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Für immer
„May?“ Vorsichtig berührt jemand meine Schulter. Ich drehe mich nicht um, warum auch? Wozu? Ich starre einfach weiter aus dem Fenster.
„May, kannst du mir bitte kurz zuhören? Ich kann mir nicht vorstellen wie es dir im Moment geht, aber John wollte das ich dir das hier gebe.“ Ein großer weißer Briefumschlag taucht in meinem Augenwinkel auf. Was soll das, denke ich. Wie soll mir das helfen?
„Ist mir egal. Geh einfach weg Dottie. Lass mich in Ruhe, okay? Alle sagen mir seit drei Tagen was ich tun soll und was nicht. Dabei will ich doch einfach nur meine Ruhe haben. Ich will, dass es nicht mehr so weh tut. Ich will, dass er wieder kommt. Aber das tut er nicht, nie wieder. Er ist weg, für immer. Er kommt nicht wieder Dottie. Er hat mich allein gelassen, dabei hat er es mir doch versprochen, da wir für immer zusammen gehören.“ Ich merke wie meine Stimme bricht und die letzten Worte eher einem Schluchzen gleichen. Dottie schlingt von hinten ihre Arme um mich und weint mit mir zusammen. Nicht das erste Mal in den letzten Tagen und garantiert auch nicht das letzte Mal. Ich kann es immer noch nicht glauben das er nicht mehr da ist. John lebt seit drei Tagen nicht mehr und es sind die schlimmsten Tage meines Lebens. Es fühlt sich an, als würde ich in jeder Minute ohne ihn ein kleines Bisschen mehr auseinanderbrechen.
Es tut so weh, dass ich es nicht in Worte fassen kann. Ich wusste, dass er sterben wird und trotzdem tut es so wahnsinnig weh. Es war einfach zu früh.
Krebs ist ein riesen großes Arschloch, der einem alles nehmen kann was man liebt. Manchmal hat man einfach keine Chance den Kampf zu gewinnen. Egal wie sehr man sich anstrengt, egal was man tut, egal wie sehr man kämpft, bittet und betet, er nimmt einem was man liebt.
Und jetzt hat er sich meinen John geholt, meine große Liebe, meinen Mann.
Und dafür hasse ich ihn so sehr.
„May, nimm den Brief und lies ihn. John hat ihn mir vor ein paar Wochen gegeben und ich sollte ihn dir geben wenn es so weit ist.“
Dottie war ein liebenswerter und lebensfroher Mensch. Sie war Johns Krankenschwester und hat ihn die letzten paar Wochen bei uns Zuhause mit mir zusammen gepflegt. Man konnte ihm nicht mehr helfen, darum hat man ihn nach Hause geschickt, so dass er seine letzten verbleibenden Wochen bei mir war. Ich war rund um die Uhr da, ich wollte nicht eine Minute mit ihm verpassen, und doch war es bei weitem nicht genug Zeit.
Dottie legt mir den Umschlag auf den Schoß und geht.
Ich dachte an die letzten Minuten mit John. Seine letzten Atemzüge und seine letzten Worte.
„Es tut mir so Leid May-Maus. Ich liebe dich und ich werde dich beschützen, für immer.“
Danach ist er einfach gegangen. Er hat mich für immer verlassen.
Jetzt sitze ich hier mit einem Brief von ihm und ich traue mich nicht ihn zu lesen. Ich habe Angst, dass ich dann ganz zerbreche. Und doch sehne ich mich nach seinen Worten. Langsam öffne ich den Umschlag und ziehe den Brief heraus.
May-Maus, meine große und einzige Liebe,es tut mir leid. Wenn du diesen Brief bekommst bin ich schon Tod. Ich habe Dottie gebeten ihn dir erst nach meinem Tod zu geben, denn ich hoffe, dass er dir etwas hilft. Ich liege hier im Bett und denke an unsere Kindertage. Wie ich dich in der Grundschule gepiesackt habe, weil es ja uncool war mit Mädchen befreundet zu sein. Ich denke gerne an den Tag als dir der Kragen geplatzt ist und du mir den Arm auf den Rücken gedreht hast und solange fest gehalten hast, bis ich mich entschuldigt habe. Mein Gott, das ist mir immer noch peinlich. Und meine Freunde hatten danach so eine Angst vor dir. Immer wenn du sie böse angesehen hast, haben sie sich fast in die Hosen gemacht. Es war aber auch das Beste was mir passieren konnte. Denn dadurch wurden wir Freunde. Mir hat es das Herz gebrochen als wir dann weg gezogen sind. Ich habe so viel Mist in Chicago gebaut und ich bereue so verdammt viel. Aber ich bin so froh, dass meine Eltern mich damals zu meinen Großeltern geschickt haben. Denn dadurch war ich wieder bei dir. Das wusste ich damals natürlich noch nicht. Aber als ich dich am Strand wiedergesehen habe, so wunderschön und perfekt, da wusste ich, dass ich dich haben musste. Das du mir gehörst. Ich war gerade mal 16 und war mir zu dem Zeitpunkt schon absolut sicher.
Du warst so starrköpfig und hast es mir echt nicht leicht gemacht. Ich denke, das hat dazu geführt, dass ich dich noch viel mehr liebe.
Mit jedem Jahr, indem wir zusammen waren, habe ich dich mehr geliebt. Jeden Streit den wir hatten, jede Meinungsverschiedenheit, jede Versöhnung, ich will nicht eine Sekunde ungeschehen machen.
Ich liebe dich, für immer. Egal wo ich jetzt bin oder wo ich hin gehen werde.
Ich werde für dich da sein, vielleicht nicht körperlich, aber ich werde dich nie verlassen. Wir werden uns wieder sehen, da bin ich mir ganz sicher. Ich werde dich immer wieder finden, bis in alle Ewigkeit.
Aber ich möchte auch, dass du weißt, dass ich dich glücklich sehen möchte. Du bist noch so jung und so schön. Du bist eine wundervolle Frau und hast es nicht verdient bis in alle Ewigkeit traurig zu sein. Ich will, dass du nicht aufhörst zu leben, nur weil ich nicht mehr da bin. Bitte versprich mir, dass du versuchst glücklich zu werden.
Ich könnte es nicht ertragen wenn du dich zurückziehen und aufhören zu leben würdest
Ich bitte dich für mich zu leben und glücklich zu werden.
Es fällt mir verdammt schwer meine Gefühle in Worte zu fassen. Sie beschreiben vielleicht zehn Prozent von dem was ich wirklich für dich empfinde wie sehr ich dich liebe und wie leid es mir tut, das ich gehen muss.Ich würde alles dafür geben mehr Zeit mit dir zu haben, aber leider geht das nicht.
Bitte gib nicht auf.Tu es mir zu liebe, das ist das Einzige worum ich dich bitte.
Hör nicht auf zu leben und gib nicht auf.
Sei glücklich und vergiss mich nicht.Ich liebe dich und werde es immer tun, IMMER
Dein dich liebender Ehemann
John
P.S.
Ich habe noch ein Geschenk für dich. Dottie wird sich darum kümmern.
Ich wusste gar nicht, dass ein Mensch so viel weinen kann. Ich lese den Brief wieder und wieder und jedes Mal weine ich.
Seit Stunden sitze ich hier und weine. Ich bin müde, aber immer wenn ich die Augen schließe, sehe ich John wie er mich anlächelt oder irgendwelche Grimassen macht. Das hat er immer getan wenn ich gerade sauer auf etwas war. Und jedes Mal, egal wie sehr ich dagegen angekämpft habe, hat er mich zum Lachen gebracht. Selbst jetzt muss ich lächeln.
Tag 5 ohne John. Ich habe die Beerdigung überstanden. Mehr oder weniger. Jetzt bin ich einfach froh erstmal alleine zu sein. Diese ganzen Menschen und jeder schaut mich so an. Jeder will mich trösten oder aufmuntern, ich konnte es nicht mehr ertragen, also habe ich mich zurückgezogen bis alle weg waren. Nur noch Dottie war da. Sie war mir eine große Stütze in den letzten Tagen, obwohl ich sie auch einige Male angemault habe.
„Dottie, es tut mir leid das ich dich unten alleine gelassen habe.“
„Ist schon gut, meine Kleine. Ich kann es ja verstehen. Es war einfach zu viel. Zu viel Mitleid, zu viele Menschen, zu viel Leben, einfach von allem zu viel. Jetzt ruhe dich erstmal aus und morgen habe ich dann noch was für dich.“ Sie ging.
Ich konnte in dieser Nacht kaum schlafen. Ich las immer wieder Johns Brief und komischer Weise munterte er mich wirklich auf. Es tat gut über die Zeit mit ihm nach zu denken. Er hat mich als Kind so oft geärgert, ich hätte ihn am liebsten verprügelt Aber Dad meinte, das es mit dem Arm auf den Rücken drehen und der lauten Entschuldigung wirksamer wäre und er hatte ja recht. Dann sein Umzug.
Er war so anders als er wieder da war, so sauer und wütend. Gott sei Dank hatte sich das wieder gelegt und er hatte die Kurve bekommen.
Ich drehe meinen Ehering und denke an unseren Hochzeitstag. Es war meine persönliche Traumhochzeit. Ich bekam alles was ich wollte. Meine Rosen und Hortensien, meine Kirche und mein Traumkleid mit Schleppe. Aber das Beste war das Auto.
Wir fuhren mit einem 64´Ford Mustang Cabrio in schwarz zur Kirche. Mein Traumauto, leider war es nur geliehen und wir mussten es nach einer Woche zurückgeben. Aber vorher haben wir damit noch einen kurzen Roadtrip gemacht. Es waren traumhafte Tage.
„May, aufwachen. Es wird Zeit.“ Dottie stand neben meinem Bett und streichelte mir über die Schulter.
„Was ist denn?“
„Komm einfach runter in den Hof.“
Ich hatte eigentlich keine Lust aufzustehen, warum auch? Aber ich tat es Dottie zu liebe.
Draußen stand das Auto von unserem Hochzeitstag, mit einer großen Schleife dran.
Auf dem Fahrersitz lag ein Zettel. Ich nahm ihn und las.
Also tat ich was er wollte.Liebste May,ich hoffe du magst ihn. Sei glücklich für mich.
Setz dich rein und fahr los. Ich bin glücklich wenn du es bist und ich leide wenn du leidest, also sei glücklich.
Ich liebe dich
John
Ich fuhr einfach los.