spüre Julians Blick auf mir. Nichts ist zu hören bis auf das leise Ticken meiner antiken Wanduhr.
Dann, als ich einen Moment nicht aufpasse, geschieht das, was ich unbedingt vermeiden wollte: Unsere Augen treffen sich.
Halten sich fest. Mein Herz beginnt zu rasen. Sanft zieht Julian die Nadeln fort, die zwischen meinen Lippen stecken.
Ich muss etwas sagen, denke ich verzweifelt, als er mich in seine Arme zieht. Ihn aufhalten. Vernünftig bleiben.
Doch es gelingt mir nicht. Die Worte bleiben einfach in meiner Kehle stecken, zu lange habe ich von diesem Moment geträumt.
Sein Kuss ist erst sanft, dann voller Leidenschaft, und ich bin sonnenwarmes Wachs in seinen Armen.
Bald darauf pflastert unsere Kleidung den Weg ins Schlafzimmer und wir fallen schwer atmend auf mein Bett. Gierig fahren seine Hände über meinen nackten Körper, setzen ihn in Flammen. In seinen Augen funkelt es vor Verlangen.
Ob er Elena auch so ansieht, wenn er mit ihr ...?
Nein, ich will nicht an sie denken. Nicht jetzt, wo ich endlich Julians Haut auf meiner spüre und von einer Woge der Lust davon gespült werde.
Verschwitzt und leise keuchend liegen wir etwas später nebeneinander. Julian räuspert sich und sieht mich eindringlich an.
»Du darfst niemanden von uns erzählen, Celine, versprich es mir. Wenn Elena davon erfährt ...« Er bricht ab.
Ich weiß, was er meint. Elena ist temperamentvoll und impulsiv. Sie wird kaum milde lächelnd darüber hinwegsehen, dass ihr Verlobter eine Woche vor der Hochzeit im Bett ihrer eigenen Schwester gelandet ist.
Ich schmiege mich an seine breite Brust. »Keine Angst, von mir erfährt keiner was. Und Elena schon gar nicht.«
Er küsst erleichtert mein Haar und drückt mich an sich.
Eine halbe Stunde später ist er fort. Zurück zu Elena, damit sie keinen Verdacht schöpft.
Mir bleiben nur sein Duft, den meine Bettwäsche ausatmet, und die Erinnerung an den aufregendsten Sex meines Lebens.
Ich verschränke die Arme im Nacken. Elena kann sich glücklich schätzen. Sie hat einfach alles: Einen Verlobten, der sie in jeder Hinsicht glücklich macht, und einen tollen Job, der sie ausfüllt. Sie ist Modedesignerin und seit kurzem zeigt ein namhafter Designer Interesse an ihren Entwürfen. Wenn die Verbindung zustande kommt, hat sie ausgesorgt.
Ich dagegen bin nur die Schneiderin, die ihre Ideen umsetzt. Ein kleines Licht. Heimlich designe ich auch, doch bisher habe ich nicht gewagt, Elena meine Entwürfe zu zeigen. Sie hat so ein gewisses herablassendes Lächeln, das sie besonders häufig mir schenkt, ihrer minderbegabten Schwester. Es würde sie glatt umbringen, wenn sie wüsste, dass Julian sie ausgerechnet mit mir betrogen hat.
Schon die Vorstellung entschädigt mich ein wenig für all die Situationen, in denen meine Schwester mir mit Blicken, Gesten oder Worten vermittelt hat, ich sei nichts wert.
Julian sieht das offenbar ganz anders. Mit einem zufriedenen Lächeln kuschele ich mich tiefer in mein Kissen und stelle mir vor, dass Julian nicht Elena heiratet, sondern mich.
Mitten in der Nacht klingelt mein Telefon. Ich schrecke hoch und taste fahrig nach dem Apparat. Melde mich mit vom Schlaf rauer Stimme.
»Ich bin’s«, wispert Julian am anderen Ende. »Celine, es ist etwas Schreckliches passiert!«
Sofort bin ich hellwach und taste nach der Nachttischlampe. Die plötzliche Helligkeit lässt mich blinzeln. Ein Blick zur Uhr zeigt mir, dass es kurz nach Mitternacht ist. Ich setze mich auf. »Was ist los?«
»Elena. Sie ist ... tot.«
Obwohl ich instinktiv spüre, dass er die Wahrheit sagt, lache ich ungläubig auf. »Unsinn, du irrst dich sicher! Warum sollte Elena ...«
»Sie ist die Treppe hinuntergestürzt. Wir haben uns gestritten, ich habe die Kontrolle verloren und - Celine, bitte komm schnell her. Ich weiß nicht, was ich machen soll!«
Eine Viertelstunde später öffnet er mir die Tür und ich schlüpfe in das schwach beleuchtete Haus. Am Fuße der Treppe liegt Elena, die Gliedmaßen merkwürdig verdreht. Mit einem erstickten Schrei stürze ich auf sie zu und falle neben ihr auf die Knie. Streichle ihre Wange, während mir Tränen die Sicht verschleiern.
Fühle ihren Puls.
Nichts. Elena ist tatsächlich tot, ich kann es nicht fassen.
Obwohl wir sehr verschieden waren und oft gestritten haben, ist sie doch meine Schwester. Sie war so kurz davor, sich all ihre Träume zu erfüllen. Nun liegt sie leblos vor mir auf dem Boden.
Wie unbarmherzig das Schicksal zuschlagen kann.
Das Schicksal?
In meinem Kopf höre ich Julians Stimme: »Ich habe die Kontrolle verloren.«
Mir wird speiübel.
Er räuspert sich neben mir. »Ich nehme an, sie hat sich das Genick gebrochen.«
»Wir ... wir sollten wohl besser die Polizei rufen«, sage ich unsicher.
»Bist du verrückt?«, zischt er. »Dann lande ich im Gefängnis.«
»Das glaube ich nicht. Es war doch ein Unfall, keine Absicht.«
»Es wäre vermutlich Totschlag. Oder Körperverletzung mit Todesfolge, ich kenne mich da nicht aus. Wie auch immer, ungeschoren komme ich sicher nicht davon.«
Julian geht in die Knie, nimmt meine Hände in seine und sieht mich flehend an. »Celine, ich wollte das nicht. Bitte, du musst mir helfen.«
Im Wohnzimmer sinke ich erschöpft aufs Sofa. Julian macht sich an der Bar zu schaffen, dann kommt er mit zwei Cognacs zurück und setzt sich zu mir. Reicht mir ein Glas. Schweigend starren wir vor uns hin.
»Ich weiß, was wir tun«, sagt er plötzlich, und sein Gesicht hellt sich auf. »Ihr seid Zwillinge, gleicht euch aufs Haar. Du schlüpfst einfach in ihre Haut! Heiratest mich in ihrem Namen und machst den Vertrag mit dem Designer. Wenn alles vorbei ist, fangen wir irgendwo ein neues Leben an. Nur du und ich. Für immer.« Er nimmt meine Hand. Lächelt zaghaft. »Was sagst du dazu?«
Ich schüttle fassungslos den Kopf. Was er da vorschlägt, ist völlig undenkbar. »Julian, das kann nicht dein Ernst sein! Ich könnte niemals -«
»Es ist der einzige Ausweg, glaub mir. Wir lieben uns, nicht wahr? Dann müssen wir auch zusammenhalten.« Wie die Tropfen eines tödlichen Tranks träufelt er Worte in mein Ohr und küsst meine Zweifel weg. »Tu es für uns, Celine. Für unsere Zukunft.«
Wir beerdigen Elena in einem Wald, mitten im Gehölz. Mit ihr vergraben wir meine Handtasche samt all meinen Papieren. Ich komme mir vor wie bei meiner eigenen Beisetzung. Fühle nichts. Es ist, als wäre ich in Watte gehüllt.
Der neue Tag dämmert bereits herauf, als wir endlich zurück sind. In ihrem Haus, in ihrem Bett. Während wir miteinander schlafen sitzt Elena auf der Bettkante und beobachtet uns. Ihre Miene zeigt unverhohlene Verachtung.
Ich kneife die Augen zusammen, aber meine tote Schwester lässt sich nicht verscheuchen.
Als ich endlich einschlafe, träume ich, dass ich lebendig begraben bin. Um mich herum sind nur dunkle Erde, faulige Blätter und Baumwurzeln. Ich will schreien, doch sobald ich meinen Mund öffne, ist er voller Erde und kein Ton kommt heraus. Ich gerate in Panik. Es ist so eng, ich kann mich nicht rühren. Mein Herz rast in Todesangst.
Ich schrecke hoch, keuchend und schweißgebadet. Schaue neben mich. Julian hat nichts gemerkt, er schläft friedlich.
Während ich ihn betrachte, sein wirr in die Stirn fallendes Haar, die langen Wimpern, das geliebte Gesicht, beruhige ich mich langsam. Die eben noch ausgestandene Angst weicht einem leisen Glücksgefühl. Jetzt gehört er mir allein.
Ich lege mich dicht neben ihn, schlinge einen Arm um ihn und lausche seinem gleichmäßigen Atem.
»... und willst du, Elena Körner, diesen Mann lieben, ihn ehren, ihm beistehen in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet, dann antworte mit: Ja, ich will.«
Der Standesbeamte nickt mir auffordernd zu. Julian hält meine Hände, versucht zu lächeln und sieht mich dabei beschwörend an. Ich kann seine Gedanken lesen. Sag es, Celine. Tu es, bevor jemand misstrauisch wird.
Die Situation ist bizarr. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Was richtig ist.
Julians Hände drücken meine, seine Augen sind fest auf mich gerichtet und leicht geweitet. Tu es!
Ich räuspere mich. »Ja, ich will.«
Vermutlich merke nur ich, dass seine Schultern vor Erleichterung herabsinken.
»Dann erkläre ich euch kraft meines Amtes für Mann und Frau. Sie dürfen die Braut küssen.«
Julian zieht mich an sich und schenkt mir ein verliebtes Lächeln, ehe er mich küsst.
Nach der Trauung bitten wir unsere Gäste in ein nahegelegenes Restaurant.
»Wo ist eigentlich Celine?«, fragt mich Elenas Assistentin und Trauzeugin.
Brav sage ich mein eingeübtes Sprüchlein auf. »Ich weiß es nicht, etwas muss sie aufgehalten haben. Bestimmt kommt sie gleich.«
Natürlich erscheint sie nicht, doch bald fragt niemand mehr. Alle wissen, dass wir nicht so eng miteinander sind, wie es zwischen Zwillingen angeblich typisch ist. Niemand hier ahnt die skurrile Wahrheit.
Während unserer Hochzeitsnacht ist Julian sanft und einfühlsam, dennoch kann ich mich nicht richtig entspannen.
»Es ist überstanden, Spätzchen«, sagt er und drückt mich fest an sich. »Keiner hat etwas gemerkt. Nur noch ein paar Tage, dann fängt für uns ein neues Leben an.«
»Ich habe Angst, Julian. Was ist, wenn der Designer merkt, dass ich nicht Elena bin? Ich habe keine Ahnung, was die zwei besprochen haben.«
»Er wird nichts merken. Sag, dass du in Eile bist, schau ab und zu auf die Uhr und unterschreib den Vertrag. Es gibt keinen Grund, um sich Sorgen zu machen.«
Als ich noch etwas einwenden will, küsst er mich. »Kein Wort mehr, Spätzchen. Du schaffst das. Und sobald der Typ das Geld überwiesen hat, düsen wir ab nach Südspanien.«
Ich liebe seinen Optimismus. Es klingt alles so einfach, wenn er es sagt. Und auf Spanien freue ich mich ehrlich. In Andalusien, an der Costa de la Luz, haben wir eine kleine Finca reserviert. Doch erst, wenn wir dort ankommen, werde ich wieder entspannt durchatmen können, das weiß ich genau.
Meine Beine zittern, als ich - in einem selbst entworfenen Hosenanzug - den Designer und seinen Anwalt in Elenas Atelier empfange.
»Was für ein elegantes Modell«, lobt der Designer und mustert mich und meinen Anzug wohlwollend von oben bis unten. »Sehr stilvoll, gefällt mir. Das wäre etwas für unsere nächste Herbstkollektion.«
»Ich habe noch mehr Entwürfe«, sage ich und reiche ihm herzklopfend die mitgebrachte Mappe mit meinen Zeichnungen. Während er durch die Unterlagen blättert und immer wieder zustimmend nickt, wünschte ich, Elena könnte diesen Moment miterleben. Ich bin richtig stolz auf mich.
»Ein ganz anderer Stil, als ich es von Ihnen gewohnt bin«, sagt er plötzlich und ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Was soll ich dazu sagen? Verzweifelt suche ich nach Worten.
»Können wir?«, fragt der Anwalt, sieht auf seine Uhr und wedelt mit dem Vertrag.
Der Designer nickt. Ich atme auf, lausche mit einem halben Ohr den Ausführungen des Anwalts und nehme schließlich den Stift entgegen, den er mir reicht. Zitternd beginne ich zu schreiben. Ich habe das C für Celine fast beendet, als mir siedend heiß einfällt, dass ich nicht mehr ich bin. Rasch mache ich ein halbrundes E daraus.
Niemandem fällt etwas auf, aber mir steht der Schweiß auf der Stirn und meine Achseln fühlen sich ekelhaft feucht an.
Es ist geschafft! Wir reichen uns die Hände und vereinbaren mündlich eine Option auf die Übernahme meiner nächsten Entwürfe.
Wenig später mache ich mich auf den Heimweg. Ich bin viel zu aufgewühlt, um noch länger im Atelier zu bleiben und den Leuten dort vorzuspielen, ich wäre meine Schwester. In diesem besonderen Moment möchte ich wieder Celine sein.
Außerdem will ich zu Julian.
Als ich die Haustür aufschließe, vernehme ich seine Stimme. Er ist offenbar im Arbeitszimmer und telefoniert.
Ich will gerade nach ihm rufen, da höre ich ihn lachen. Es ist kein amüsiertes Lachen, sondern eines voller Zärtlichkeit. Und die Worte, die wie kleine spitze Pfeile mein Herz treffen, klingen so liebevoll, dass ich das Gefühl habe, mir gefriert das Blut in den Adern.
»Ich vermisse dich auch, Spätzchen. Nein, nun dauert es nicht mehr lange. Schon morgen fliegen Elena und ich nach Spanien, wo sie wie versprochen einen kleinen Unfall haben wird.«
Ich stehe da wie erstarrt. Hat er das wirklich gesagt?
»Nein, keine Angst. Die Finca liegt an einer Steilküste, da kann man leicht das Gleichgewicht verlieren, wenn man nicht aufpasst. Glaub mir, niemand wird Verdacht schöpfen. Schließlich sind wir ein glückliches Paar in den Flitterwochen.« Er lacht leise. »Du sagst es. Und sobald das Erbe geregelt ist, kommst du nach und wir fangen neu an. Nur du und ich. Für immer.«
Mir wird schwindelig. Erstaunlicherweise interessiert mich nicht, mit wem er spricht. Mich macht nur dieser unsagbare Verrat fassungslos. Ich habe für diesen Mann alles getan. Sogar mich selbst zu Grabe getragen.
Abgrundtiefer Hass beginnt in mir zu lodern.
Vorsichtig luge ich durch den Türspalt. Julian sitzt am Schreibtisch, mit dem Rücken zu mir, und sieht aus dem Fenster. Seine Finger spielen mit dem Telefonkabel. Lautlos schlüpfe ich aus meinen Pumps und gleite durch den Türspalt ins Zimmer.
Als er sich mit sanfter Stimme verabschiedet, greift meine Hand wie von selbst nach dem antiken Bügeleisen auf der Anrichte neben der Tür. Es ist schwer. So schwer, dass keine Schädeldecke ihm etwas entgegenzusetzen vermag.
Spanien ist herrlich! Die Finca ist wunderhübsch und groß genug für eine Familie. Wer weiß, vielleicht habe ich die irgendwann.
Die Spanier, die ich bisher kennengelernt habe, sind reizend. Besonders Juan, der attraktive Makler, hat es mir angetan. Er erinnert mich ein bisschen an Julian, er ist ebenso leidenschaftlich und wild wie er.
Ach ja, Julian. Er ist jetzt wieder bei Elena. Die zwei liegen nebeneinander in ihrem Waldgrab.
Vereint.
Für immer.